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- 19.05.2015
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Ich bin's, der Luis
„Genug für heute.“
Luis Sattler packte den Fisch, zog den Haken aus dem Maul, tötete ihn mit einem Schlag gegen die Reling und warf ihn zu den anderen in den Eimer.
„Was sind das für Fische?“, fragte Pia.
„Seeforellen größtenteils. Schmecken saftig.“
Er betrachtete seine Geliebte mit leuchtenden Augen.
„Papa, fahren wir morgen nach Salzburg?“, schallte es ihm entgegen. Luis warf einen kurzen Blick auf seine Töchter Valerie und Isabelle, die sich im Heck sonnten.
„Da gibt es coole Läden.“
„Morgen ist Freitag. Da ist viel Verkehr“, brummte Luis.
„Komm schon, Papa.“
„Ich habe das Mozarthaus noch nicht gesehen“, sagte Pia.
„Okay, okay, einverstanden, wenn alle in die Stadt wollen - warum nicht.“
Die Mädchen klatschten sich ab und wandten sich wieder schläfrig der Sonne entgegen, während Pia leise mit Luis flüsterte und ihre Hände die Haare seiner Oberschenkel streichelten. Die Hitze lastete wie eine Glocke über dem See und verstärkte den modrigen Geruch des Wassers, dessen Oberfläche in einem Nebel aus silbrigem Licht glänzte. Manchmal katapultierte sich ein Fisch im Bogen heraus und fiel zurück in seine Welt. Die Yacht war nie über den See hinaus gekommen und zierte den größten Teil des Jahres die Anlegestelle, obwohl sie für Reisen über das Meer tauglich war. Er liebte solche Tage. Die Wellen plätscherten, die Angelschnur spannte sich, sobald ein Fisch anbiss. Pia lächelte zum Himmel. Viele Edelsteine hatte er gesehen, unter der Lupe analysiert, gewartet, bis das Licht auf sie prallte und ihre Schönheit offenbarte. Deshalb hatte er Pia sofort bemerkt, als sie an einem verregneten Apriltag den Laden in der Königstraße betreten hatte.
Pia wandte ihre Augen vom Horizont ab und richtete sie auf ihn, auf die Haare, die er nach hinten getürmt wie eine Perücke trug, und den weißen Bart, der an ihm herabhing. Nur flüchtig huschte ihr Blick über die Flecken auf seiner Haut und das erlöschende Feuer der Augen. Nachdem er die Angelsachen weggeräumt hatte, streifte er sich das T-Shirt über den Kopf. Er war auch auf Brust, Bauch und Rücken behaart. Breite Schultern und trainierte Muskeln kamen zum Vorschein, ledrige Haut, beinahe als wäre er ein Mann, der im Freien arbeitete.
Luis schnaufte tief durch und nahm den Geruch des gemähten Heus der Felder am Ufer wahr. Er legte sich neben Pia, nahm ihre Hand, schloss die Augen und glitt in einen traumlosen Schlaf, aus dem er durch einen Kuss auf die Stirn erwachte.
„Wir müssen langsam zum Haus zurück.“
„Wie spät ist es?“
„18 Uhr.“
Gerade jetzt wünschte sie sich, dass er sie umhüllte und sie nähme. Luis begab sich ins Heck, wo seine Töchter auf Sonnenliegen ausgestreckt mit nackten Brüsten und Stöpseln im Ohr lagen. Sie bemerkten ihn nicht und sahen glücklich aus. Wie sehr er sie liebte. Ein Knopfdruck. Surrend bewegte sich die Ankerkette. Der Motor heulte ächzend auf. Vom Lärm wachten die Mädchen auf und streckten sich. Langsam nahm das Boot Fahrt auf.
„Wir fahren zum Haus. Tolles Wetter heute.“
„Ja, super. Hör mal, das ist der neue Song von Justin Timberlake.“ Isabelle hielt ihrem Vater das Smartphone hin.
„Gefällt’s dir?“
„Ja, geht.“
„Ich mag Beyoncé“, meinte Pia, die den Mädchen die Kühlbox mit den Getränken hinhielt.
„Echt?“
Isabelle tippte ein paar Sekunden auf ihrem Smartphone, bis ‚Flawless‘ erklang.
„Hat ne Soul-Stimme, ne Negerin, oder?“, tönte es von Luis.
„Hip-Hop. Ja.“
Das zweistöckige, langgestreckte Anwesen kam in Sicht. Luis verringerte das Tempo, steuerte auf die Anlegestelle zu, ließ das Schiff an die Kaimauer treiben und vertäute es am Poller .
Erinnerungen streiften ihn. Die laut lärmenden Kinder, die durch das Haus gejagt waren, Katharina, seine Frau, hell und blond, die mit den Kindern getobt hatte. Er vermisste sie. In diesem Haus hatten sie ihre glücklichen Stunden verbracht. Eines Tages endete das Glück. Sie fuhren ohne die Kinder auf der Landstraße. Ein Wagen raste sie auf sie zu, schlug wie ein Geschoss ein. Ein Aufprall, ein Schrei, ein entsetzter Blick. Nichts hatte Luis vergessen.
Seine Augen richteten sich auf Pia und er war froh, dass sie ihr nicht glich. Eine großgewachsene, elfenhafte Frau. Er nahm den Eimer mit den Fischen und folgte den anderen.
„Kümmert ihr euch um die Glut“, sagte er zu seinen Töchtern und stapfte ins Haus.
„Ich helfe dir mit den Fischen“, sagte Pia.
Luis zog zwei Messer aus dem Holzblock, ein etwas längeres, spitzes, und ein kleineres, das an der Schneide glänzte. Er hielt die Messer Pia hin, eins in jeder Hand. Die Spitzen zeigten auf ihre Brust.
„Du brauchst zwei Messer. Eins fürs Entschuppen und ein zweites, mit dem du den Schnitt setzt.“
Pias Augen waren weit geöffnet. Mit welcher Sorgfalt er ihr zeigte, wie man etwas zerschnitt, das vor kurzem lebendig war. Das Abschaben der Schuppen nahm sie mit Gelassenheit hin, eine Rasur gegen den Strich. Was folgte, erinnerte sie an eine Operation. Mit dem spitzen Messer machte er einen geraden Schnitt, öffnete die Bauchhöhle des Fisches und setzte das Messer sorgfältig an, um die Innereien zu entfernen. Flüssigkeit floss aus der Bauchhöhle, Blut und etwas Gelbliches, das sie nicht kannte. Das schlimmste war der Gestank. Dieser widerliche Geruch haftete unweigerlich an ihm. Sie fragte sich, ob sie ihn heute küssen wollte, ob in seinen Haaren, dem wildwuchernden Bewuchs im Gesicht, auf dem Kopf, auf dem Körper, Reste der Fische hängen blieben.
Seine imposante Erscheinung hatte sie angezogen, ihre Sehnsucht nach Sicherheit gestillt. Die Eleganz der Bewegungen, trotz mächtiger, massiger Gestalt und klobiger Hände. Seine außergewöhnliche Zugewandtheit. Er konzentrierte sich ganz auf denjenigen, mit dem er sich gerade beschäftigte, da gab es keine Nachlässigkeit. Er schaute den Kunden, die den Laden auf der Kö in Düsseldorf betraten, mitten in die Augen, als könne und wolle er in ihre Herzen schauen. Anfangs verwirrte sie das und sie fragte sich, ob sie es sei, die gemeint war, oder irgendjemand. Er verstand es, sich anzuschleichen, er wollte in ihr hausen, sie durchdringen, vielleicht weil sie so viel jünger war. Dreißig Jahre Unterschied war eine Menge. Er war lebensklüger, er war charismatischer als die Männer in ihrem eigenen Alter. Er wollte sie nicht zur Puppe für die eigenen Begierden machen oder zur Gebärmaschine. Und er schlug sie nicht, er erniedrigte sie nicht, wie es Max gemacht hatte, den sie geheiratet hatte, obwohl sie wusste, wie er war. Aus Liebe würde sie nie mehr handeln. Sie brauchte lange, bis sie erkannte, was bei Luis fehlte. Er kroch in andere, aber verbarg sich selbst. Er wollte alles wissen und nichts von sich preisgeben. Natürlich, er erzählte eine ganze Menge aus seinem Leben, aber es waren Geschichten, Anekdoten, Erlebnisse. Von den Rändern, den Ängsten, all dem, sprach er nicht. Und was er erzählte, war Vergangenheit. Die Wahrheit über ihn zeigte sich in den Gesten. Deshalb beobachtete sie genau, wie er den Fisch ausnahm. Sie würde ihn verlassen, über kurz oder lang.
„Du musst es ihm sagen!“, sagte Isabelle.
„Ja, ich weiß. Kann sein. Aber nicht heute Abend. Vielleicht morgen, wenn er angelt“, antwortete Valerie.
„Wann kommen sie?“
„Keine Ahnung. In den nächsten Tagen.“
„Ruf halt an oder schreib ihnen!“
„Hab ich, die sind nicht online.“
„Auch noch Marokkaner. Du weißt doch wie er mit Ausländern ist. Hat Papa sie schon mal gesehen?“
„Ja, kann sein. Sie waren ein paar Mal bei mir. Sind Freunde, ganz normale Freunde.“
„Na ja. Wie heißen sie?“
„Ali und Halil.“
„Moslems?“
„Ja, klar. Aber nicht mit Ramadan und so.“
„Wie sind die so?“
„Lustig. Cool.“
Die Kohlenstücke zuckten auf, wenn der Windstoß des Blasebalgs sie traf, begannen rötlichgelb zu glühen und strahlten nach kurzer Zeit eine enorme Hitze ab.
Ein einziger lichter Raum mit freigelegten Holzbalken befand sich im Erdgeschoss. Luis Sattler nahm den Platz an der Stirnseite eines antiken Holztisches ein, der ein Überbleibsel des Gerümpels war, das er im Haus und den Anbauten vorfand. Er hatte das Anwesen einem alten Mann abgekauft, dem einzigen, der übrig war von der Familie, die dreihundert Jahre dort gewohnt hatte. Nach und nach ließ er alles renovieren; Wände herausreißen, Fenster, Heizungen. Leitungen ersetzen. Ein Refugium für Luis. Als der Vorbesitzer im Pflegeheim gestorben war, erfüllte er seinen letzten Willen und verstreute dessen Asche auf dem Rasen hinter dem Haus, als bliebe dadurch ein Teil der Seele, der Gedanken und Hoffnungen in den Ritzen, Fugen und der Erde.
Der Rosé leuchtete pfirsichfarben in den Gläsern, das Essen stand bereit. Rechts von Luis saßen seine beiden Töchter und links Pia. Er verteilte das Essen.
„Ich mach das. Ordnung muss sein“, sagte Luis und legte sich die erste Forelle auf den Teller.
„Welchen möchtest du“, fragte er erst Valerie, dann Isabelle. Die Schüsseln mit Kartoffeln und Salat wanderten reihum und der Hausherr schenkte den Rosé in die Gläser. Stoffservietten lagen auf den nackten Oberschenkeln. Eine friedliche, fröhliche Stimmung verbreitete sich. Sie prosteten sich zu und lachten..
„Erinnert Ihr euch an den riesigen Hecht? War ein Kampf, den rauszuziehen. Zwanzig Kilo und mehr als ein Meter lang.“
„Echt?“, fragte Pia.
„Du warst komplett nervig. Bist aufgeregt rumgerannt und hast ihn tausendmal fotografiert. Außerdem hat er furchtbar geschmeckt, zäh und nicht richtig durch. Die Mama wollte nichts von essen.“
„Ging ja auch nicht ums Essen. Einen größeren hab ich nie gefangen.“
Die Geschwister lachten, während Luis weiter Anekdoten erzählte. Einmal küsste er mit ausholender Geste die schmalen Hände seiner Geliebten. Pia spürte den feuchten Abdruck auf ihrer Haut. Die Dunkelheit war angebrochen, eine sternenreiche, warme Nacht. Kerzenlicht erhellte die Teller mit den Fischresten und den übriggebliebenen Kartoffeln. Der Geruch des Gebratenen mischte sich mit dem des Weines und der Menschen und einer weitere Flasche Wein stand angebrochen auf dem Tisch.
Luis wollte gerade die nächste Flasche aufmachen, als es am Tor klingelte. Er wunderte sich, weil sie niemanden erwarteten.
Valerie ahnte, wer es war: Ali und Halil. Im schlimmsten Fall gemeinsam mit Tante, Onkel und den vier Kindern, die alle nach Marokko zurück sollten. Abschiebebescheid. Sie war in Meerbusch groß geworden. Im Grunde interessierte sie sich nicht für das, was außerhalb ihrer Welt, ihrer Schule, ihres Villenviertels, geschah. Ali kannte sie seit der Grundschule. Halil war sein bester Freund. Sie waren höflich und zurückhaltender als andere Jungs, sehr gute Schüler und wohnten in Oberkassel. Ihr Vater hatte ihr verboten, sich dort rumzutreiben. Deshalb trafen sie sich meistens in der Stadt. Sie erinnerte sich gut an das letzte Gespräch mit ihren Freunden.
„Das ist ja traurig. Die sind fünf Jahre in Deutschland? Ich hab ne Idee. Mein Papa hat ein großes Ferienhaus am Tegernsee, ist höchstens sechs oder acht Wochen im Jahr dort und braucht sowieso jemand, der drauf aufpasst und alles in Schuss hält. Wär ideal.“
„Frag ihn doch.“
„Wenn ich ihn frage, sagt er sofort ‚nein‘ . Am besten sie kommen vorbei und stellen sich vor.“
„Meinst du?“
„Ich kenne ihn. Wenn ihr erst mal da seid, könnte es klappen.“
„Und wenn er fragt, was wir dort machen?“
„Mm. Ihr seid auf der Durchreise könnt ihr ja sagen.“
„Okay, ich rede mit Tante und Onkel. Sie müssen sowieso weg hier. Außerdem wohnen Verwandte in Salzburg.“
Das schwere, eiserne Tor knarrte laut. Vor Luis stand eine Gruppe von Menschen. Armselige Gestalten, dunkel, Ausländer. Kinder klammerten sich an ihre Mütter. Neun Personen.
„Guten Abend, Herr Sattler. Ist Valerie da?“, sagte einer von ihnen, ein junger, schmaler Mann mit Bubengesicht.
„Wer sind Sie?“
„Ich bin Ali und das ist Halil, Freunde von Valerie.“
Luis erinnerte sich undeutlich an die beiden mit dem südländischen Aussehen.
„Ihr habt Valerie ein paar Mal besucht.“
„Und die anderen, wer sind die?“
„Meine Tante und mein Onkel mit Familie. Ist Valerie da?“
Valerie eilte zusammen mit ihrer Schwester zum Eingang. Sie begrüßten die zwei jungen Männer mit einer angedeuteten Umarmung.
„Papa, ich weiß, ich hab dir nichts gesagt. Können meine Freunde heute bei uns übernachten?“
Luis überlegte, zögerte. Unter dem Licht der Lampe sah sein Bart gelblich aus.
„Wir haben Platz genug, Papa. Ich wollte es dir schon früher sagen. Sie sind auf der Durchreise und ich habe gesagt, okay, ihr könnt ja vorbeikommen.“
„Kommt erst mal rein“, sagte er.
„Wir können schnell was kochen und im Anbau ist genug Platz zum Schlafen“, sagte Isabelle zu ihrem Vater.
Die Leute kamen näher, lächelten, betraten mit leisen Schritten das Haus. Sie rochen irgendwie muffig. Luis schaute sie sich an. Wo hatten die ihren Wagen geparkt? Vier Kinder. Ihre Mutter trug Kopftuch. Sie stellten die Rucksäcke im Eingangsbereich ab. Die Mädchen begannen, nach Lebensmitteln zu suchen, während sich die Fremden setzten, wo sie Platz fanden. Luis hörte die zischenden Laute ihrer Sprache durch den Raum schweben. Pia begrüßte die Ankömmlinge, schnappte sich die Kinder, begann mit ihnen zu albern und zeigte ihnen das Haus. Der Hausherr grinste die Eindringlinge mit demselben Gesichtsausdruck an, den er den Kunden seines Geschäftes zeigte. Valerie und Isabelle füllten Töpfe und unterhielten sich mit den jungen Männern, die sich an den Tisch gesetzt hatten. Die Eltern der Kinder nahmen auf der Couch Platz und schauten unsicher und müde in die Runde.
„Ich schau mal nach, wie es in der Scheune aussieht“, sagte Luis zu seinen Töchtern.
Der Geruch des aufgeheizten Strohs schlug ihm entgegen, als er die Tür öffnete. Die Neonröhre verbreitete ein kaltes, klares Licht. Er nahm eine der Mistgabeln, stocherte im Stroh und verteilte einige zusammengebundene Strohballen bis eine rechteckige Fläche entstand. Er erinnerte sich an die Soldatenzeit und die Manövernächte im Heu, an warme und behagliche Dorfscheunen, die ihnen die Bauern als Schlafstätten hergerichtet hatten, die am Wegesrand gestanden waren, den rechten Arm gehoben hatten, um sich mit einem Gruß zu verabschieden, der aus einer anderen Zeit stammte. Was für eine schöne Zeit. Kameradschaft, Gesang und Bier am Abend. Er hatte eine Ausbildung als Panzerführer absolviert, das Gefährt mit der Kanone gesteuert, die mit einem Schuss ein ganzes Areal vernichten konnte. Ein Gefühl ungeheurer Macht.
Luis kramte sein Smartphone aus der Hosentasche.
„Ich bin’s, der Luis“, meldete er sich.
Er sprach einige Minuten mit dem Mann am anderen Ende der Leitung. Sie lachten dabei und Luis beruhigte sich. Erinnerungen schufen sich Raum. Der Kleinbus, den er hinter dem Tor entdeckte, als er zum Schuppen ging. Die Fremden, die seine Töchter mit öligen Augen anschauten. Solch ein Bus war damals auf Katharina zugerast.
„Marokkaner, ja. Mit Abschiebescheid.“
„Bei mir zu Hause, ja.“
„Von meiner Tochter eingeladen, wusste ich nix davon, sind mitten in der Nacht aufgetaucht.“
„Die Kanaken schlafen in der Scheune.“
„Okay, ihr kommt vorbei, macht bisschen was mit dem Wagen und holt sie aus den Betten, dann komm ich raus und ihr haut ab.“
Luis legte auf und arbeitete mit frischer Energie weiter. Er war zufrieden mit der Arbeit, nachdem er die Schlaffläche festgestampft hatte und sein Werk unter dem Licht der nackten Glühbirne betrachtete. Das war’s. Erleichtert, ja beschwingt, ging er zum Haus zurück und nahm sich vor, den restlichen Abend fröhlich zu sein, zu lachen und Geschichten zu erzählen.
Als er das Haus betrat, spürte er die Lebendigkeit, die eingezogen war. Kinder lachten und die Leuten sprachen durcheinander. Sie saßen aneinander gereiht wie Hühner auf dem Sofa und am Tisch. Eines der Kinder drückte den Kopf an seine Mutter. Die jungen Männer kicherten mit Valerie und Isabelle, machten ausholende Gesten und tranken Wein. Der Duft von Gemüse, Nudeln und Tomatensauce lag in der Luft und Dampf stieg aus den Töpfen auf. Pia verteilte Getränke. Luis ließ sich anstecken, öffnete den Mund zu einem Grinsen und zeigte seine makellosen Zähne. Ein kleiner Junge, der auf dem Holzboden bei seinen Eltern hockte, starrte ihn an, als wolle er ihn zum Spielen auffordern oder ihn dazu bringen, sich herabzubeugen, damit er ihn am Bart ziehen könne. Er griff sich den Jungen und warf ihn durch die Luft, bis er jauchzte. Stimmen erfüllten das Haus. Als das Essen fertig war, setzten sich alle an den Tisch und stillten ihren Hunger.
„Ziemlich großes Haus. Steckt bestimmt viel Arbeit drin, Herr Sattler“, sagte Halil.
„Kann man wohl sagen“, antwortete Luis.
„Du hast doch gesagt, dass Du jemand brauchst, der sich um das Haus kümmert, Papa“, warf Isabelle ein.
„Ja, irgendwann werde ich jemand engagieren.“
„Mein Onkel und meine Tante suchen was. Onkel war früher Hausmeister und die Tante könnte sich im Haus nützlich machen.“
„Mm, vielleicht wär das eine Lösung. Können wir morgen drüber sprechen.“
Mehr sagte Luis nicht, öffnete die nächste Flasche Wein, schenkte sich ein und trank so hastig, dass sich die Wangen röteten. Mit verquollenen Augen bemerkte er wie sich die Unterarme von Halil und Valerie berührten. Die Gäste wurden müde, eines der Kinder schlief zusammengerollt auf dem Teppich.
„Ich zeig Ihnen, wo Sie schlafen können. Der Schlafplatz ist vorbereitet, brauchen Sie Decken?“
„Wir haben alles dabei.“
Die Fremden standen mühsam auf und trotteten mitsamt ihren Rucksäcken hinter dem schwankenden Luis her. Die Scheunentür ging ohne zu quietschen auf. Der Hausherr zeigte auf das Strohlager.
„Bitte nicht erschrecken, wenn Sie Geräusche hören. Gibt wohl ein paar Mäuse hier, aber Ratten gibt’s keine. Da hinten ist der Lichtschalter und zum Waschen kommen Sie morgen früh ins Haus. Gute Nacht.“
Luis winkte den Menschen zu und schloss vorsichtig die Tür. Dann wandte er sich ab und schlurfte zum Haus. Es war kühler geworden. Die Frauen räumten auf. Essensgeruch und fremder Schweiß lagen in der Luft. Erst öffnete er das Fenster, dann umarmte er Pia und presste sie an sich. Ihre Haare kitzelten sein Gesicht, während er sie auf Stirn und die Augen küsste.
„Ich glaube, die schlafen bald. Das Stroh ist weich, fast bequemer als im Bett.“
„Sie waren richtig hungrig“, sagte Isabelle.
„Ja, waren sie“, antwortete Luis. „Ich bin müde.“
„Sind die Leute gut versorgt?“, fragte Valerie.
„Denke schon.“
Luis Sattler drückte das Gesicht auf das Daunenkissen. Pia schmiegte sich an ihn. Eine unbändige Lust überfiel ihn. Er begann, ihre Brüste zu kneten, ihre Ohren zu küssen und war spürbar erregt. Mit fest geschlossenen Augen rieb sich Pia an ihm, drückte seinen aufgerichteten Schwanz zwischen ihre Pobacken und ließ ihn in sich gleiten. Sie bewegten sich langsam, drehten und wendeten sich nicht. Ganz leise seufzten und keuchten sie. Ihren Höhepunkt, ein spitzer, hoher Schrei, erreichte sie, als Luis ihr ins Ohrläppchen biss. Danach strich er sich über den Bart, legte sich auf den Rücken und schloss die Augen. Die Gedanken an den Tag erloschen.
In der Nacht wehte ein warmer, leichter Wind. Der Himmel war mit Sternen gesprenkelt. Wären die Lichter der Häuser am Ufer des Sees erloschen, hätte man das ganze Panorama gesehen. In der Scheune war es dunkel geworden. Die meisten Gäste schnarchten und einige der Kinder wachten von Zeit zu Zeit auf, und schliefen wieder ein, weil sie die Wärme ihrer Eltern in der Nähe spürten.
Valerie und Isabelle lagen in ihren Betten und warteten darauf wieder aufzustehen. Sie wollten sich mit Ali und Halil treffen, wenn alle anderen schliefen. Das Wasser plätscherte und die Grillen zirpten in den Gräsern, als sie zum Bootssteg kamen. Die jungen Männer waren schon da. Sie setzten sich zu ihnen, ließen die Beine baumeln, rauchten, hörten Musik und lachten miteinander.
„Super Boot!“, sagte Ali.
„He, das ist ne Yacht, kein Boot.“
„Ja, klar, ne Yacht. So sagt ihr dazu.“
„Nicht direkt stolz, aber gefällt mir, klar.“
„Wart ihr mal in Marokko?“
„Nein, in Ägypten. Pyramiden und das ganze Zeug.“
„Marokko ist schöner. Das Licht, das Meer, die Berge und die Leute.“
„Und Gras wird dort angebaut oder?“
„Haha. Stimmt. Gute Idee, ein Joint wär jetzt cool.“
„Ich hab ein paar Krümel übrig“, sagte Valerie.
„Hast du’s hier?“
Sie kramte ein Döschen aus ihrer Tasche, gab’s ihrer Schwester, die etwas Tabak vermischte, das Zigarettenpapier nahm und daraus eine Tüte bastelte.
„Ich kapier nicht, warum die meisten Dealer Nordafrikaner und Moslems sind.“
„Stimmt doch gar nicht, gibt genug Deutsche, die dealen“, warf Halil ein.
„Ja, vielleicht.“
„Übrigens, hast du was gegen Moslems?“
„Ne, bestimmt nicht, gegen Terroristen eher.“
„Was meinst du damit?“
„Die meisten Terroristen sind ja wohl Moslems.“
„Die das machen sind völlig am Arsch.“
„Kann sein.“
Luis wachte mitten in der Nacht mit trockenem Mund auf und schlich die Treppe herunter in die Küche, um etwas Wasser zu trinken. Er warf einen Blick nach draußen und sah flackernde Lichter auf der Yacht. Taschenlampen. Ist da jemand, der sich auf seinem Schiff zu schaffen macht? Müdigkeit und Trunkenheit verließen ihn. Für einen Moment dachte er an Isabelle und Valerie. Aber die waren müde ins Bett gewankt. Er rannte in sein Arbeitszimmer und öffnete die Schublade, wo er die Magnum aufbewahrte. Ein Reflex. Er war zweimal während des Weihnachtsgeschäftes ausgeraubt worden. Danach hatte er den Waffenschein gemacht und sich die Pistole in den Safe gelegt. Er erinnerte sich, wie schwer die Magnum war, als er sie in den Bund seiner Hose steckte, so schwer, dass man sie mit beiden Händen halten musste. Die Lichter waren hinten im Heck zu sehen. Er hörte leise Stimmen, auf die er sich zubewegte.
„Wer seid ihr und was macht ihr auf meiner Yacht?“
Taschenlampen richteten sich auf ihn, sodass er nur die Schemen der Gestalten erkennen konnte.
„Papa, was machst du denn hier?“
„Und ihr?“
„Bisschen quatschen.“
„Mit denen da?“
„Ja, klar, ist doch kein Problem.“
„Was raucht ihr da für Zeug?“
„Äh, ist … Hast du doch früher selbst geraucht.“
„Und wo ist das Zeug her? Von den Kanaken?“
„He, was soll das“, sagte Halil und sprang auf.
„Ich sag, was ich will, auf meinem Schiff!“
„Warum sagst du Kanake, Mann?“
„Bist doch einer!“
Die Augen des jungen Mannes glühten. Die beiden standen Zentimeter voneinander entfernt, berührten sich fast. Im Licht war die Ausbeulung im Hosenbund von Luis deutlich zu sehen.
„Alles cool, Alter.“ Ali zog Halil weg.
„Euch zeig ich’s noch, euch … “
Mit einer Hand zog Luis die Waffe heraus, schwenkte sie hin und her, bekam sie aber nicht richtig zu fassen. Sie glitt ihm aus den Händen und schlitterte über das Deck.
„Bist du verrückt, Papa! Geh schlafen, bitte geh schlafen“, sagte Valerie.
Luis erschrak über die Schärfe der Worte. Er suchte nach der Waffe und steckte sie wieder weg. Er fühlte sich müde.
„Ist schon gut, ich geh ins Haus. Nehmt einen Aschenbecher, wenn ihr raucht. Dachte, da wären Einbrecher.“
„Schon gut“, sagte Isabelle.
Die Mädchen sahen ihrem Vater nach, wie er davonschlich, wie gebückt er ging, wie kraftlos er plötzlich war. Die Nacht war verdorben und dennoch blieben sie auf der Yacht, rauchten und lehnten sich an die zwei Männer, schmiegten sich an sie und Valerie ließ sich von Halil küssen, während der Mond die Haut ihrer Gesichter goldfarben erstrahlen ließ.
Am frühen Morgen huschten Gestalten am Haus vorbei.
„Da hinten, neben dem Haus.“
„Leise.“
„Da ist der Wagen.“
„Lass uns loslegen.“
Die Männer hielten Dosen in den Händen und besprühten das Fahrzeug: Refugees not welcome‘; ‚Kanaken, verpisst euch‘. Sie schlugen die Fenster ein, zerstachen die Sitze und übergossen sie mit Jauche, die sie in Kanistern mit sich führten.
„Jetzt zur Scheune, schnell.“
Sie trugen klobige Stiefel, Sturmmasken und waren schwarz gekleidet. Die Sonne war vor kurzem aufgegangen, in den Händen hielten sie Baseballschläger. Sie rissen die Scheunentür auf.
„Aufstehen, Arschlöcher!“ schrien sie.
„Eure Karre stinkt nach Araberschweiß. Macht, dass ihr rauskommt!“
„Wird’s bald!“
Die Männer schwangen ihre Prügel und drohten damit. Bis sie sich erhoben und an ihnen vorbei ins Freie flüchteten.
„Ausländerpack!“
Sie trieben die Leute vor sich her aus der Scheune. Die Kinder klammerten sich an ihre Eltern. Ali und Halil sahen hilflos und erschrocken aus.
Auch im Haus regte sich etwas. Lichter gingen an. Plötzlich tauchte Luis auf, stürmte aus der Tür, hielt die Magnum mit beiden Händen und richtete sie auf die Männer.
„Verschwindet hier!“
So war es vereinbart. Die Männer rannten fluchend in Richtung See, Luis hinterher, gefolgt von Valerie. Ein Schuss löste sich, ein zweiter. Ein Motorboot heulte auf und schoss über den See. Luis konnte sich als Held fühlen.
Ali und Halil liefen unterdessen zum Auto und waren entsetzt über das, was sie vorfanden.
„Wir können nicht weiter fahren. Alles kaputt und es stinkt nach Scheiße. Die haben Jauche über die Sitze gekippt.“
„Ich ruf die Polizei“, schrie Pia, die aus dem Haus wankte, die Träume der Nacht aus dem Gesicht wischte und nicht darauf achtete, dass sie barfuß war, nackt bis auf die Decke, die ein leichter Wind von Zeit zu Zeit hob und ihre Haut entblößte.
Über das Gesicht von Luis huschte ein verstecktes Lächeln, als er vom Bootssteg zurück kam. Sein Gang war entspannt. Er hielt die Pistole locker in der Hand, den Lauf nach unten gerichtet. Valerie war nicht zu sehen. Sie machte mit ihrem Smartphone Bilder von den flüchtenden Tätern. Pia und Isabelle standen bei den Fremden, diskutierten mit ihnen, versuchten sie zu beruhigen, umarmten ein ums andere Mal die weinenden Kinder und eilten Luis entgegen.
„Sie sind weg.“
„Wo ist Valerie?“
Dann geschah es. Ein lauter Knall. Alle drehten ihre Blicke zur Yacht. Ein Feuerball, der zum Himmel strebte. Die Yacht explodierte. Wahrscheinlich waren die Schüsse der Auslöser einer Kettenreaktion, die Spritdämpfe entzündete, ergab später eine Untersuchung. Der Rauch, der über dem See aufstieg, sah aus wie der ins Riesenhafte verwandelte flatternde Bart des Schmuckhändlers Luis Sattler.
Isabelle und Pia, Ali und Halil, liefen dem Inferno entgegen, Luis blieb reglos stehen.
„Valerie!“
Rufe, die durch den Rauch drangen. In der Ferne Sirenen, die näher kamen. Ewigkeiten vergingen, bis sie aus dem Nebel und dem Inferno zurück kamen, mit geschwärzten Gesichtern, als wären sie Neger, Pia und Isabelle, Ali und Halil. Valerie war dabei, die Arme um Isabelle geschlungen, durchnässt, triefend, schwarz. Sie hatte sich durch einen Sprung ins Wasser gerettet.
Das Gesicht von Luis hellte sich auf.
„Die Yacht ist ja versichert. Zum Glück ist dir nichts passiert.
Danach ging es schnell. Polizei, Feuerwehr, ein paar Schaulustige, hektisches Treiben, die Yacht wurde gelöscht. Die Marokkaner mussten ihre Ausweise zeigen und Polizisten verhörten sie.
Um die Mittagszeit zogen Feuerwehr und Polizei. Luis und die anderen versammelten sich im Haus. Pia nahm Luis beiseite.
„Luis, kann ich dich kurz sprechen“, sagte Pia.
„Ja, klar, Liebling. Was gibt’s?“
„Ich reise ab. Kannst du mich nach Salzburg zum Bahnhof bringen?“
„Warum? Bist du so erschrocken heute früh?“
„Nicht deswegen. Ich muss nach Düsseldorf zurück, ne Menge erledigen, bevor der Urlaub vorbei ist.“
„Ja, ist okay. Wir wollten heute sowieso nach Salzburg, machen wir auch, wird uns alle beruhigen.“
„Und die Leute?“
„Die passen nicht ins Auto. Die bleiben erst mal da.“
Valerie wollte nicht mitfahren und kümmerte sich um lieber um das Haus und die Leute. Die Scheune kam für eine weitere Nacht nicht mehr in Frage. Sie richteten zwei Zimmer im Dachboden her, eins für die Familie und eins für Ali und Halil. Geschäftigkeit machte sich breit. Der Brandgeruch jedoch konnte genauso wenig verjagt werden, wie Angst und Schrecken in den Köpfen. Als Luis und Isabelle am Abend zurück kamen, stand Essen auf dem Tisch.
„Ohne Auto können wir nicht weiter fahren. Das übernimmt die Versicherung nicht, war Vandalismus, haben sie gesagt.“
„Ihr bleibt hier. Wir machen einen Vertrag, ich stelle euch an“, sagte Luis.
„Und die Behörden?“
„Wenn ihr Arbeit habt, ist das kein Problem:“
„Einverstanden“, sagte der Onkel Alis.
„Die Männer werden wieder kommen, die wollen uns nicht hier“, sagte die Tante.
„Ach, was, bestimmt nicht“, erklärte Luis.
Die Nacht brachte Stille und das Zirpen von Heuschrecken, unterbrochen von dem lauten Stöhnen Valeries, die Halil zu sich ins Bett geholt hatte. Luis hörte ihnen zu und schlief irgendwann ein. Sterne waren am Firmament sichtbar.
Am nächsten Tag am Telefon.
„Ich bin’s, der Luis. Seid ihr wahnsinnig?“
„He, Alter, Mann, das mit der Yacht war’n nicht wir. Und das davor wolltest du doch so, oder etwa nicht?“
„Jagt einfach die Yacht in die Luft, anstatt die Kanaken zu vertreiben.“
„Ganz vorsichtig, Kamerad. Das Ding ist nach unseren Bedingungen gelaufen. Warum rennst du uns auch mit der Knarre hinterher?“
„Das ist ne Magnum.“
„Dann eben ne Magnum. Also, was sollte das?“
„Show, mehr nicht. Die Marokks sind immer noch da.“
„Na und. Deine Sache. Musst du mit zurechtkommen.“
Zwei Tage später.
„Ich fahre mit Halil zwei Tage an den Bodensee und dann nach Berlin, muss meine Hausarbeit fertig machen“, sagte Valerie.
„Ja, klar, verstehe ich“, antwortete Luis.
Weitere zwei Tage danach.
„Papa, du kennst doch die Romy, wir sind best friends. Sie hat am Wochenende Geburtstag. Kannst du mich an den Bahnhof bringen, ich muss heim fahren. Ich hab’s versprochen mit ihr zu feiern“, sagte Isabelle.
„Hast du gar nichts von gesagt.“
„Doch, ich schwör, habe ich dir erzählt.“
„Mm. Wann willst du los?“
„Morgen früh.“
Eine Woche danach.
„Es geht nicht, Herr Sattler.“
„Wie meinen sie das?“
„Wir müssen weg hier, zurück in die Heimat.“
„Mm. Warum? Sie haben sich doch gerade eingelebt.“
„Die Kinder träumen nachts von den Männern. Die werden wieder kommen.“
„Ach, was, bestimmt nicht.“
„Nein, es geht nicht. Ali ist schon mit dem Bus voraus gefahren und kommt mit dem Auto meines Bruders zurück. Wir packen unsere Sachen.“
„Ich habe mich gerade an sie gewöhnt. Wollen sie mehr Geld?“
„Es geht nicht um Geld.
Luis nahm sich einen Stuhl, setzte sich vor sein Haus und blickte zum See. Das Wrack der Yacht war verschwunden. Ein laues Lüftchen wehte. Auf seinem Schoß lag der Laptop. Er blätterte einschlägige Seiten durch und schaute sich Bilder von Schiffen an, die zum Verkauf standen. Luis fühlte sich entspannt und wunderte sich höchstens, dass Pia sich nicht bei ihm meldete.