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Hinter dem Rhododendron

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21.12.2015
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Hinter dem Rhododendron

Das kleine Einfamilienhaus mit dem schönen Namen „Hinter dem Rhododendron“ stand schon seit ein paar Jahren leer, sehr zum Ärger der Nachbarn links und rechts. Mit Unmut registrierten sie, wie sich der einst gepflegte Rasen allmählich in ein Unkrautfeld verwandelte und zu einem Müllabladeplatz für die Jugendlichen wurde, die hier ihre abendlichen Treffen abhielten. Das schmiedeeiserne Pförtchen zum Vorgarten hing schräg in den Angeln und schlug bei Sturm gegen den Zaun mit seinen abgebrochenen Staketen. Um so üppiger blühten die englischen Kletterrosen um die weißen Säulen der kleinen Veranda, von der aus zwei ebenfalls weiß gestrichene Sprossenwände zur Verandatür führten. Zu den Grundstücken der Nachbarn hin waren einmal Rhododendronhecken als Sichtschutz gepflanzt worden. Doch zeigten sie wegen mangelnder Pflege einige Lücken, so dass eine Katze oder ein Kind jederzeit durchkriechen konnte.

Nun also gab es neue Bewohner in der Bürgerwehrstraße. Ein älteres, deutschstämmiges Ehepaar aus den USA, hörte man, habe das Anwesen gekauft. Ein neues Messingschild am reparierten Gartentor verkündete in zierlicher Schreibschrift die Namen: Jonathan und Gesine Boisenberg.
„Boisenberg, Boisenberg, der Name sagt mir was, ich komm' nur nicht drauf.“
Frau Winkler, die Nachbarin von links, rückte die kleinen Scheibengardinen wieder zurecht, hinter denen sie an einem Nachmittag im späten April die Ankunft des Möbelwagens beobachtet hatte.
„Keine Ahnung.“ Frau Gutmann, die Nachbarin von rechts, trank ihren Kaffee aus und stand auf. „Ihr wohnt schon länger hier. Hauptsache, es passiert jetzt was mit dem Schandfleck. Wenigstens ist der Müll weg.“
„Ich glaub', ich frag mal auf dem Pfarramt nach, die führen doch so was wie eine Ortschronik. Es lässt mir einfach keine Ruhe.“

Auch die zahlreichen Kinder aus der Straße waren neugierig. Ungeniert stellten sie sich am Zaun auf und beobachteten die Männer im blauen Anton, wie sie Möbel, Lampen und Teppiche ins Haus schleppten. Weder ein älterer Herr, noch eine ältere Dame ließ sich sehen. Enttäuscht von der Ereignislosigkeit dieses Einzugs verzogen sich die Kinder wieder auf ihren Spielplatz und die Hausfrauen an den Herd, um das Abendbrot zu richten.
Kurz vor Mitternacht fuhr ein Mercedes vor. Der leise tuckernde Dieselmotor lockte Jörg, Winklers vierzehnjährigen Sohn, ans Fenster, nachdem er noch schnell sein Computerspiel ausgeschaltet hatte. Im spärlichen Licht der Straßenlaterne beobachtete er, wie ein hagerer Mann mit schütterem Haar ausstieg und die Haustür öffnete. Dann hob der neue Nachbar ein längliches Bündel aus dem Wagen und trug es, leicht nach vorne gebeugt, mit großen Schritten ins Haus. Von den Maßen her hätte das Bündel eine in Decken gehüllte Statue oder Person sein können. Herr Boisenberg schien leise auf sie einzureden. Mehr konnte Jörg nicht erkennen. Immerhin war es genug für ihn, um noch die eine oder andere SMS an seine Freunde loszuschicken.

Wenige Tage später bearbeitete ein Gärtner die verwahrloste Wiese ums Haus, zuerst mit der Sense, dann mit einem elektrischen Rasenmäher und zuletzt mit einem Moos vertilgenden Spritzmittel. Ringsum atmeten alle auf, denn nun war klar, dass in die Straße das normale Leben einer anständigen Vorstadtsiedlung zurückgekehrt war.
Auf der kleinen Veranda wurden zwei Korbstühle aufgestellt, dicht an dicht, der eine davon so unter die Rosenranken geschoben, dass die Sonne flimmernde Muster auf die blauen Kissen warf. Gegen Abend kam Herr Boisenberg mit einer Zeitung in der Hand und nahm Platz. Der zweite Stuhl blieb leer.
Nun hielt es Frau Winkler nicht länger aus. Schon gleich, nachdem Jörg von der nächtlichen Ankunft erzählt hatte, war ihr die Idee von einem Antrittsbesuch gekommen. Mit einem Laib Brot und einem Säckchen Salz bewaffnet, näherte sie sich dem Gartentor der Boisenbergs.
„Darf ich Sie einen Moment stören?“, rief sie und stand schon vor der Veranda. Herr Boisenberg ließ die Zeitung sinken und hob die Augenbrauen.
„Meine Frau ist sehr leidend und nicht in der Lage, Besucher zu empfangen. Sie hat sich schon zurückgezogen.“
„Oh, entschuldigen Sie. Ich wollte Sie nur kurz willkommen heißen und Ihnen sagen, wie froh wir alle in der Straße sind, dass das Haus wieder bewohnt wird. Sagen Sie Ihrer Frau … also wir wohnen nebenan und Sie können jederzeit mit unserer Hilfe rechnen.“
„Danke.“ Der alte Herr nahm seine Zeitung wieder auf. Seine Hände zitterten. Er machte keinerlei Anstalten, aufzustehen oder gar einen Platz anzubieten.
Ganz schön hochnäsig, dachte Frau Winkler, einen so abblitzen lassen! Ich muss unbedingt aufs Pfarramt. Zu blöd, dass ich mich nicht erinnern kann. Schade, dass ich die Schwiegereltern nicht mehr fragen kann. Die wüssten vielleicht was über dieses Haus.

„Merkwürdige Leute sind das, irgendwie … anders.“ Immer wieder brachte sie beim Abendessen das Thema zur Sprache.
„Du hättest sie ja auch nicht gleich überfallen müssen. Mein Gott, lass sie doch in Ruhe, Hauptsache, wir bekommen keine Scherereien mit ihnen.“
„Aber es ist ein alter Brauch, noch von meiner Mutter her. Wir haben immer Brot und Salz gebracht. Ich erinnere mich, dass ...“
„Das war vielleicht auf dem Land so, hier in der Straße hat man Abstand gehalten und sich nicht mit jedem eingelassen. Ich will das nicht.“
„Das kapier' ich nicht. Du bist doch auch jedes Jahr bei unserem Straßenfest dabei. Es ist mir nicht aufgefallen, dass du dabei auf besonderen Abstand Wert legst.“
Die Kinder grinsten und stießen sich unter dem Tisch mit den Füßen.
„Das stimmt, Papi.“
„Schluss jetzt damit. Ihr nervt mich.“
„Deswegen musst du doch nicht gleich so heftig werden. Was ist denn in dich gefahren?“
Herr Winkler schnappte sein Bierglas und verzog sich ins Arbeitszimmer, wo er sofort den Sportkanal seines kleinen Fernsehers einschaltete.

Als das Wetter sommerlich schön wurde, kam auch Frau Boisenberg zum Vorschein. Sie musste wirklich gebrechlich sein, denn nicht ein einziges Mal war es ihr möglich, die wenigen Schritte zum Korbstuhl oder ins Haus zurück allein zu bewältigen; immer wurde sie behutsam getragen. So saß sie einige Stunden lang verborgen unter den Rosen. Ein lindgrüner Sonnenschirm mit weißen Streifen schützte sie zusätzlich vor neugierigen Blicken. Herr Boisenberg kümmerte sich rührend um sie, zupfte immer wieder den Kaschmirschal zurecht und legte ihr eins ums andere Mal eine gerade aufgeblühte Margerite oder einen Stängel Rittersporn auf den Schoß. Von den Nachbarn nahm er keine Notiz.

Frau Winkler schob das Bügelbrett näher ans Küchenfenster. So konnte sie besser mitverfolgen, was auf der Straße und bei den Nachbarn los war.
„Soll ich dir was verraten, Mama? Soll ich dir verraten, was der Boisenberg zu seiner Frau gesagt hat?“
„Was hat er denn gesagt, Benni?“ Frau Winkler sah ihren Jüngsten skeptisch an. Sie kannte die Neigung des Zehnjährigen zum Flunkern.
„Nun wird ja alles gut. Sieh doch nur, Gesine, genau wie auf den Bildern unserer Eltern, siehst du, ich habe es dir versprochen, und ich halte meine Versprechen.“
Frau Winkler schüttelte den Kopf.
„Und woher weißt du das so genau?“
„Da gibt es doch die Lücke in der Hecke. Wir sind da früher immer durch. Er sagt immer denselben Satz, Mama.“
„Also wirklich, eigenartige Leute sind das auf jeden Fall. Und du, Benni, bleibst mir von drüben weg. Ich glaube nicht, dass sie Kinder besonders mögen. Papa will sowieso keinen Kontakt mit denen.“
Frau Winklers Anruf auf dem Pfarramt hatte keinen Erfolg gebracht. Der Name Boisenberg stand nicht im Taufregister. Weitere Nachforschungen wagte sie nicht. Sie kannte ja die Vorbehalte ihres Mannes.

Bennis große Leidenschaft war Fußball. Meistens tobte er mit ein paar Jungen auf dem Bolzplatz neben der Schule herum. Wenn sich niemand fand, kickte er eben im Garten oder immer wieder gegen das Garagentor. Das brachte seine Mutter gewaltig auf die Palme. Sie wartete täglich darauf, dass Herr Boisenberg sich über das nervtötende Ballern beschweren käme. Als nichts dergleichen passierte, dehnte Benni seine fußballerischen Experimente weiter aus. Er übte jetzt hechten und fangen, sowie ein- und zweihändig fausten. Keeper war seine Lieblingsposition auf dem Platz.
„Du hörst jetzt damit auf, oder ich schick' dich zum Unkraut jäten. Und die Mülltonnen stehen auch noch immer an der Straße.“
Frau Winkler nahm gerade die trockene Wäsche von der Leine und blinzelte in Richtung Boisenbergs Haus. Sie sah, wie er die Verandatür hinter sich schloss, und hörte ihr Telefon klingeln. Also doch eine Beschwerde!
„Gleich, Mama, gleich. Nur noch ein Versuch.“
Benni nahm Anlauf und legte seine ganze Kraft in den finalen Schuss. Der Ball prallte zurück, und Benni lenkte ihn mit beiden Fäusten in hohem Bogen auf die Veranda der Boisenbergs. So ein Mist! Er hörte ein Krachen und Knirschen und einige Sekunden später einen entsetzten Aufschrei.
Benni wäre am liebsten abgehauen. Aber er musste unbedingt den Ball zurückholen und außerdem war er ja kein Feigling. Also kroch er durch die Lücke in der Hecke, um nach dem Schaden zu sehen.

Frau Boisenbergs Korbstuhl war umgekippt und hatte dabei ein Abstelltischchen mit Saftgläsern umgerissen. Die Scherben lagen überall herum. Eine rote Flüssigkeit sickerte in die Fliesenfugen. Herr Boisenberg hielt sich eine Hand, von der etwas Blut tropfte. Er starrte auf die gekrümmte Gestalt auf dem Boden. Als Benni sich bücken wollte, um der Frau aufzuhelfen, schrie ihr Mann: „Geh weg! Geh weg! Fass' ja nichts an!“ und stieß ihn schnell zur Seite. Aber nicht schnell genug. Benni hatte genügend Horrorfilme gesehen, um sofort zu erkennen: Unter den verrutschten Tüchern verbarg sich ein zerbrochenes, menschliches Skelett.
Benni gehorchte sofort, klemmte seinen Fußball unter den Arm und rannte zu seiner Mutter.
„Es ist eine Leiche, Frau Boisenberg ist eine Leiche, Mann o Mann, ist das gruselig.“
Frau Winkler musste ihm erst einmal ein paar Globuli zur Beruhigung geben. Dann ließ sie sich alles genau schildern.

Lange noch, nachdem Notarzt und Polizei mit den Überresten Gesines und ihrem völlig verzweifelten Bruder abgefahren waren, standen die Nachbarn vor Boisenbergs Haus zusammen.
„Die sind Geschwister. Habt ihr das gewusst?“
„Aber warum haben sie uns das verheimlicht?“
„Wieso verheimlicht? Wir haben halt einfach angenommen, dass sie verheiratet sind.“
"Na ja, wegen dem Namensschild. Da denkt man eben nicht weiter darüber nach.“
„Hat jemand mal mit dem Alten gesprochen?“
„Die haben doch niemanden ins Haus gelassen. Jedenfalls hat es die Winkler so erzählt.“
„Also, der Mann ist doch wohl krank. Das ist ja wie in der 'Wendeltreppe'."
„Was denn für eine Wendeltreppe?“
„Wie bitte, du kennst den Hitchcock-Film nicht?“
„Hallo, ich glaube, du verwechselst da was. Du meinst 'Psycho'."
„Ist ja egal. Ich hab' da neulich von einem ganz ähnlichen Fall gelesen, also der hat ...“
„Da fällt mir ein, Kino wäre nicht schlecht. Wer hat am Wochenende Lust dazu? Und um das Sommerfest sollten wir uns endlich auch kümmern. Wer geht noch mit auf ein Bier?“
Und so bekamen die Alltagsthemen allmählich wieder die Oberhand.

Im Hause Winkler herrschte eine gedämpfte Stimmung. Herr und Frau Winkler beteiligten sich nicht an den Diskussionen vor dem Haus. Benni ging freiwillig früher nach oben in sein Zimmer. Angst habe er keine, aber es sei schon noch was anderes, ein echtes Skelett zu sehen, sagte er zu seinem Bruder.
„Du kannst die Tür auflassen. Ich hör dich ja dann, wenn etwas ist.“
Jörg klopfte ihm abwesend auf die Schulter und zog sich in seine Computerwelt zurück.
Die Eltern verbrachten einen schweigsamen Abend. Erst viel später, als beide keinen Schlaf finden konnten, drehte Herr Winkler sich im Dunkeln zu seiner Frau herum und suchte nach ihrer Hand. Er räusperte sich und musste zweimal zum Sprechen ansetzen.
„Ich … ich hab' gewusst, wer die Boisenbergs sind. Meine Großeltern haben den Namen öfter genannt, als sie sich um den Kauf des Hauses bemüht haben. Da war ich noch ein ganz kleines Kind. Die Boisenbergs waren Juden. Soweit ich weiß, sind sie noch rechtzeitig in die USA emigriert. Aber das Haus konnten sie nicht mehr verkaufen.“
„Wer hat es dann bekommen?“
„Meine Großeltern. Aber sie haben es schnell wieder weiterverkauft. Mit dem Geld haben sie dann unser Haus gebaut.“
„Wieso hast du mir nie etwas davon erzählt? Spätestens dann, als die Boisenbergs eingezogen sind?“
„Ja und dann? Glaubst du, der alte Mann hätte mit irgendeinem aus der Straße was zu tun haben wollen? Schon gar nicht mit uns. Der wusste doch, wer damals hinter dem Haus her war.“
„Ja, wahrscheinlich hast du Recht. Jetzt ist es sowieso zu spät. Aber ich finde, mit den Kindern sollten wir schon mal ausführlich reden. Das sind wir ihnen schuldig. Und ihm auch. Oder bist du anderer Meinung?“
„Ich weiß nicht. Ich muss erst einmal darüber nachdenken. Wird nicht ganz einfach. Ich hab' auch nie mit meinen Eltern darüber gesprochen. Jetzt muss ich schlafen. Gute Nacht.“

Einige Wochen später verkündete Jörg beim Grillen im Garten:
"Hi Dad, wir haben ein neues Projekt in der Schule. Unsere Straße früher und heute. Was wissen wir darüber? Fotos und so. Ihr helft mir doch dabei, oder?"

 
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es rührt mich wirklich, dass du dich noch einmal so ausführlich mit meinen Text befasst hast.
wat mut, dat mut [wat mut dat mut], zu nhd. "was muss, das muss",

liebe wieselmaus.

War öfters im Schwarzwald, wenn auch seit '92 nicht mehr (und da war's nur ne Stippvisite auf'm Weg nach Strasbourg und Freiburg dachte ich bis gerade zu kennen ... Genau da in der Gegend war ich das erste Mal richtig verknallt. Das war, als Face to Face von den Kinks rauskam und ein Song war "Rosy", nun rate mal, wie das Mädchen hieß ...) - Nee, dann lass den Straßennamen stehen, denn den Häuslebesitzern hierorts sind Flüchtlingsunterkünfte direkt in der eigenen Nachbarschaft ein Gräuel (wegen der angebl. Wertminderung ihres Grund- und Bodens. Auf die Frage, ob sie gerade jetzt ihr Eigentum aufgeben wollen, erfolgt nur dummes Glotzen. Zwei versuchte Brandanschläge hierorts will ich den armen Leuten aber nicht unterstellen, da gibt's weitaus dümmere.) Ne Bürgerwehr ist hier ziemlich schnell eingebrochen ... i. S. von aufgelöst worden, auch mangels Masse.

Ich habe eine halbe Nacht über einen passenden Straßennamen gegrübelt und war so erfreut über meinen Geistesblitz, dass ich dann fröhlich eingeschlafen bin.
Soll dann auch so bleiben ...

Ganz grundsätzlich treibt mich schon die Frage um, wie weit man auf Änderunswünsche eingehen muss, um nicht als beratungsresistent zu gelten( siehe die derzeitige Forumsdiskussion).
Heißt es nicht, viele Köche - und wären es nur ihre Beiköche - verdürben den Brei? Aber abwägen muss man schon, wessen "Beigabe" zum Text passt, wie der Autor sich ihn selber vorgestellt hat.

Herzlichen Gruß aus der Wiege der Ruhrindustrie acht km nördlich der Ruhr und östlich vom Rhein, vom

Friedel

 

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