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Hindernisse
Xavers Hände hatten versagt. Mal wieder. Sie waren einfach zu weit entfernt von seinem Sprachzentrum. Xavers Zeigefinger zuckte, ohne Vorwarnung. Vielleicht war es auch gar nicht sein Zeigefinger. Wenigstens wehrte er sich nicht, als er ihn zusammen mit den anderen Schlawinern in Handschellen legte. Xaver beugte sich über den Schreibtisch, saugte den Bleistift an seinem hinteren Ende an, packte ihn mit den Backenzähnen und schrieb den ersten Gedanken nieder, der ihm in die Quere kam: „Der Zwang ist die Zangengeburt des Willens". Xaver hielt inne. Der Kardinalfehler beim automatic writing. Das wusste auch Xaver.
Er spuckte den Bleistift aus. Seine Hände juckten. Er ging mit ihnen durch die Gassen der alten Stadt und rasselte dabei mit der Kette, die die Schellen miteinander verband. Entgeisterte Passanten. Schrille Bilder. Ein Lärm aus Gedanken.
Xaver war froh, als er einen Freund traf, der eigentlich Schauspieler war, und sich gerade eine Auszeit nahm, um Karikaturen von Touristen zu zeichnen. In letzter Zeit würden seine Zeichnungen immer gegenständlicher, klagte der Freund, und sein Klagen klang in Xavers Ohren gespielt. Enweder er könne sich für die Rolle des Karikaturisten nicht mehr genügend begeistern - oder seine Motive trügen Schuld daran. Der Zeichner stach ein älteres Pärchen, das denselben Jogging-Anzug trug, mit wüsten Blicken auf und bat energisch um des Freundes Ohr. Er habe da einen Verdacht, den er - wenn überhaupt - nur flüsternd äußern wolle. Xaver näherte sich. Ob es in irgendeiner Weise zu bestreiten sei, dass DIE DA bereits Karikaturen seien? In letzter Zeit werde er nur noch von Karikaturen um Karikaturen gebeten. Er wolle sich da jetzt noch keinen Strick draus drehen, sei jedoch kurz davor. Xaver horchte auf. Auch er war gerade kurz davor gewesen. Kurz davor, sich für eine Pose zu entscheiden, die er einnehmen würde, wenn, ja wenn ihn sein Freund endlich auf die Handschellen anspräche. Doch das tat der Zeichner selbst dann nicht, als Xaver sich umständlich mit der Schulter die Nase kratzte.
Also ging Xaver weiter. Auf der Placa Major spielte eine Gruppe von Musikern, die er noch nie dort gesehen hatte und niemals wieder sehen sollte. Die Sängerin war eine hochaufgeschossene Brünette mit hoch ansetzendem Pferdeschwanz. Ihr Mund war von einem Streifen Klebeband verdeckt, durch den es sich schwer singen ließ. Dies schien jedoch weder sie, noch ihre Bandmitglieder, noch die Passanten zu stören, von denen die wenigsten stehen blieben. Vielleicht hätten sich die beiden helfen können. In dem Moment, in dem SIE IHN sah und sich seiner Lage bewusst wurde, wäre das wohl möglich gewesen. Schließlich wollten sie beide befreit werden. Doch der Gefesselte von der Geknebelten? Das wäre beiden zu kitschig gewesen.
Eine Reihe von Momenten war Händchen haltend ins Land gezogen, als Xaver sowohl seine Handschellen, als auch den Zwang, irgendetwas schreiben zu müssen, ablegte wie einen zerknitterten Hut. Er warf ihn aus dem Fenster, stieß die Türe auf und rannte auf die Gasse, um auch noch das letzte Leben aus ihm herauszutrampeln. Danach fühlte sich Xaver etwas freier. In etwa so frei wie ein Hofnarr, der gerade vom Hof gejagt wurde. Ein vogelfreier Hofnarr also. Jemand, den man quälen durfte, ohne dafür bestraft zu werden.
Eine Kutsche näherte sich. Sie wurde von einem schwarzen Hengst gesteuert, der mit einer langen Peitsche auf zwei vorgespannte Zigeuner einschlug.
Xaver rannte und floh, floh vor jedem Kopfstein, bis er auf einem Platz zum Stehen kam, auf dem er noch nie gewesen war. Er war von exotischen Bäumen und marmornen Bänken bestanden. Auf einer dieser Bänke, gleich neben einer stehengebliebenen historischen Uhr, hatte sich ein alter Schuhmacher niedergelassen, der eine gelbe Armbinde mit drei schwarzen Punkten trug. Er hatte keine Kundschaft und vertrieb sich mit einem alten Schuh die Zeit, in dessen Sohle er lauter winzige Nägel schlug, ohne sich ein einziges Mal auf die Finger zu schlagen. Xaver wartete lange auf seinen ersten Fehlschlag, seinen überfälligen Schmerzensschrei. Doch alles was er hörte war ein metallisches Gelingen nach dem Anderen.