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- 28.12.2009
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Ich bin nie da, wo der Regen ist
Trockene Erde rinnt durch meine Finger. Der Wind weht Staub in alle Richtungen. Hinter dem verbrannten Mais geht die Sonne unter. Bald wird die Dämmerung ihren Schleier über die Landschaft legen. Nacht bedeutet kühlere Luft. Vom Hügel aus sehe ich die zweistöckigen Backsteinhäuser mit ihren Dächern aus schwarzen Ziegeln. Alle Fenster mit Stofffetzen verhangen. Ein Flimmern liegt über dem Tal. Ich folge dem Lehmpfad in den Schatten des Waldes. Die Stürme der letzten Tage haben viele Bäume ausgerissen. Wurzelstöcke ragen aus dem Erdreich. Die Stämme kahl und voller Rillen. Eine Frau steht vor einer vertrockneten Lärche und schneidet mit einer rostigen Klinge Streifen der Rinde ab.
Der Pfad führt an einem versiegten Brunnen vorbei. Eine Gruppe Männer steht vor einer Feuerstelle. Sie tragen Umhänge aus schmutzigem Leinen. Verfilzte Haarsträhnen verdecken ihre Gesichter, doch ich spüre ihre Blicke. Ich gehe hinunter zum Fluss. Nur noch ein handbreites Rinnsal, das aus den Berghöhen kommt, die Weiße Krankheit mit sich bringt. Insekten schwirren am Ufer.
Zweimal haben wir dieses Jahr schon geopfert, sagt eine Stimme. Ich drehe mich um. Sein Gesicht ist eingefallen, die Haut grau und fahl. Eine schlecht vernähte Narbe auf der Wange. Der Mann schüttelt den Kopf. Zweimal haben wir auf Regen gewartet. Ich lege ihm meine Hand auf die Schulter. Der Regen wird kommen. Wir alle müssen daran glauben.
Davor hat ER uns immer erhört. Wir wissen nicht, was wir noch tun sollen. Er drückt mir einen kleinen Sack in die Hand. Mehr haben wir nicht mehr. Ich lasse meine Hand über den rauen Stoff gleiten und ziehe die Schnüre auseinander. Meine Fingerspitzen tasten nach dem Inhalt. Die Körner sind klein und fest, die Oberfläche ölig.
Mehr haben wir nicht, wiederholt der Mann. Er schließt die Augen, öffnet sie wieder, schaut über meine Schulter in die Unendlichkeit. Was soll aus uns werden?
Wir müssen alle daran glauben.
Er nickt. Ja, sagt er. Wir glauben alle daran. Dann geht er an mir vorbei. Ich folge ihm. Das Zelt steht inmitten des Kreises, der aus roter Kreide auf den Boden gemalt wurde. Der Mann bleibt stehen und öffnet es mit einer Hand.
In der ersten Stunde des neuen Morgens, sagt er. Das Feuer wird bereit sein.
Ich senke den Kopf, die Zelthülle schließt sich hinter mir. Es ist warm. Räuchergras brennt in Holzkehlen, verströmt einen süßen Duft. Kohlen glosen in einer flachen Erdgrube. Sie sitzt auf einem Kissen im hinteren Bereich. Ich kann von ihr nur den Umriss sehen - sie ist schmächtig, ihr Gesicht schmal und lang. Das Feuer wirft ihren Schatten an die Zeltwände. Sie trägt einen grauen Umhang. Durch die Löcher im Stoff sehe ich ihre Haut, sie glänzt seiden. Ich lege ihr den Sack in den Schoß und setze mich auf eines der Kissen.
Du musst keine Angst haben, sage ich.
Sie senkt den Blick.
Ich strecke meine Hand aus und streiche über ihre Wange. Du bist nicht von hier.
Sie schüttelt den Kopf. Ich bin aus dem schwarzen Tal.
Ich lege meine Hand auf ihre Stirn, die warm und glatt ist. Ich kenne das schwarze Tal. Ich habe ihnen letztes Jahr den Regen gebracht.
Sie sind alle gegangen, sagt sie und schließt die Augen. Ein alter Mann im schwarzen Tal hat mir erzählt, dass es früher tagelang geregnet hat.
Ich kenne die Geschichten.
Und sind sie wahr?
Wenn ER es will, werden sie wahr. Sie lächelt. Sie öffnet den Sack, gießt die Körner auf eine Steintafel, die vor ihren Füßen auf dem Boden liegt. Mit langsamen Bewegungen schiebt sie die Körner in eine kleine Mulde, verschließt die Öffnung mit dem geschliffenen Ende eines Klöppels. Die Körner werden unter ihren Händen zu grobem Mehl, das immer feiner wird. Sie nimmt eine Karaffe und gießt einen Schluck Wasser auf den Stein. Aus der Masse knetet sie einen zähen Fladen, den sie auf eine Pfanne aus grauem Tonzeug streicht und über die Kohlen schiebt.
Mein Vater fragte mich einmal, wie es sein kann, dass jeden Morgen die Sonne aufgeht. Es könnte auch für immer Nacht sein. Verstehst du, was ich sagen will?
Sie dreht den Fladen um. Es ist alles, was wir noch haben, sagt sie. Das ist alles.
Es ist eine große Ehre für dich, sage ich, und sie reißt ein Stück des Fladens ab und schiebt ihn mir langsam in den Mund.
Ich werde euch den Regen bringen. Ich werde Regen bringen.