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Himbeereis
"Was soll ich machen?", fragte sie, "jetzt, wo du hier liegst, kannst du das Himbeereis nicht essen."
Sie hatte ihren Stuhl nahe an das Krankenbett ihres Mannes herangezogen, damit sie seine leisen Worte besser verstand.
"Es liegt doch im Gefrierschrank", sagte er matt, "da kann es noch eine ganze Weile bleiben. Mach dir keine Sorgen."
"Meinst du?" Sie prüfte aufmerksam sein fahles Gesicht und hätte am liebsten einfach nur geheult.
"Mein ich." Wiegand ergriff Margittas Hand und betastete ihre knochigen Finger und die pergamentene Haut. Der Rubinring, das einzig Schwere an dieser federleichten Hand, rutschte von ihrem Finger.
"Hast du wieder abgenommen?", fragte er. "Der Ring sitzt so locker."
"Das tat er schon immer. Ich hab nicht abgenommen."
"Versprich mir, wenigstens ein bisschen zu essen, egal was. Du weißt, was Dr. Hanel gesagt hat. Noch zwei Kilo..."
"Hör auf! Du setzt mich unter Druck. Der Hanel arbeitet nur nach Tabellen und Formeln." Sofort tat es ihr leid, dass sie so laut geschimpft hatte.
Wiegand seufzte und fiel schwer zurück in das Kissen.
"Versprich es mir."
"Ich versprechs. Ich bin gleich mit Helga bei Antonio verabredet."
Er lächelte.
"Hm...Antonios Paella. Das wärs jetzt."
Sie strich ihm zärtlich über den Arm und fühlte sich so ohnmächtig, nichts für ihn tun zu können.
"Wenn du das alles hier überstanden hast, gehen wir zu Antonio. Aber was soll ich bloß mit dem Eis machen?"
"Iss es auf."
"Nein! Ich esse kein Eis, das weißt du doch."
"Ach, deine Liste ist so lang. Da kann unmöglich auch noch Eis draufstehen."
"Ich werde nachher bei Antonio Pulpo essen, mit diesen dicken Kartoffelstücken und der Mojo pikante."
Er betrachtete sie aufmerksam.
"Mach das", sagte er resigniert.
"Ich werde Helga fragen, ob sie das Himbeereis haben möchte."
"Ja, frag sie."
"Oder esse ich einen großen Salat, den mit dem Thunfisch und den Käsestückchen? Was meinst du?"
"Was macht unser Kater, vermisst er mich?"
"Die ersten Tage ist er durch alle Räume, hat dich gesucht. Nachts hat er auf deiner Bettseite geschlafen. Wenn Helga das Himbeereis nicht möchte, kennt sie bestimmt jemanden, der es isst."
"Was machst du dir tausend Gedanken um das bescheuerte Eis? Von mir aus wirf es weg."
Sie schwieg betreten.
"Soll ich dir morgen ein Stück von deiner Lieblingstorte mitbringen?"
"Nein, lass mal. Die sorgen hier gut für alles."
"Bei Antonio gibt es auch die leckeren Scampi. Ich könnte die ja essen."
Er blickte in ihr Gesicht und tief einatmend sagte er:
"Hauptsache, du isst überhaupt etwas."
"Jaaa, mach ich doch. Ich muss jetzt."
Sie küsste ihn.
"Werd mir bloß schnell wieder gesund."
"Schön dich zu sehen." Margitta umarmte Helga.
"Erzähl, wie geht es Wiegand?"
"Die Ärzte sagen, er hatte Glück. So einen schweren Herzinfarkt überleben nicht viele."
"So schlimm? Wie lange muss er noch im Krankenhaus bleiben?"
"Keine Ahnung, haben sie nicht gesagt. Sag, hättest du für eine Packung Himbeereis Verwendung? Die liegt jetzt zu Haus im Gefrierschrank rum."
"Himbeereis?"
"Ist noch unangebrochen. Wiegand isst dieses Eis immer, aber jetzt muss es weg."
"Wieso? Lass es doch einfach im Gefrierschrank."
"Das kann da nicht bleiben. Es stört mich."
"Wiegand freut sich bestimmt, wenn er zurückkommt."
Margitta schwieg. Als der Kellner ihre Bestellungen aufgenommen hatte, ging sie zur Toilette. Sie ließ den Wasserhahn laufen, dann holte sie aus ihrer Handtasche einen faltbaren Plastikbecher. Den schob sie so oft unter den Wasserstrahl, bis sie zehn randvolle Becher getrunken hatte.
Das Essen hatte man schon serviert, als sie zum Tisch zurückkam.
Margitta teilte ihren Teller in Sektionen auf. Rechts außen kam zum Schluss dran, dort legte sie alle Scampi ab. Links unten waren die Pommes, die aß sie langsam, nach jedem Kartoffelstück wartete sie eine Weile.
Das Gemüse dazwischen durfte sie erst anrühren, wenn sie alle Kartoffeln gegessen hatte. Zudem gab es eine strenge Reihenfolge: zuerst die Tomaten und am Ende die Maiskörner, jedes einzeln. Margitta achtete sorgfältig auf diese Regeln. Sie musste unbedingt diszipliniert sein.
"Ich bin fertig und bei dir ist noch nicht viel vom Teller weg. Du hast keinen richtigen Hunger vor Sorge, nicht wahr?"
"Ich esse sehr langsam. Mir geht das Himbeereis durch den Kopf. Was mach ich damit?"
Helga lachte schallend und Margitta schaute von ihrem Teller irritiert auf. Sie zögerte. Dann lächelte sie.
"Naja, ich werde schon eine Lösung finden."
Nachdem sie das letzte Pommesstückchen gegessen hatte, atmete sie auf.
Das Gemüse kam dran. Weil sich etwas Scampisud unter dem Salat ausgebreitet hatte, bugsierte Margitta alles in einen trockenen Bereich ihres Tellers.
Sie durfte sich keinen Fehler leisten.
Zum Schluss teilte sie die Scampi in drei gleichgroße Stücke. Misslang ihr ein Schnitt, beförderte sie das Teil an den linken Tellerrand in die Abfallsektion.
Mit dem letzten Bissen, den Margitta in ihren Mund beförderte, hob sie den Kopf und strahlte Helga fröhlich an.
"Du musst unbedingt noch ein Dessert bestellen", sagte sie, "die sind hier richtig gut."
"Und du?", fragte Helga.
"Nein, ich esse nie Süßes, das bekommt mir nicht. Entschuldigst du?"
Auf der Toilette holte Margitta ihren Becher hervor und löste etwas Pulver in Wasser auf. Sie trank und wartete ein paar Minuten, bevor sie in eine der Kabinen trat, um dort in eruptiven Stößen ihr Essen in das Becken zu spucken. Hätte jemand die Toilette betreten, hätte sie unverzüglich die Spülung betätigt, um sich nicht durch Brechgeräusche verdächtig zu machen. Das war eine überflüssige Vorsichtsmaßnahme, sie kotzte seit Jahren kaum hörbar.
Zu Hause angekommen, zog sich Margitta nackt aus und betrachtete sich im Spiegel. Der Kater strich um ihre streichholzdünnen Beine und maunzte.
"Ich mache dir gleich das tollste, leckerste und größte Futter der Welt zurecht. Du kannst dann essen, bis du platzt, mein Katerchen."
Doch dann fiel ihr das Himbeereis ein. Sie ging zum Gefrierschrank, öffnete ihn und zog die Packung heraus.
Sie betrachtete die Schachtel, während ihre Finger kleine Schmelzspuren auf dem Deckel hinterließen. Ungestüm riss sie die Gefrierschranktür auf, warf die Packung mit Schwung hinein und knallte die Tür zu. Sekundenlang blieb sie unbeweglich stehen.
Der Kater strich mit seinem Köpfchen über ihre nackten Füße.
"Hau ab! Ich will das jetzt nicht!" Sie hob die Füße nacheinander an, als liefe sie auf der Stelle, und vertrieb ihn damit.
Sie starrte weiter auf das Weiß des Gefrierschranks bis ihre Augen flimmerten. Ein Speichelfaden tropfte aus ihrem Mund. Sie zog die Gefrierschranktür auf, riss das Eis heraus und zerrte am Deckel. Ihre Finger glitten ungelenk ab, als das Telefon klingelte.
"Ach, du", sagte sie matt, "hm ja, wir waren bei Antonio. Ich? Ich hatte die Scampi. Ja. Haben gut geschmeckt. Und was gab es bei dir zum Abendbrot? Nein, das ist nicht langweilig. Was gab es denn nun? Drei Scheiben? Wow! Und zum Nachtisch? Eis? Da hattest du ja richtig Glück. War es lecker? Na, das Eis. Ich muss Schluss machen. Muss mich jetzt um das Himbeereis kümmern. Na, du weißt doch. Es muss weg! Gute Nacht, Wiegand. Ja klar, ich vermiss dich auch. Kuss."
Margitta nahm ihre Versuche, den Deckel zu öffnen, wieder auf. Ein Fingernagel knickte um und tat höllisch weh. Sie lutschte an dem lädierten Finger.
Frau Schmidt von nebenan, dachte sie. Das war die Rettung. Sie betrat das Treppenhaus und klingelte.
Frau Schmidt war schwerhörig. Margitta presste ihr Ohr an die Tür und hörte Geräusche aus der Wohnung. Erneut klingelte sie, aber nun im Stakkato eines sich wiederholenden Dingdongdingdongdingdong. Sie trat von einem Bein auf das andere. Die eisige Packung schmerzte in ihrer Hand.
"Wer ist denn da bitte?"
"Ich bins, Ihre Nachbarin Margitta."
Die Wohnungstür wurde umständlich geöffnet und das faltengefurchte Gesicht einer kleinen Frau kam zum Vorschein.
"Frau Schmidt, Sie müssen bitte dieses Eis nehmen."
"Ja, was ist denn los? Sie haben ja gar nichts an?"
"Das macht nichts, Frau Schmidt. Ich bin in der Klemme, mein Mann ist im Krankenhaus."
"Oh Gott, was Schlimmes?"
"Herzinfarkt. Und nun kann er dieses Eis nicht essen. Bitte nehmen Sie es."
"Das geht nicht, ich bin doch Diabetikerin, aber Sie müssen sich unbedingt etwas anziehen. Sie holen sich sonst noch was weg."
"Sie haben doch bestimmt Enkel. Nehmen Sie es für die Enkel."
"Da läuft Ihr Kater die Treppe runter, sehen Sie? Darf er raus?"
"Frau Schmidt, nehmen Sie's für Ihre Enkel." Margitta hielt die Eispackung direkt vor die Augen der Nachbarin.
"Aber die leben doch alle in Kanada, die sind doch ausgewandert."
Margitta seufzte und betrat wieder ihre Wohnung. Ihr war eiskalt.
Ab in den Müll damit, dachte sie fieberhaft. Das Eis muss ganz tief im Container verschwinden. Im Schlafzimmer riss sie ein Kleid vom Bügel und schlüpfte hinein.
Unten öffnete sie vorsichtig die Haustür, spähte zum Container und zuckte zurück. Im Kegelschein einer Straßenlampe stand ausgerechnet Herr Simmer, der verhasste dickwanstige Nachbar, der sie einmal als Knochenfrau bezeichnet hatte, vor dem randvollen Container und drückte mit seinen Fäusten auf einen Müllbeutel. Kein Platz mehr für das Eis.
Schwer atmend kroch Margitta die Treppe hoch. Sie war erschöpft, aber das Eis
musste weg, weit weg. Sie nahm ihre Handtasche, griff die Eispackung und verließ das Haus.
"Hallo?", rief Herr Simmer, "ist das zufällig Ihr Kater?" Gleich neben der Haustür hatte sich ihr Kater fauchend vor einem ihn unbeweglich fixierenden Pitbull in Angriffsstellung gebracht. Margitta eilte wortlos weiter Richtung Hauptstraße. Sie musste ein Taxi finden.
Eine Ewigkeit lang fuhr keines vorbei. Dann tauchte eine Kette gelb beleuchteter Taxischilder auf. Margitta hielt eines an und öffnete die Beifahrertür.
"Würden Sie bitte diese Eispackung wegfahren?"
Der Fahrer stutzte. "Wohin soll ich Sie fahren?"
"Nein, nur diese Packung, also vielleicht bis nach Bergedorf?"
"Ich versteh nicht, was Sie wollen? Steigen Sie doch erst mal ein. Wohin denn nach Bergedorf?"
Margitta seufzte.
Nach ein paar Minuten Fahrt, in denen sie fieberhaft nachdachte, wo sie das Taxi anhalten lassen sollte, um das Eis zu entsorgen, stieg ihr der Geruch von Himbeeren in die Nase. Vermutlich hatte sie nicht bemerkt, dass die Packung schon offen war und sie untersuchte sie. Sie zog den Deckel ab und danach ein Stück von der Klarsichtfolie, die als Schutz direkt über dem Eis klebte.
Der unbändige Himbeerduft vermengt mit Vanille und Sahnigem klebte sich in ihre Nase, die Lippen und den Gaumen. Sie musste einen Finger in die Eismasse stecken.
"Was machen Sie da? Bitte essen Sie hier kein Eis."
Ertappt zog Margitta ihren Finger aus ihrem Mund.
"Haben Sie einen Löffel für mich?"
"Wie bitte? Ich bin doch keine Eisdiele. Da drüben ist ein Imbiss, da können Sie fragen."
"Dann halten Sie da", sagte Margitta und hatte mit der freien Hand bereits die Tür geöffnet, bevor das Taxi angehalten hatte.