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Hoffnung
Hoffnung - Überarbeitete Fassung
Völlig durchnässt stand ein junger Mann vor der elterlichen Haustür.
Das Regenwasser perlte von seinen langen Haaren auf die Schultasche ab und T-Shirt sowie Jeans klebten an seinem Leib.
Durch ein Grummeln machte sich ein aufziehendes Gewitter bemerkbar.
Der junge Mann öffnete mit seinem Schlüssel die Tür und trat ein. Jeder seiner Schritte wurde von einem dumpfen, matschigen Geräusch begleitet. Hätte er seine Schuhe jetzt ausgewrungen, er hätte damit ein Waschbecken füllen können.
Bevor er die Haustür hinter sich schloss, schweifte sein Blick in Richtung Himmel, dessen dunkle, düstere Wolken auf ihn bedrohlich herabzuschauen schienen.
Mit dem Geruch sommerlicher Nässe in der Nase zog er seine Turnschuhe aus, legte seinen Rucksack beiseite und begab sich in die Küche.
Er stutzte. Kein "Hallo", kein "Wie war die Schule?". "Was ist los?" dachte er mit grüblerischer Miene, aber die Erklärung sollte so plausibel wie ernüchternd sein. Auf der Küchenarbeitsplatte fand er folgende Notiz:
"Uns war das Wetter zu schlecht, wir sind das Wochenende über auf
Hawaii. Auf dem Esstisch liegen 100€, lass es dir gut gehen."
Sie hatten ihn schon wieder alleine gelassen. Es war so typisch für seine Eltern - „Es tut uns Leid. Das kommt nicht wieder vor.“, hatten sie ihm versprochen. Und nun? – Das gleiche Spiel.
Schmerzhaften Erinnerungen stiegen in ihm auf, wie schon so viele Male zuvor.
Obwohl dieser Herzschmerz für ihn so gewöhnlich sein sollte, wie für andere eine zärtliche Umarmung der Mutter oder ein anerkennendes Schulterklopfen des Vaters, verspürte er wiedereinmal eine unheimliche und quälende Leere in sich.
Da waren die Probleme in der Schule, dann das Mädchen, das er abgöttisch liebte, aber nie, das stand für ihn fest, seine Zuneigung erwidern würde. Sein kürzlich verstorbener Hund, den er mehr als Freund sah, denn als Hund und ihn auch so behandelte. Er sprach mit ihm über alles und verbrachte mit ihm seine Freizeit. Und schlussendlich seine Eltern.
Es war eine einseitige Liebe. „So nah und doch so fern.“ – Er wusste, wie kein anderer, was dieser Spruch bedeutete.
Er nahm den Zettel, zerknüllte ihn mit der rechten Hand und ballte sie zu einer Faust. Jeder Muskel in seinem Körper war angespannt.
Sein Gesicht zeigte komischerweise keinerlei Regung. Seine Augen dafür aber um so heftiger: Sie blitzten auf und er schien mit ihnen die Wand, die Küche und Esszimmer trennte, zu durchbohren.
Er drehte sich zum Fenster und schmiss den Notizzettel mit voller Wucht gegen die Scheibe. Im gleichen Augenblick schoss ein Blitz, begleitet von einem Donner, der einer Bombendetonation gleichkam, vom Himmel und spaltete einen nahegelegenen Baum.
In der Fensterscheibe war für den Bruchteil einer Sekunde sein Spiegelbild zu sehen.
Der Regen verstärkte sich, peitschte gegen das Küchenfenster. Ein Sturm zog auf, riss Sachen an sich und wirbelte diese spielend durch die Luft. Der Wind heulte gespenstisch, als weine er um jemanden, als wolle er eine Tragödie ankündigen.
Der junge Mann betrachtete aufmerksam die Reflexion seiner selbst im Fenster. Was draußen vor sich ging, schien ihn nicht sonderlich zu interessieren. Es war für ihn wie Hintergrundmusik.
Auf dem Küchenboden hatte sich mittlerweile eine kleine Pfütze um ihn herum gebildet, seine Socken waren klitschnass. Doch auch das schien er zu ignorieren. Vielmehr störte ihn, dass eine Haarsträhne seine Sicht beeinträchtigte. Er führte die Strähne sorgfältig mit der rechten Hand hinter selbiges Ohr.
Er trat näher an die Scheibe heran. Starrte auf seine Reflexion. Seine Gedanken waren simpel: "Was? Was ist es? Warum nur?"
Sein Magen knurrte. Er wandte sich vom Fenster ab, nahm eine Pizza aus dem Gefrierfach, stellte den Ofen auf 180 Grad Heißluft und schob die Pizza auf einem Backblech hinein. Die Küchenuhr stellte er auf zwölf Minuten, dann schlich er ins Wohnzimmer.
Über die Mattscheibe flimmerte irgendeine Talkratgebersendung. Er hatte es sich auf der sterilen schwarzen Ledercouch so bequem wie möglich gemacht und merkte wie seine Augenlider immer schwerer wurden. Er nickte ein.
In der Talksendung verabschiedete die Ratgeberin ihre Gäste:
"Immer mehr Jugendliche fühlen sich von ihren Eltern vernachlässigt.
Um das Problem zu lösen empfehle ich dir und deinen Eltern eine
Beratung aufzusuchen, denn ich kann euer Problem an diesem Tisch
hier und heute nicht lösen.
Vielen Dank."
Plötzlich riss ihn das Klingeln der Küchenuhr aus seinem kurzen Schlaf. Der Abspann der Sendung lief gerade. Verstört blickte er nach links wie rechts. "Scheiß postmoderne Kunst" war das erste, was ihm in den Sinn kam, als er die Bilder an den Wohnzimmer Wänden erblickte.
Die Pizza schien gut zu sein, er nahm sie aus dem Ofen, legte sie auf einem großen Teller ab, schnitt sie in etwa vier gleichgroße Teile und aß sie dann genüsslich im Wohnzimmer.
Nach dem Essen spülte er den Teller ab und gerade als er ihn in die Spülmaschine räumen wollte, rutschte er ihm aus der Hand und zersprang in tausend kleine Teile, so schien es zumindest.
Er schaute auf die Scherben herab. Es war still im Haus. Nur draußen tobte der Sturm. Er sah Richtung Wohnzimmer: Nichts außer dem Lichtschein des Fernsehers, der sich auf Stummschaltung befand, weil er die Werbung nicht ertragen konnte. Dann sah er Richtung Flur: Ebenfalls nichts. Nur das Dunkel und eine gespenstische Stille. Seine Augen wirkten traurig, er selbst wie versteinert.
Das Geräusch des Staubsaugers riss ein Loch in die Stille. Die kleinen Scherben schlugen mit einem metallischen "Kling, Kling" gegen das Innere des Staubsaugerrohrs. Auf irgendeine Art und Weise wirkte es wie Musik in seinen Ohren.
Er schaltete den Staubsauger aus. Stille. Eine merkwürdige Bedrohung schien von der Stille auszugehen oder bildete er sich das nur ein? Es lief ihm ein kalter Schauer den Rücken hinunter.
Das Wasser war angenehm warm. Er liebte es, zu duschen. Als er aus der Dusche trat wurde er sofort von einer eisigen Kälte umarmt. Er griff nach seinem Handtuch und begann sich abzutrocknen. Er rubbelte sich gerade die Haare trocken, als sein Blick zufällig in den Spiegel fiel.
Er nahm sein Spiegelbild mit einer noch nie dagewesenen Intensität wahr. Sein Blick war nicht wie sonst Subjektiv, nein, ganz im Gegenteil, es kam ihm so vor, als schaue er durch die Augen eines Fremden, die ihm eine gewisse Objektivität verliehen.
Das Handtuch glitt zu Boden. Er stand vor dem Spiegel wie Gott ihn geschaffen hatte. Sein Blick wanderte von oben nach unten und wieder zurück. Mit den Händen strich er sich durch die Haare, dann übers Gesicht - Er konnte nichts ungewöhnliches feststellen, außer den Wunden, die er sich selbst beim Ritzen zugefügt hatte. "Aber warum dann nur? Wieso?"
Er war kein Wunschkind, dass wusste er. Vielmehr war er ein Unfall. Eine Unachtsamkeit seiner Mutter.
Aber hatten ihm seine Eltern nicht mehr als einmal gesagt, dass sie ihn liebten? „Wir können uns ein Leben ohne dich nicht mehr vorstellen.“, hatten sie ihm versichert.
War alles nur eine Lüge?
„Warum?“, „Wieso?“ - Er stellte sich immer wieder die gleichen Fragen. Und er schien zunächst auch keine Antwort darauf zu finden, bis er tief in die Augen seines Abbildes blickte. Dann nickte er urplötzlich, als bestätige er etwas, als hätte er die Antwort gefunden, die er suchte, als verstehe er.
Er öffnete die Badezimmertür. Schwaden heißer Luft strömten in den kalten Flur. Alles wirkte auf einmal wie ein vernebeltes Moor.
Er zog seinen schwarzen Armani Anzug an. Auf feierlichen Anlässen musste er ihn immer tragen, seine Eltern wollten das so. Er hasste diesen Anzug, tat seinen Eltern aber gerne diesen Gefallen.
Vor dem Spiegel band er noch die Krawatte, machte sich einen Zopf ins Haar und begab sich dann entschlossen in das Schlafzimmer seiner Eltern.
Er wusste, wo sein Vater die Pistole, eine USP .45 Tactical, versteckt hatte. Schließlich hatte er sie seinen Schulkameraden schon oft gezeigt, um Eindruck zu schinden. Genutzt hatte das nicht viel. Freunde hat er dadurch nicht gefunden. Er war immer der unbeliebte Außenseiter gewesen und daran, so schien es, sollte sich auch nie etwas ändern.
In der rechten Hand hielt er die Pistole, in der Linken die Patronen.
Er hatte nie verstanden, warum seine Eltern ihn nicht in das Gästezimmer haben ziehen lassen. Es war doch wesentlich größer. Er schob seinen Lieblingssessel vor sein Zimmerfenster und machte es sich bequem. Dann lud er das Magazin der Pistole. Kugel für Kugel. Es klackte, als das Magazin im Griff der Pistole einrastete. Er zog den Schaft nach hinten - der Abzug war gespannt, die Waffe scharf.
Er atmete tief durch.
Dann steckte er sich den Lauf der Pistole in den Mund.
Seinen Augen strahlten, er lächelte.
Er hatte sich schon oft ausgemalt, wie das Leben nach dem Tod wohl wäre. Er hatte sich ausgemahlt, wie seine Eltern um ihn trauerten und sich eingestanden, dass sie einen riesigen Fehler begangen hatten.
Er hatte sich auch ausgemalt, was im Jenseits auf ihn wartete, was ihm bestimmt zu Teil werden würde: Zuneigung, Liebe... alles was ihm hier verwährt geblieben war.
Er schloss die Augen.
"PENG!"
Stille.
Das Fenster war getränkt mit Blut. Langsam lief es die Scheibe in einzelnen Tropfen hinunter.
Seine Arme hingen rechts und links regungslos über den Lehnen des Sessels, sein Kopf, leicht links geneigt, über dem Brustkorb.
Die Waffe war zu Boden gefallen.
Stille.
Plötzlich stoppte der Regen. Der Sturm hörte auf zu heulen, durch die dunklen Wolken brach ein Sonnenstrahl, dass es so wirkte als reiße dieser ein riesiges Loch in die Mauer der Finsternis.
Der Strahl fiel genau in das Zimmer, das nun in ein schönes Rot getaucht war.
Draußen leuchtete in kräftigen Farben ein Regenbogen. Das Wetter klarte auf. Vereinzelt fingen Vögel an zu zwitschern und glitzernde Regentropfen perlten von Blättern und Grashalmen ab.
Zwei Tage später kamen die Eltern des Jungen Mannes wieder nach Hause.
Die Mutter öffnete die Haustür, dem Vater stieg zuerst der Gestank in die Nase, den er nicht zuordnen konnte.
Er ging ins Wohnzimmer, seine Frau in das des jungen Mannes.
Durch einen markerschütternden Schrei aus seinen Überlegungen, woher dieser eklige Geruch stammen könnte, gerissen, rannte der Mann zu seiner Frau.
Er brach weinend zusammen. Kroch auf Knien zu seiner Frau, die die Leiche des Jungen im Arm hielt, und versuchte zu begreifen was geschehen war.
Er sah die Pistole, daneben lag ein Zettel:
"Auf dem Esstisch liegen 100€, lasst es euch gut gehen."
Der Mann umarmte seine Frau und vernahm ihr jämmerliches Wispern: "Was haben wir getan... was haben wir getan?!"