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Ibrahim London
I B R A H I M London.
"Das hier ist meine Schule.", sagt Ibrahim und führt dabei seinen Arm in einer fließenden Bewegung über den Platz Jamma Al Fna'. Das Herz und die Seele Marrakeschs.
Seine Handfläche zeigt in den dämmernden Himmel.
Auf dem Platz, der zum Unesco-Weltkulturerbe gehört, tummeln sich allerhand Gestalten. Backpacker- und Kultur-Touristen, Araber wie Europäer, Berber und Tuareks, Geschichtenerzähler und Händler - teilweise mit üppigen Ständen, teilweise mit einfachen auf dicken Decken ausgelegten Waren. Verkauft wird hier alles. Vom vermeintlichen Arganöl bester Qualität bis zu einfachen Souvenirs, die spätestens beim Auspacken auseinander fallen. Es ist ein Ort des Handels. Ein Ort des Austausches. Ein Ort, der lebt. Dennoch verkauft niemand hier seine Kultur, sondern profitiert von ihr.
Ibrahim ist Berber. Aber einer der helleren Typen. Vermutlich kommt er aus dem Norden Marokkos. Oben wie unten fehlen ihm mehrere Backen- und Eckzähne. Die verbliebenen Schneidezähne zeigen in unterschiedliche Richtungen und sind durch Pfefferminztee und Haschisch gelbbraun gefärbt. Er hat grausiges, dünnes Haar und ein ehrliches, aber hartes Lächeln. Vielleicht ist es auch mehr ein Grinsen. Wenn er lacht zieht er seinen rechten Mundwinkel in Richtung seines Ohrs und wirft seine hohe Stirn in Falten. Er ist bestimmt kein schöner Kerl, strahlt aber dafür um so mehr eine abgeklärte Gewitztheit aus.
Jungs wie ihn gibt es hier viele. Knallharte Burschen, die mit dem was sie auf der Straße verdienen oft ihre ganze Familie ernähren.
Ibrahim spricht nach eigener Aussage sieben Sprachen. Fließend. Sein Job: Klarmachen - egal was. Ob Alkohol, Haschisch, frischen Orangensaft, einen Besuch ins Restaurant oder einen Trip ins Atlas-Gebirge zu seinen berbischen Kumpanen. Ibrahim kann alles klären - natürlich nur gegen Bakshish. Heute klärt er ein paar Sachen für uns.
Die Hände in seiner Bomberjacke, halb gebuckelt, halb geduckt laufend - die Schultern nach oben gezogen als sei ihm kalt - führt uns Ibrahim zu den Orangenständen, die rings um die Grillstände in der Mitte des Platzes angeordnet sind. Am dritten Stand macht er halt und spricht kurz mit dem Händler. Ich verstehe die Beiden nicht - offenbar ist der andere ebenso Berber, allerdings von der dunkleren Sorte aus dem Süden.
Ibrahim bestellt für uns alle frischen Orangensaft und drückt dem Dunkleren einen braunen, weichen Klumpen in die Hand mit der Bitte, dass er sich um uns kümmern solle. Man kennt sich hier. Dann verschwindet er in der Menschenmenge. Ehe er sich an den Schlangenbeschwörern und Tuarek vorbeidrückt sagt er noch mit einem schmutzigen - aber gut gemeintem - Augenzwinkern dass er noch schnell etwas erledigen wolle.
Sobald er verschwunden ist winkt uns der Orangenhändler hinter seinen Stand. Er hat freundliche - ja gar gütige Augen - und trägt ein graues traditionelles marokkanisches Gewand, das bis zu seinen Knöcheln reicht. Von seinem Kragen verläuft eine aufwendig gestickte Knopfleiste bis zu seinem Brustbein. Auf seinem Haupt liegt eine ebenso landestypische dunkelrote Mütze, welche ein feines Webmuster aufzeigt. In ihrer Mitte steht ein Fingerkuppen großer, eng geschnürter Bommel in die Luft. Seine langen Finger sind aufgeweicht und an vielen Stellen aufgeplatzt.
Während wir uns zwischen den Ständen nach hinten durchschieben zieht er zwei abgesessene Holzstühle über den nassfeuchten Boden und stellt sie uns hin. Mit einer etwas übertriebenen ausladenden Geste lädt er uns ein Platz zu nehmen. Es riecht sauer - etwas nach gegärter Frucht - und das Kopfsteinpflaster unter unseren Füßen ist etwas schmierig.
Nachdem er sich vergewissert hat, dass es allen gut geht setzt er sich zwischen uns auf die Stufen, die zu seinem Stand hinauf führen. Da sitzen wir nun. Trinken unseren Saft inmitten der Schlagader dieser Stadt - direkt am Sinusknoten, der die Maßen durch die Gassen und die Suks treibt. Dennoch fühlt es sich in diesem Moment an, als ob wir uns abseits der Hektik und des Trubels, abseits der Geschäftigkeit und des Treibens befinden. Der dunkle Berber fragt uns nicht nach unseren Namen und wir nicht nach seinem. Trotzdem spüren wir keine Distanz zueinander, sondern vielmehr eine unbeschwerte, offene und ehrliche Wärme. Es ist einer der Momente, in der Stille willkommener als gespielte Gesprächigkeit ist. Der Himmel über uns ist mittlerweile in ein tiefes Schwarz getaucht.
Mit seinem breiten Lachen steht Ibrahim plötzlich wieder zwischen uns und sagt, dass er uns heute Abend noch eine Sache zeige müsse. Im nächsten Moment finden wir uns im Getümmel der Massen wieder.*
Der dunkle Berber lächelt als wir uns von ihm verabschieden und gibt jedem von uns noch eine Orange mit auf den Weg.
Ibrahim führt uns über den Platz in eine breite Seitenstraße. Wie in einem Nadelöhr laufen wir an hell ausgeleuchteten Ladenflächen und verschiedenen Straßenständen vorbei. An einigen bleiben wir stehen und tun als ob wir etwas kaufen wollen, aber die Händler kennen dieses Spiel schon, geben uns aber dennoch das nötige Maß an Höflichkeit.
Wir bleiben vor einem dreistöckigen Gebäude stehen. Rechts daneben führen ein paar Treppen in ein Kellergewölbe, das durch ein Schild über dem Eingang als Koranschule ausgezeichnet wird. Neben einer offen stehende, schweren Metalltür in der Mitte des Hauses steht ein stämmiger Mann mit einem ungepflegten Vollbart, der uns bestimmend anweist hinein zu gehen. Wir verstehen, dass wir nicht lange vor dem dem Gebäude stehen sollen.
Als wir eintreten empfängt uns eine ältere Dame mit einem einfach gebundenen Schleier, strengen Augen, aber einem hübschen Lächeln hinter einem schmalen Tresen. Wenn wir eben noch dachten, dass der Stämmige den Tön angibt, so wussten wir spätestens jetzt wer hier die Ansagen macht.
Wir nennen sie - respektvoll - Haddsch'a. Nach dem Islam sind alle Menschen Gott gegenüber verpflichtet, die Wallfahrt nach Mekka, den Haddsch, anzutreten – soweit sie dazu eine Möglichkeit finden. Unsere Haddsch'a hatte definitiv bisher noch keine Möglichkeit dazu. Charmant erklärt sie uns anhand einer sandgelben Broschüre, dass die angebotenen Dienste 250 Dirham kosten und leitet uns in einen engen dunklen Korridor, der uns in den ersten Stock führt. Wir passieren einen Raum, der durch eine Halogenröhre in ein weißes Licht getaucht wird. In der Tür hängt ein halb zugezogener Vorhang. Auf dem weiß gekachelten Boden ist ein dickerer Wasserfilm zu sehen und es ist riecht etwas nach billigen Waschpulver und altem Babyöl. Von den äußeren Wänden her sind mehrere Wäscheleinen gespannt. Eine Waschmaschine steht in der hinteren linken Ecke - daneben ein junges Mädchen in einem weißen Kittel, dass Handtücher faltet und auf mehrere Stapel legt.
Haaddsch'a dirigiert uns weiter in ein mittelgroßes Foyer mit einem zweiten, etwas größeren Tresen, hinter dem mehrere Überwachungsbildschirme aufeinander gestapelt sind. Man sieht das Mädchen mit den Handtüchern, gepolsterte Liegen und hier und da mal einen schmalen Schatten entlang huschen. In der gegenüberliegenden Ecke steht eine etwas ausladende dunkle Sitzgarnitur, die ein königsblaues Polster ziert. Das Licht ist gedämmt und es laufen kitschige 80'er Jahre Schnulzen. Wir bekommen ein unidentifizierbares lauwarmes Getränk gereicht, das abwechselnd nach Jasmin und Zimt schmeckt. Über einem der Sofas hängt ein Ölgemälde, das eine nackte dunkelhaarige, schlanke Frau in einer Badewanne zeigt, die ihre Haut mit einem Schwamm wäscht. Spätestens jetzt wissen wir wo Ibrahim uns hingeführt hatte.
Ein Vorhang öffnet sich und es treten drei nicht so große, dennoch üppige, Frauen unterschiedlichen Typs aus dem Schatten und werden von Haddsch'a als Mona, Jamila und Razan vorgestellt. Die Damen verkünden mit einem vielversprechenden Lächeln, dass nun die ersten drei hereinkommen dürften. Ich sehe die Freude in den Augen der Jungs und lasse sie mit den Mädchen alleine.
Mit unserem Führer gehe ich in ein gegenüberliegendes Café. Wir setzen uns auf die Dachterrasse, bestellen Minztee und süßes Gebäck. Während ich das Driften von Körpern, Schubkarren und Pferdekutschen auf dem Jamaa Al Fna' beobachte, erzählt mir Ibrahim Geschichten aus seiner Kindheit. Über uns erstreckt sich der tiefschwarze Nachthimmel mit einer hellerleuchteten Sternenkuppel. Ich greife nach meiner Schachtel und biete ihm eine Zigarette an. Dankend zieht er sie am Filter heraus und steckt sie sich zwischen seine dünnen Lippen.
Als wir uns verabschieden möchte ich ihm als Dankeschön noch ein paar Dirham zustecken, doch er lehnt dies ab und nimmt meine Hand.
"Nächstes mal, so Gott will", sagt er und schenkt mir wieder ein Zwinkern.
Ich bin einverstanden und frage noch rasch auf Arabisch mit welchem Namen ich ihn einspeichern soll.
"Ibrahim. Ibrahim London.", lacht er verschmitzt und verschwindet im Menschengewühl.
Ich habe Ibrahim nie wieder gesehen.