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Home-Office
Daniel arbeitete seit drei Monaten im Home-Office, als sein Chef nachts in seinem Schlafzimmer auftauchte. Das Erste, was er wahrnahm, war Andreas’ Aftershave: Sandelholz und ein Hauch von Bergamotte. Er schlug die Augen auf und sah seinen Vorgesetzten im Korbsessel vor dem Fenster. Der Radiowecker zeigte 03:36.
„Daniel“, sagte Andreas. „Wir müssen über deine KPIs reden.“
“KPI - was?”, murmelte Daniel und tastete nach seiner Brille. Ein Traum, dachte er, ich träume.
“Key Performance Indicators. Wir haben im Team-Workshop darüber gesprochen, erinnerst du dich?”
Daniel fand die Brille, zog sie auf und knipste die Nachttischlampe an. Andreas sah makellos aus wie immer: dunkelblauer, eng geschnittener Anzug, weißes Hemd, schwarze Loafer und ein seidenes Einstecktuch. Sein krauses Haar war straff zurückgegelt. Die obersten Hemdknöpfe waren geöffnet, der Teint dunkel. Er trug eine Mund-Nase-Maske mit einem kleinen Filteraufsatz und Einweghandschuhe. Er nimmt es wirklich ernst mit dem Infektionsschutz, dachte Daniel.
“Was machst du hier?”, fragte er.
“Es gibt Situationen, in denen man als Führungskraft das direkte Gespräch suchen muss.”
Daniel versuchte, sich aufzusetzen, aber sein Körper fühlte sich bleiern an. Eigentlich, dachte er, war es überfällig, dass der Typ auch in meinen Träumen auftaucht.
Andreas führte die Abteilung seit einem halben Jahr. Der Geschäftsführer hatte ihn direkt von der Uni abgeworben. “Extrem fähiger Mann”, sagte der alte Beck immer wieder, wenn Daniel ihn beim Rauchen auf der Feuertreppe traf. “Ist schon weit herum gekommen und gerade einmal 25 Jahre alt. Mit solchen Leuten können wir das Ruder rumreißen.” Und Andreas hatte frischen Wind in die Abteilung gebracht: Er hatte Zwischenwände einreißen und eine neue Sitzecke einrichten lassen, ein Kanban-Board aufgestellt, das kollegiale “Du” fürs komplette Stockwerk verkündet und auf Unternehmenskosten Lego-Steine bestellt. Der alte Beck war begeistert: “New Work!”, sagte er zu Daniel, während sie an ihren Marlboros saugten. “Das ist die Zukunft. Flache Hierarchien, kurze Produktionszyklen, schnelle Anpassung. Dinosaurier wie Sie und ich haben ausgedient.”
In den nächsten Wochen stülpte Andreas die Abteilung von innen nach außen. Es gab keine festen Arbeitsplätze mehr, keine Stellenbezeichnungen, keine Kernarbeitszeiten. “Wir schaffen Raum für neue Formen der Zusammenarbeit”, erklärte er. Fortan war jeder Mitglied in mehreren kleinen Teams. Eines sollte sich neue Produkte ausdenken, ein anderes erarbeitete Vorschläge zur Optimierung der Workflows und wieder ein anderes beschäftigte sich mit der abteilungsinternen Kommunikation.
Niemand war ernsthaft überrascht, als Walter Schmitt aus der Buchhaltung kurz darauf von einem Herzinfarkt niedergestreckt wurde. Seine Tochter fand ihn nach zwei Tagen am Küchentisch. Schmitt war seit 24 Jahren in der Abteilung gewesen. “Ein tragischer Verlust”, sagte Andreas. Für die Beerdigung gab er der ganzen Abteilung einen Tag frei. “Das brauchen wir, um uns zu verabschieden.”
Daniel ging nicht zur Beerdigung. Stattdessen sah er sich Angriff der Körperfresser auf DVD an und trank Bier. Am nächsten Tag lud Andreas ihn zu einem Spaziergang ein. “Ich bin menschlich enttäuscht, Daniel”, sagte er. “Das Team hätte dich gestern gebraucht.” Daniel wusste nicht, was er antworten sollte. In den zwölf Jahren, in denen sie zusammen in der Abteilung gearbeitet hatten, hatte er kaum mehr als zehn Sätze mit Walter Schmitt gewechselt. Der Mann hatte ihn einfach nicht interessiert. Aber das konnte er Andreas nicht sagen. Deshalb log er und sagte, dass er es nicht fertig brächte. Dass Schmitts Tod ihn aus der Bahn geworfen hätte. Andreas hörte zu, nickte ein paar Mal und umarmte ihn schließlich. "Nimm dir den Rest der Woche frei", sagte er.
Dann war Corona gekommen. Seit Mitte März arbeitete die ganze Abteilung von zuhause. “Gesundheit geht vor Profit”, erklärte Andreas. Daniel räumte eine Ecke des Küchentischs für seinen klobigen Laptop frei. In den täglichen Videokonferenzen fragte Andreas sie, wie es ihnen ging. Ihren Familien. Ihren Haustieren. Er war so verdammt empathisch. Daniel wollte kotzen. Irgendwann beschloss er, dass ein Bier zu Mittag in Ordnung war. Dann zwei. Dann hörte er auf zu zählen.
Der Radiowecker zeigte jetzt 03:37.
„Daniel, ich will ganz offen sein“, sagte Andreas und beugte sich vor. „Deine Zahlen sind miserabel. Du weißt, dass ich dich als Mensch schätze. Du erinnerst mich an meinen Vater. Aber als Abteilungsleiter muss ich auf die Zahlen schauen.”
Er ist mitten in der Nacht in mein Schlafzimmer gekommen, um mich abzumahnen?, dachte Daniel. Hätte er das nicht morgen früh machen können, über Zoom?
“Keine Abmahnung”, sagte Andreas, als könnte er Daniels Gedanken lesen. “Ich weiß, was wir dir schuldig sind.”
Daniel wollte sich aufrichten, aber sein Körper gehorchte ihm nicht. Alles, was unterhalb seines Halses war, blieb wie festgenagelt auf dem Bett liegen.
“Warum bist du hier?”, krächzte er.
Andreas stand auf. “Ich glaube nicht an Abmahnungen und noch weniger an Kündigungen. Solche Maßnahmen sind ein Zeugnis mangelnder Wertschätzung.“ Er zog eine kleine, mit einer farblosen Flüssigkeit gefüllte Spritze aus seiner Aktentasche und entfernte den Sicherheitsverschluss. “Durch eine Kündigung würde ich dich aus unserem Unternehmen - aus unserem Team - ausschließen. Das hast du nicht verdient.”
Am folgenden Mittwoch hatten alle Kollegen frei.