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Iß, Kind, Iß
Iss, Kind, Iss!
Iss Kind, iss!
Anne saß am Tisch, zusammen mit ihren Eltern und Geschwistern.
Schon wieder Essen! Sie hasste es. Immer Essen. Und immer der gleiche Spruch:
„Iss, Kind, iss deinen Teller leer!“
Wenn es Essen gab, hatte sie keinen Appetit mehr. Sie hatte noch nie viel gegessen und wenn, dann meistens unter Zwang. Sie wusste, dass alle Menschen essen mussten, die meisten von denen, die sie kannte, taten das auch gerne, aber sie selbst hatte einfach keine Freude daran.
Anne blickte hoch in das besorgte Gesicht ihrer Mutter und weiter in die interessierten, beobachteten Augen ihrer Geschwister. Verlegen senkte sie den Kopf und spürte gleichzeitig eine Welle des Hasses auf in sich hochsteigen. Sie wollte nicht, dass alle sie so anschauten! Sie wollte, dass überhaut niemand ihr beim Essen zusah!
Am liebsten würde sie ihren vollen Teller in ihre Gesichter werfen. So fest, dass das Essen überall herumspritzte. Jawohl, das wäre jetzt in diesem Moment das Schönste, was sie sich vorstellen könnte. Und das Allerschönste wäre es, wenn sie nie wieder essen müsste. Wenn sie tot wäre. Dann könnten sie nicht mehr so auf ihr herumhacken und würden statt dessen um sie weinen und sich ordentlich schämen. Und ihren Geburtstag könnten sie dann auch nicht mehr feiern. Sie schaute auf den Kalender, der an der Wand gegenüber hing. Es war der 14. Mai 1965. In fünf Tagen würde sie zehn Jahre alt werden.
Sie war so angestrengt in ihren schwarzen Fantasien gefangen, dass sich ihre aufgestaute Wut in heiße Tränen auflöste. Nun hatte sie erst recht keinen Hunger mehr, denn jetzt starrten alle zu ihr. Dumme, blöde Tränen! Alle konnten sehen, was mit ihr los war! So wie immer.
Mit einem Kloß im Hals nahm sie dennoch einen Bissen in den Mund – Fleisch, das inzwischen ekelig kalt geworden war – und kaute minutenlang darauf herum. Wie sie diese trockenen Fleischfasern hasste, die in ihrem Mund zu einem dicken Klumpen wuchsen!
Schon im Kindergartenalter hatte Anne mir dem Essen Probleme, so hatte ihr die Mutter erzählt. Auch später, in der Schule, knabberte sie ihr Schulbrot nur ein wenig an, den Rest brachte sie wieder mit nach Hause.
Sie hüstelte, hielt die Hand an den Mund, spuckte die widerlichen Essensreste hinein und klebte sie unauffällig unter den Tellerrand. Sie klebten immer recht gut. Diesen Trick hatte sie herausgefunden und war stolz darauf.
Sie war auch immer die erste beim Abtragen des Geschirrs, denn sie musste aufpassen, dass ihre Essensreste inzwischen nicht auf dem Tischtuch gelandet waren. Manchmal hustete sie ihr Essen auch in ihre Serviette, stand unter irgend einem Vorwand auf und entsorgte sie ganz unten im Mülleimer.
Ab und zu, wenn ihre Eltern glaubten, sie wäre nicht in der Nähe, hörte sie sie leise reden: „Sie isst einfach zu wenig..., was machen wir bloß... der Arzt sagt..., für eine neunjährige zu klein und zu dünn... verreisen... verschicken...., einmal hörte sie ihre Mutter auch leise schluchzen und vernahm danach das beruhigende Gemurmel ihres Stiefvaters. Dann schämte sie sich wieder, war zuerst traurig, weil sie wusste, dass sie es war, die den Eltern solchen Kummer machte, dann aber wurde sie wütend auf sie. Warum ließen sie sie nicht einfach zufrieden? Und was überhaupt hieß `verschicken`? Sie wusste damit nichts anzufangen, und dennoch beschlich sie bei diesem Wort immer ein beklemmendes Angstgefühl.
Dann kam der Tag, an dem Annes Mutter ein paar Sachen für sie zusammenpackte und ihr erklärte, sie dürfe für sechs Wochen in ein Kinderheim. Dort würde sie mit vielen anderen Kindern zusammen Spaß haben, ordentlich Hunger bekommen und gesund wieder nach Hause kommen.
Sie fragte ihre Mutter, ob sie sie auch besuchen würde. Die Mutter verneinte, das wäre nicht erlaubt, da Anne dann vielleicht Heimweh bekäme.
Das war also das „Verschicken“
Der Angstklumpen in ihrer Brust machte sie noch zappeliger, als sie es ohnehin schon war. Abends lag sie in ihrem Bett und dachte nach, denn sie konnte sich nicht vorstellen, wie lange sechs Wochen wären, wohl aber, dass sie dort ohne ihre Familie aushalten musste. Und wo war das Kinderheim überhaupt?
Sie dachte an ihren Vater, der vor zwei Jahren verstorben war. Hätte auch er sie weggeschickt? Nein, das konnte sie nicht glauben, da war sie sich ganz sicher. Bevor er diesen schlimmen Unfall hatte, waren sie eine ganz normale Familie gewesen. Sie erinnerte sich noch lebhaft an die Späße, die ihr Vater oft gemacht hatte, wenn sie gemeinsam beim Essen saßen. Viel gegessen hatte sie auch damals nicht, aber so schlimm wie jetzt, war es nie gewesen. In ihren Erinnerungen daran, schlief sie ein.
Das erste, das sie verspürte, als sie dort ankam, war Angst. Große Angst, denn alles wirkte so fremd: der riesige Schlafsaal, die langen Flure, der Speisesaal, der in zwei Hälften geteilt war. Die Gesichter, von denen keines auch nur den Hauch einer Ähnlichkeit mit dem eines ihrer Geschwister hatte.
Eine Nonne in einer schwarzen Schwesterntracht und einer weiße Haube auf dem Kopf, begrüßte sie und führte sie herum. Nachdem sie sich eine kleine Ecke im Schlafsaal neben ihrem Bett eingerichtet hatte, hörte sie eine Klingel, die laut und schrill zum Essen läutete.
Essen!
Mit so vielen fremden Kindern! Beklommen schlich sie hinter einer der Schwestern zum Speisesaal her.
Eine so große Portion stand vor ihr, dass ihr die Spucke im Hals stecken blieb. Wie sollte sie das nur schaffen? Verzweifelt schaute sie sich um und bemerkte verstohlene Blicke, die auf sie, die Neue, gerichtet waren. Neugierige Blicke. Sie schaute auf ihren Teller, stocherte darin herum und benahm sich, als wären alle Luft.
Ja, das tat gut, sich vorzustellen, alle wären gar nicht da.
Aber dann siegte ihre Neugier. Sie schaute sich um und erkannte, dass die Kinder in zwei Gruppen aufgeteilt waren. Warum hatten die Kinder dort drüben nur Obst auf ihren Tellern? Und warum schauten die so komisch herüber? Egal, sie stocherte wieder in ihrem Essen herum. Den Gedanken, es könne sich in Luft auflösen, hatte sie inzwischen aufgegeben.
Irgendwann kam eine der Schwestern und trug die Teller ab. Nur ihren nicht, und den eines der Mädchen auf der anderen Seite. Ratlos blieb Anne sitzen und sah auf ihren vollen Teller. Was würde jetzt passieren? Nach einer ewig langen Zeit, kam die Schwester wieder und sagte zu ihr, sie würde so lange sitzen bleiben müssen, bis sie ihren Teller leergegessen habe. Sonst bekäme sie keine Post von ihren Eltern, auch nicht von jemand anderem. Sie dürfe dann auch nicht nach draußen zum Spielen, und es gäbe keinen Kuchen am Nachmittag.
Anne hörte entsetzt zu und schon wieder wabberte die Wut glutheiß in ihr hoch, erstickte alles, was sie sagen wollte, machte sie atemlos, jeden Gedanken zum Messerstich. Keine Post von zu Hause! Keine Post von ihrer geliebten Oma, die ihr fest versprochen hatte, ein Mal pro Woche ein Päckchen zu schicken?
Was fiel denen ein, sie zu bestrafen? Das waren Fremde! Sie würde abhauen von hier, ja, heute abend, dann könnten sie sehen was sie angestellt hatten. Und ihre Eltern erst! Die würden nach ihr suchen und bereuen, dass sie sie weggeschickt hatten! Die waren Schuld, wollten sie doch bloß loswerden! Außer sich vor Wut, drehte sie den Kopf nach links und blickte direkt in ein paar blaue, traurige Augen.
Da saß ein Mädchen, dessen Teller auch nicht abgeräumt worden war und beobachtete sie. Was hatte die so herüberzustarren? Blöde Kuh! Anne war immer noch wütend.
Das Mädchen stand auf und kam zu ihr herüber. Sie wunderte sich, dass diese überhaupt hier sein musste, so dick wie sie war.
„Bist du neu hier?“, fragte das Mädchen. Anne zog es vor, auf eine so dumme Frage nicht zu antworten. Sie war noch völlig verwirrt.
„Musst du auch hier sitzen bleiben?“ Noch so eine doofe Frage, allmählich ging sie ihr auf die Nerven, so frech, wie sie da vor ihr stand.
„Weißt du, ich habe so einen Hunger. Ich hasse Obst. Jeden Tag gibt es Obst oder nur Salat! Nie kriege ich einen Kuchen, so wie ihr. Hast du es gut, du darfst wenigstens essen, was du willst.“
Anne war baff. Sie schaute sich das Mädchen genauer an. Das konnte sie nicht verstehen. Eine, die nach Essen jammerte!
Langsam begriff sie: deshalb wurden hier zwei Gruppen gebildet! Hier waren die Dicken und da die Dünnen – plötzlich hatte sie eine tolle Idee...
„Hmmm, schmeckt das lecker!“ Das Mädchen verdrehte ihre Augen vor Begeisterung und verschlang die große Portion geradezu. Anne machte es Spaß, ihr dabei zuzuschauen. Ihr Zorn wich der Faszination.
Immer wieder schaute sie sich um, ob nicht eine der Schwestern aus der Küche zu ihnen herüberkäme, denn irgendwie war ihr klar, dass das, was sie hier taten, nicht richtig war. Aber die waren mit dem Abwasch beschäftigt.
„Ich kann nicht mehr!“, sagte das Mädchen und schob stöhnend den Teller beiseite. In Anne arbeitete es. Das bisschen, das noch auf dem Teller lag, konnte man ja in eine Serviette einwickeln, es würde keiner merken. Und dann ab in die Toilette – oder vielleicht, na ja, vielleicht - ein wenig davon probieren. Dem Mädchen hatte es ja auch geschmeckt. Die saß jetzt wieder auf ihrem Platz und biss fröhlich in ihren Apfel.
Als die Schwester kam, war Annes Teller leer gegessen. Vorsichtig schaute sie um sich.
Sie hatte Hilfe bekommen und ein wenig hatte sie auch selbst geschafft. Morgen würde sie es wieder so machen.
Sie wollte gerade aufstehen, als plötzlich die Schwester wieder vor ihr stand und einen neuen, fast vollen Teller vor sie hinstellte:
„Das isst du dieses Mal aber selbst auf, ich habe euch beobachtet.“
Mit energischen Schritten entfernte sich die Schwester wieder in Richtung Küche.
Völlig perplex schaute Anne zuerst auf ihren Teller, dann hinüber zu dem Mädchen. Die schaute genauso erschrocken zu Anne herüber, aber dann - ganz unvermittelt fing sie an zu kichern, ein Kichern, das immer lauter wurde und in einem, fröhlichen Lachen endete.
Verdutzt blickte Anne in deren gerötetes Gesicht mit den blitzenden Augen. Dann konnte nicht anders, sie musste mitlachen. Sie wusste nicht genau warum, aber sie lachte so laut, dass ihr die Tränen herunterliefen.
„Kommst du bald nach draußen zum Spielen?“, keuchte das Mädchen vor einem neuerlichen Lachanfall. „Ich heiße Beatrix!“
Anne schaute dem Mädchen nach und dann auf ihren Teller. Die letzten Lachgluckser klangen noch in ihrem Kopf nach. Dann wurde sie wieder ernst.
Jetzt würde ihr keiner mehr helfen. Das hier musste sie allein schaffen. Sie dachte an Beatrix, deren Hunger und ihr lachendes Gesicht. Sie dachte daran, dass sie ihre Freundin werden und sie den ganzen Tag zusammensein könnten. Und plötzlich löste sich der Knoten, der den Hunger abgewürgt hatte, löste sich ihre Angst vor dem Essen, und auch die vor den nervigen Blicken. Sie schaute auf ihren Teller, der jetzt fast leer war. Noch ein bisschen, und sie könnte nach draußen gehen, zu Beatrix.
Als die sechs Wochen um waren und sie von ihren Eltern abgeholt wurde, hatte sie genau 500 Gramm zugenommen. Sie aß zwar, nahm aber nicht weiter zu. Ihre Mutter war nicht mehr so traurig und es beobachtete sie auch keiner mehr beim Essen.
Es schien alles in Ordnung, das musste ja auch so sein, denn sie war in einem Kinderheim gewesen.
Was keiner wusste war, dass Anne immer an ihre hungrige Freundin denken musste. Sie war der Motor dafür, dass sie keine Qualen mehr beim Essen hatte.
Leider hatte sie damals, beim Abschied ihre Adresse nicht aufgeschrieben.
Es war ein paar Monate später, als sie an einem Samstagmorgen zum Brötchenholen ging. Ganz in Tagträumereien versunken, blickte sie auf und sah in der flirrenden Sommermorgensonne ein Mädchen, etwas dick, mit blonden, aufgebundenen Haaren, die auf dem Gehweg entlang wippte.
Ihr Herz machte einen gewaltigen Sprung, aber sofort sagte sie sich, dass es niemals sein könne, ihre Freundin ausgerechnet hier zu sehen. Sie wusste von deren Erzählungen, wie weit entfernt sie voneinander wohnten.
Angestrengt starrte sie auf das Mädchen vor sich und ihre Gedanken rasten. Könnte es sein, dass???
Anne nahm allen Mut zusammen und rief: „Beatrix! Beatrix!“, zuerst zögernd, dann ziemlich laut. Aber das Mädchen reagierte nicht, es lief einfach weiter.
„Beatrix!!!“ Das Mädchen drehte sich um, aber es war nicht Beatrix. Anne bückte sich und tat, als wäre etwas mit ihrem Schuh. War das peinlich! Sie hatte einem völlig fremden Mädchen hinterhergerufen! Verlegen drehte sie den Kopf in eine andere Richtung und ging weiter.
Verwirrt und enttäuscht kam sie zu Hause an. Als sie beim Essen saß, musste sie immer und immer wieder an die Zeit mit Beatrix denken. Mechanisch aß sie ihr Brötchen auf.
Und genauso mechanisch ging sie anschließend zur Toilette und steckte sich den Finger in den Hals, so wie sie es sich, seit sie wieder zu Hause war, angewöhnt hatte.