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Hier beginnt es
»… und schneller als du denkst, bist du Teil der Familie«, sagte Birgit, die Hände am Lenkrad, und kicherte. Ich konnte nicht anders, als sie mit ihren perückenartigen Zöpfen, dem jugendlichen Kleidungsstil und großmütterlichen Gesicht auf Anhieb zu mögen. Ihr Englisch war besser als meines und der schwedische Akzent, der von einer mädchenhaften Stimme getragen wurde, passte nicht zur Ausdrucksweise, wie ich sie bei meinen Gastgebern in Malmö kennengelernt hatte. Das hier war nicht die Großstadt, das war gut zehn Kilometer von Skövde entfernt bei Axvall am Hornborgasjön. Die Karosserie klapperte, als wir den Weg hinauf zum Hof über eine von Nacktschnecken gepflasterte Straße fuhren – eine Plage, wie Birgit mehrfach betonte, während die Schneckenkörper beim Überfahren unter den Reifen rumpelten. Um die Alleen von Kirschbäume erstreckten sich Felder, versprengte Waldstücke mit Findlingen darin. Ich zählte drei Häuser.
Eine schlammige Einfahrt und wir erreichten das Grundstück. Birgit parkte neben einer Egge und einem Holzverschlag. Beim Aussteigen kam mir die Luft kälter vor als noch am Bahnhof in Skövde, von dem Birgit mich abgeholt hatte. Hier roch es feucht – nach Pilzen und Kaminfeuer. Ich zog meinen Rucksack und die Tüte von unserem Stadteinkauf aus dem Kofferraum. Birgit führte mich zu einem länglichen Gebäude, das sie als ‚Scheune‘ bezeichnete.
»Schön hier«, sagte ich.
»Es gibt viel Platz«, begann sie. »Wenn du willst, musst du nie wieder weg.«
Ich lachte verhalten, um Birgit nicht zu kränken. Länger als die geplanten zwei Wochen hatte ich nicht vor zu bleiben.
»Wer arbeitet hier noch?«, fragte ich.
»Lernst du noch kennen.«
Unterhalb der Scheune lag Birgits Hof. Ein Schuppen in Ochsenblutrot, dahinter ein freistehendes Schwedenhaus, eine Art Villa Kunterbunt inmitten eines verwilderten Gartens. Wie auf den Fotos im Internet, dachte ich.
»Ihr schlaft in der Scheune«, sagte Birgit. »Da drüben in meinem Haus essen wir.«
Sie schloss die Scheune auf, ging über schmale Treppenstufen voran, bis wir einen Sparrendachboden betraten, in dem es nach Holz und Duftkerzen roch. Ringsum bezogene Betten.
»Such dir eins aus.«
»Wer schläft dort drüben?«, fragte ich. In der Ecke stand ein Bett, auf dem eine Waschtasche, Hemden und eine zusammengeklappte Handsäge lagen.
»Andersch«, antwortete Birgit. »Komm runter, wenn du fertig bist.«
»Zum Haus?«, fragte ich.
Birgit nickte. Noch einmal lächelte sie, dann verabschiedete sie sich. Licht fiel durch die Gaubenfenster. Ich packte meinen Rucksack aus, legte mich aufs Bett, schloss die Augen, horchte in den Raum hinein.
Rasiert, im dicken Pullover lief ich die Gehwegplatten von der Scheune zu Birgits Haus hinab. Durch die Fenster sah ich sie in der Küche stehen. Neben ihr eine zierliche Frau, sicher zwanzig Jahre jünger, mit grau meliertem Haar, das zu ihrem jugendlichen Gesicht nicht passte. Ich trat ein, eine Türglocke erklang. Birgit grüßte und stellte mich der Frau als den neuen Dauergast vor.
»Ich bleib nur zwei Wochen«, sagte ich. Die Frau nickte aufmerksam.
Ihr Name war Sophie, sie arbeitete als Lehrerin in einer katholischen Schule bei Graz, betonte jedoch gleich, dass sie nicht besonders gläubig sei. Wir einigten uns darauf, in Birgits Anwesenheit Englisch zu sprechen. Sophie trug ein breites Haarband aus blauem Stoff und wenn sie lächelte, konnte man ihr Alter an den zahlreichen Falten um ihre Augen ablesen. Ich fand es seltsam, dass sie wie eine junge und alte Frau zugleich aussah. Während wir Gemüse für ein einfaches Ofengericht schnitten, fragte Sophie mich aus. Ich erzählte, dass ich studierte, nach Halle bei Leipzig gezogen sei, um vom Lehramt zur Germanistik zu wechseln; Leipzig wäre das neue Berlin. Sie sei nie in Berlin gewesen, meinte sie. Sophie befragte mich mit einer Neugier, die ihr den Anschein verlieh, sich mindestens so sehr für die Lebensentwürfe anderer zu interessieren wie ich. Dass sie viele Jahre als Lehrerin gearbeitet hatte, fand ich beeindruckend. Ich fragte mich, wie man so mutig oder unsicher sein konnte, auch im fortgeschrittenen Alter und mit gewissem gesellschaftlichen Erfolg wieder etwas Neues vom Leben einzufordern oder zumindest danach Ausschau zu halten. Wie ehrlich Sophie von ihrem Alleinsein in der Steiermark sprach, dem Wunsch, Schwedisch zu lernen und mit den Händen zu arbeiten, machte sie mir sympathisch. Sie war eine kleine, hagere Person und ihre Wangen färbte ein Netz roter Äderchen. Ihr freundliches, sorgenvolles Gesicht und wie sie mich ohne Aufdringlichkeit nach meinem Leben ausfragte, das berührte mich. Birgit hatte sich zurückgelehnt, sagte kaum etwas. Es brauchte kein Wort, um einen Eindruck von ihrem und Sophies Verhältnis zu gewinnen. Während Birgit unserem Gespräch lauschte, sah ich, wie starr das Lächeln in ihren Mundwinkeln hing. Sie musste Sophies Freundlichkeit und Interesse gut kennen. Sicher galt die Beharrlichkeit, mit der Sophie ihre Fragen stellte, auch für die Arbeit bei Birgit. Trotz allem war das nicht ihr Hof. Auch wenn ich erfuhr, dass Sophie Birgit eine Miete zahlte, jetzt, da sie für ein halbes Jahr zum Arbeiten und Schwedischlernen hergekommen war, ahnte ich, dass ein solches Zusammenleben nicht ohne territoriale Grenzkonflikte ablief.
Während das Gemüse im Ofen fiepte, erzählte Birgit von ihrer Tochter in Göteborg, dem indonesischen Vater und geschiedenen Ehemann und wie sie das Grundstück nahe des Hornborgasjöns für einen Spottpreis gekauft hatte. Die Anfangszeit sei einsam gewesen, aber nach und nach habe sie gelernt, dass man selbst hier draußen eine Familie finden könne. Sophie und Birgit warfen sich ein Lächeln zu. Sie interessiere sich für die Kraft von Edelsteinen, redete von Esoterik und Nachhaltigkeit. Ich hörte ihr zu, widersprach jedem Satz innerlich, während ich nach außen zu allem nickte, ihre Annahmen sogar mit eigenen Argumenten fütterte. Einerseits hielt ich diese Dinge für Hokuspokus, andererseits wollte ich mir meinen Zynismus abgewöhnen. Ich befürchtete etwas Existentielles nur deshalb zu verpassen, weil es mit rationalem Denken zu leicht zu entkräften war. Die Eieruhr schrillte und wir tischten auf.
Das Ofengemüse wurde mit frischem Rosmarin und Thymian aus dem Garten garniert. Ich erfuhr, dass außer Sophie und mir nur ein Däne namens Andersch, mit dem ich das Schlaflager teilte, bei Birgit arbeitete. Er lebte hier schon über ein Jahr, würde heute Nacht von einem Ausflug zurückkehren. Da das Thema keinen Gesprächsstoff brachte, fragte ich nach meiner Arbeit, brüstete mich noch einmal damit, vor meinem Studium Erfahrungen in einer Tischlerei gesammelt zu haben, was ich Birgit bereits in einer E-Mail ausgebreitet hatte.
»Andersch ist auch Tischler«, sagte Birgit. »Ihr könnt zusammenarbeiten. Für Tischler gibt es hier so viel Arbeit. Da wirst du in einem Jahr nicht mit fertig.«
»Es muss ja nur für zwei Wochen reichen«, sagte ich grinsend. Birgit verstand den Seitenhieb nicht oder ignorierte ihn absichtlich.
»Du könntest auch den Schuppen mit Rötfärg streichen und wenn du ein Schatz bist, kratzt du mir das Moos vom Dach. Hier oben …«, sie deutete mit einem ihrer wurstigen Zeigefinger über sich.
Eine Weile noch saßen wir zusammen, aßen, tranken Wein. Birgit spielte uns etwas auf der Gitarre vor, sang mit ihrer piepsigen Stimme dazu, und ich musste mich anstrengen, nicht loszuprusten, auch wenn ich nicht gerade besser sang. Birgit hatte ein unfreiwilliges Talent, Witze zu erzählen. Mit unschuldigem Gesichtsausdruck mimte sie die dänische Prinzessin, die sich bei ihrem letzten Staatsbesuch durch ihr fehlendes Rhythmusgefühl lächerlich gemacht hatte. Ihre drallen, zugleich runzeligen Hände klatschte Birgit ineinander, als ob sie nach Fliegen schlüge. Sophie und ich konnten uns nicht einkriegen vor Lachen. Wie vor zwei Kleinkindern wiederholte Birgit ihren Witz ein zweites und drittes Mal, es funktionierte. So verbrachten wir unseren ersten Abend.
Auf dem Weg zur Scheune und ins Bett schmunzelte ich noch immer, schmeckte den klebrigen Wein auf der Zunge. Im Duschraum neben Sophies Quartier im Erdgeschoss wusch ich mir das Gesicht, freute mich über das Wimmeln der Spinnen, die mit leeren Netzen fetter Beute harrten; es bedeutete, auf dem Land zu sein. Andersch war noch nicht zurückgekehrt. Ich warf mich ins Bett, knipste das Licht aus und schlief so fest wie lange nicht.
Die Melodie des Handyweckers trällerte mich aus dem Schlaf. Ich hörte ein Schnarchen. In dem zuvor leeren Bett lag nun der Rückkehrer, mir sein breites Kreuz zugewandt. Schnell zog ich mir etwas über, schlich mich hinaus in die Kälte. Nebel hing in den Wipfeln der Tannen, troff von Fensterscheiben und Hauswänden. Am Himmel hinter einer Wand aus Grau leuchtete die Sonne, ein fast weißer Kreis. Ich spazierte zur Villa Kunterbunt, als lebte ich hier schon seit langem. Die Türglocke erklang, an der Anrichte stand Birgit, die mit ihrem Kopf beinahe die niedrige Decke der Küche berührte. Gemeinsam deckten wir für vier Personen ein. Sophie, das blaue Stirnband im Haar, stieß mit zwei Tassen voller Himbeeren dazu. Wie sich herausstellte, war das Pflücken ihr morgendliches Ritual, für das sie gern etwas früher als alle anderen aufstand.
Birgit hatte den Ofen zum Heizen geöffnet. Wir aßen Müsli mit Joghurt und Beeren, als Andersch hereinpolterte. Er war ein kräftiger, für sein Alter gut aussehender Mann mit blauen Augen, breitem Kinn und grauem Stoppelbart. Er trug eine Beanie, eine Daunenweste über einem eng anliegenden Longsleeve, das die muskulösen Oberarme betonte. Alles in allem sah er aus wie jemand, den ich mir als Bergführer einer hochalpinen Tour vorstellte. Er grüßte, hielt mir seine Hand hin. Dann umarmte er Birgit und Sophie, was seiner groben Erscheinung etwas Herzliches verlieh. Kurz fühlte ich mich fremd angesichts der Vertrautheit zwischen den Dreien. Andersch verströmte einen herben Männergeruch, etwas, das ich mochte, selbst aber nicht an mir hatte. Er trank seinen Kaffee mit einem Schuss Milch, sah über die Müslischüssel gebeugt wie ein kleiner Junge aus.
Nach dem Frühstück gab es eine Arbeitsbesprechung. Sophie würde die Beete umgraben, Andersch und ich den Schuppen vorm Haus mit Rötfärg, dem Schwedenrot, streichen. Birgit hatte etwas in der Stadt zu erledigen, versprach noch einen Eimer Farbe mitzubringen und eine Feuerschale für das Fest in drei Wochen.
»So lange bleibst du aber«, sagte sie mit gespielter Strenge.
Was sollte ich anderes tun, als zu nicken?
Mit einem Rundholz rührte Andersch im Brei, der den Namen Ochsenblutrot verdiente. Die alte Farbe trugen wir mit improvisierten Schleifklötzen ab, kamen im Rhythmus der Arbeit ins Gespräch.
»Wo bist du gewesen?«, fragte ich.
»Ich mach einen Film«, sagte Andersch. »Hier oben gibt es viele Hobos, die in den Wäldern leben. Alte Leute, die sich von Beeren und Pflanzen ernähren. Ich mach eine Doku über ein paar von ihnen. Einige kennen mich und machen mit. Ich glaub, das schauen sich eine Menge Leute an.«
Ich war überrascht und begeistert, das Andersch kein Bergführer, sondern, wie es schien, eine Art Künstler war. Er erzählte, dass er als Maler in Kopenhagen gelebt habe, seine Wohnung, zugleich Atelier, momentan aber untervermiete. Dann zeigte er mir Bilder seiner Gemälde auf dem Handy. Das waren große Leinwände. Dunkle Farben, die abstrakte Bildräume eröffneten, dennoch einen Sinn für Figürlichkeit sowie ein technisch überzeugendes Raum- und Körpergefühl verrieten. Andersch wischte zu einigen mit Rötel gefertigten Skizzen. Er habe auch als Zeichenlehrer gearbeitet. Das sei die Freiheit. Kein großes Geld, dafür ein Leben nach eigenen Prinzipien.
»Ganz interessant«, sagte ich. »Ich hab auch mal versucht zu zeichnen, aber das hier ist wirklich was. Mein Vater macht übrigens Filme. Für Arte, das ist in Deutschland eine große Nummer. Vielleicht kann ich euch vermitteln.«
Anderschs Augen wurden größer, er nickte hastig, erzählte, dass er sich schon eine Kamera gekauft habe und bald mit dem Filmen beginne. Ich dachte an die Auflagen, von denen mein Vater gesprochen hatte. Mindestens eine Szene mit Drohnenflug, Intro-Musik mit Streichern, jemand für die Kamera, jemand fürs Drehbuch, jemand für Produktion und Postproduktion. Andersch dachte vielleicht, man bräuchte nichts zu tun, als zu ein paar Aussteigern in den Wald zu spazieren, sie zu überreden, vor die Kamera zu treten, und am Ende schnitt man einen Film daraus und verdiente einen Haufen Geld. Je mehr ich darüber nachdachte, desto unredlicher kam mir das Projekt vor. Ich hielt es für voyeuristisch, zumal ich Anderschs Motive nicht einschätzen konnte. Er glaubte also, viele Leute wollten das sehen. Worum ging es ihm? Schon bereute ich, ihm den Kontakt angeboten zu haben. Einerseits beeindruckte mich sein Mut, andererseits war ich mir sicher, dass das Projekt noch im Entstehen versanden würde. Während Andersch weiter überzeugt auf mich einredete, versuchte ich mir vorzustellen, gemeinsam mit ihm an dem Projekt zu arbeiten.
»Du gibst mir seine E-Mail, ja?«
»Ich such sie dir die Tage mal raus«, log ich.
Bis zum Mittag strichen wir die Stirnseite des Schuppens. Birgit war zurückgekehrt, wir kochten Bandnudeln mit Lachs, Salbeibutter und Tomaten aus dem Garten. Noch immer dachte ich über das Gespräch mit Andersch nach. Ich fühlte mich nicht bereit, die Dinge anders zu sehen, dachte an Halle, an die Germanistik, die ich gegen das Lehramt, die sichere Bank, eingetauscht hatte. Ich war vierundzwanzig und was hatte ich bisher auf die Beine gestellt? Neuerdings versuchte ich mich im Schreiben, hatte die Idee, mit der Germanistik einen Job als Lektor zu finden. Die Geschichte zehntausender Arbeitsloser, das war mir bewusst. Doch neben meinen Zweifeln besaß ich auch so etwas wie Hoffnung, bröckelnd zwar, aber stark genug, um mich zu immer neuen Unwägbarkeiten anzuspornen.
Das Ausstreichen der Farbe mit dem Malerpinsel beruhigte mich. Andersch arbeitete sich zur Nord-, ich zur Südseite vor. Nach einer Weile war er ganz hinter seiner Wand verschwunden. Den übrigen Nachmittag bekam ich ihn nicht zu Gesicht, in meinem Kopf war es ruhiger geworden. Mit lockerer Handbewegung verstrich ich den letzten Rest Farbe, sah, wie die anderen Stellen nach und nach zu einem kreidigen Rot antrockneten. Es war eine Binsenweisheit, doch es brauchte wirklich wenig, um glücklich zu sein.
Den Nachmittag hatte ich frei. Ich setzte mich in den Garten, genoss die vom Tag übrigen Sonnenstrahlen, wanderte mit ihnen wie eine Kompassnadel, bis auch sie hinter den Tannen verschwunden waren. Vor dem Essen hatte ich Zeit, in einem meiner mitgebrachten Bücher zu lesen. Lieber aber machte ich einen Spaziergang. Ich kam an zwei Ameisenhaufen vorbei, einer Pferdekoppel, trug innere Monologe aus, bis niemand mehr was zu sagen hatte.
Erst in der Dämmerung kehrte ich zum Hof zurück. Andersch hatte einen Salat zubereitet, wir tranken, unterhielten uns. Als Birgit die Gitarre rausholte, ging Andersch ins Bett. So saßen wir eine Weile zu dritt. Ich nahm die Gitarre, Birgit sang und Sophie verlangte Zugabe um Zugabe. Birgit erzählte von den Leuten, die in den letzten Jahren bei ihr gearbeitet hatten. Alle wären sie in ihr altes Leben zurückgekehrt.
»Aber ich glaube, du bist ein bisschen mutiger«, sagte sie und zwinkerte mir zu.
Bereits vor einer Woche hatten Andersch und ich den Schuppen fertiggestrichen. Nun arbeitete ich auf dem Dach der Villa Kunterbunt, legte die Beine links und rechts über den Dachfirst, hatte mal Glück, mal Pech mit dem Wetter. Mit einer Harke und anderem zweckentfremdeten Werkzeug kratzte ich dicke Ballen Moos von den Schindeln. Wenn das Mittagessen vorbereitet wurde, rauchte ich meist noch eine von Anderschs selbstgedrehten Zigaretten, stieg die Leiter hinab, um in der Küche zu helfen.
Heute waren wir zu zweit. Während Sophie ein Fenchelgratin vorbereitete, machte ich mir die Hände beim Schneiden der Roten Bete schmutzig.
»Was hältst du eigentlich von Andersch?«, fragte Sophie unvermittelt.
Ich legte das Messer neben das Holzbrettchen. Sophie schaute mich erwartungsvoll an.
»Ist da was zwischen euch?«, fragte ich.
»Woher weißt du das?«
Ich wusste es nicht, hatte ins Blaue hinein gefragt. Eine Chance, mich zu erklären, bekam ich nicht. Sophie wirkte plötzlich aufgeregt.
»Du darfst es Birgit nicht erzählen, okay?«
»Ja, natürlich«, sagte ich, wollte sie beruhigen. Ich wusste nicht, was sie auf einmal hatte.
»Seit wann?«, fragte ich. Sophie schüttelte den Kopf, als könnte sie darüber nicht weiter sprechen. Ich konnte nur vermuten, was dahinter steckte.
»Es ist von seiner Seite sowieso nicht so richtig«, meinte sie.
»Hat er das gesagt?«
»Ich glaube, er ist nicht der Beziehungs-Typ.«
In dem Punkt wollte ich Sophie nicht widersprechen. Die Beschreibung passte zu gut zu dem Bild, das ich mir von Andersch gemacht hatte.
»Und warum darf Birgit es nicht wissen?«, fragte ich mit gesenkter Stimme.
»Du behältst es wirklich für dich?«
Ich nickte.
»Also, ich glaube, sie hatten mal was. Auf jeden Fall steht sie auf ihn.«
»Meinst du echt?«, fragte ich.
»Klar. Siehst du nicht, wie sie ihn anschaut?«
»Vielleicht denkst du das nur. Sie sind fünfzehn Jahre oder mehr auseinander.«
»Das macht doch nichts.«
In diesem Moment kam Andersch herein, die Türglocke erklang und Sophie schaute aufs Fenchelgratin, als wäre nichts gewesen.
Beim Mittagessen im Garten versuchte ich in Anderschs und Birgits Gesichtern Beweise für Sophies Vermutungen zu finden. Tatsächlich lag da etwas in Birgits Blick, aber ob es das war, für das Sophie es hielt, wusste ich nicht. Das Gespräch hatte einen Eindruck davon hinterlassen, dass die Verhältnisse selbst in einer so kleinen Gruppe komplizierter waren, als es auf den ersten Blick erschien. Birgits Hof war ein Rückzugsort, aber deshalb noch lange kein Paradies. Hier machten wir uns nützlich und tatsächlich schmeckte das Essen besser, wenn man meinte, es sich mit den eigenen Händen verdient zu haben. Aber wenn wir einmal ehrlich waren, kam nur ein kleiner Teil davon aus dem Garten, das meiste hingegen aus dem Supermarkt in Skövde. So lange sich die Speisekammer auf magische Weise füllte, konnten wir so tun, als wäre es anders. Im Grunde aber lebten wir von der Mietfreiheit und dem Gehalt, das Birgit als Krankenschwester verdiente, in einem Land, das es sich leistete, sein Pflegepersonal gut zu bezahlen.
Für den nächsten Tag gab Birgit uns frei. Sie wolle ihren Urlaub genießen, uns überreden, mit ihr auf den Mineralienmarkt bei Falköping zu fahren. Andersch blieb mit der Ausrede zurück, noch ein paar Bretter für den Anbau des Schuppens zuschneiden zu wollen. Zu dritt in Birgits Volvo fuhren wir über die Nacktschnecken, die Landstraße vorbei am Hornborgasjön und roten Bauernhäusern, bis wir nach einer halben Stunde den Parkplatz vorm Mineralienmarkt erreichten.
Mit Stoff bespannte Stände erstreckten sich auf einem ungepflasterten Pfad zwischen weißen Reihenhäusern. Wir trödelten von Stand zu Stand. Neben Edelsteinen, Magnetiten, geschliffenem Katzengold und Sandsteinklumpen gab es Schmuckeier, Traumfänger, Topflappen und Kochlöffel. Einige Menschen hier sahen wie Zauberer aus, trugen schmale, runde Brillen, selbstgenähte Kleidung, die Frauen gestrickte oder gefilzte Pulswärmer, die Männer weißen oder grauen Bart, zumindest aber schulterlanges Haar. Birgit suchte einen Rosenquarz. Mehr als zweitausend Kronen, etwa zweihundert Euro, wollte sie nicht ausgeben, doch ein großes Exemplar könne selbst die Energie eines toten Raumes, manchmal sogar eines ganzen Hauseswiederbeleben. Ich stellte Birgits Ansichten nicht in Frage. Wenn sie daran glaubte, wären die zweihundert Euro sicher gut investiert. Auch ich ließ mich hinreißen, etwas zu kaufen. Für fünfzehn Kronen erstand ich ein buntes Ei, das man schütteln konnte, wodurch eine Glocke im Inneren erklang. Ich fand das einen guten Preis.
Im langen Gemeindehaus in der Mitte des Marktes kehrten wir ein. Dort gab es zwei verschiedene Sorten Kuchen und rabenschwarzen Filterkaffee, den man beliebig oft nachfüllen konnte. Die Schweden seien große Kaffeetrinker, meinte Birgit, und das leuchtete mir ein, schließlich musste man ja mit irgendetwas gegen die zunehmend kurzen Tage vorgehen. Ich genoss es, hier mit Birgit und Sophie zu sitzen, glaubte, dass wir eine gute Clique abgaben. Birgit ließ sich von uns überzeugen, den größten Quarz zu kaufen, Sophie stocherte eine halbe Stunde lang in ihrem Blechkuchen herum und ich füllte mir fasziniert von der Möglichkeit alle paar Minuten Kaffee nach.
Fast zwei Wochen waren vergangen, seitdem Birgit mich am Bahnhof in Skövde abgeholt und mit auf ihren Hof genommen hatte. Der Dachfirst der Villa Kunterbunt war mein fester Arbeitssitz geworden. Andersch war nicht ganz schwindelfrei und Sophies Kreislauf zu unbeständig, um in der Höhe zu arbeiten. Das Mooskratzen war also wie geschaffen für mich. Birgit dankte es mir, indem sie sich gelegentlich auf die Anhöhe stellte, das Dach überprüfte und anerkennend mit dem Kopf nickte.
An einem Sonntag saßen wir zu zweit in der Küche, tranken Tee und aßen Kekse. Ich hatte das vage Gefühl, dass Sophie und Andersch nicht zufällig zur gleichen Zeit auf dem Hof verschwunden waren. Birgit tunkte ihren Keks in den Tee, saugte die aufgeweichte Masse mit den Lippen an.
»Du kannst hier bleiben«, sagte sie. Es klang, als hätte ich sie darum gebeten, und ich überlegte, ob ich das vielleicht getan hatte.
»Du meinst hier?«, fragte ich.
Birgit nickte.
»Danke.«
»Also bleibst du?«
»Ich weiß nicht.«
Birgit schob mir die Kekse rüber, doch ich lehnte ab.
»Ich wünsche mir sehr, dass du bleibst.«
»Aber was soll ich hier machen?«
»Nichts«, sagte Birgit und schaute mich eindringlich an. »Du kannst ein Buch schreiben, du kannst Schweden erkunden, du kannst die Vögel im Hornborgasjön beobachten, wandern gehen, Leute einladen und mit mir ein Energiezentrum in der Scheune errichten.«
»Bis auf das Letzte klingt das ziemlich verlockend«, sagte ich. Ich musste grinsen und Birgit zum Glück auch.
Jetzt nahm ich mir einen Keks, schaute Birgit kauend an und sie mich. Obwohl nichts versprochen war, wirkte sie zufrieden. Ich brauchte Bedenkzeit.
Der Sonntag war wie dafür gemacht, meine Angelegenheiten zu sortieren. Ich lief zwischen den Beeten, pflückte Himbeeren, setzte mich zum Grübeln in den Garten. Bereits so manche Chance hatte ich mir verbaut. Das schlechte Abitur, die abgebrochene Lehre. Meine Eltern unterstützten mich, doch auch ihre Geduld kannte ein Ende. Ich jobbte, aber wie lange konnte ich mir das Studium noch leisten? Vielleicht war es die letzte Gelegenheit. Ohne Ausbildung keine Perspektive. Daran glaubte ich zwar nicht, aber wohin würde mich diese Querdenkerei führen? Jetzt dachte ich vielleicht, ich könne das System austricksen. In zehn Jahren aber wäre ich bereits deutlich älter, das System hingegen hätte sich wieder einmal verjüngt.
Meine Gedanken hatten mich nicht gerade aufgebaut. Ich fühlte mich durcheinander, wollte nicht weiter nachdenken, starrte geradeaus. Mit spitzen Schritten kam Sophie durchs Gras gelaufen, setzte sich neben mich.
»Wo bist du gewesen?«, fragte ich.
»Hab ein bisschen gelesen«, sagte Sophie.
»Ich dachte, du wärst vielleicht mit Andersch.«
Sophie errötete, sagte nichts dazu.
»Und du?«, fragte sie.
»Ich denk darüber nach, ob ich mal wieder abbrechen sollte …«
»Du willst nach Hause?«
»Ich weiß nicht, was ich will. Das ist das Problem«, sagte ich.
Sophie nickte verständnisvoll. Ich wartete darauf, dass sie mir einen Ratschlag erteilte, vergeblich.
»Ich mag es hier«, sagte ich. »Vielleicht muss ich die Chance einfach nutzen.«
»Welche Chance?«, fragte Sophie.
»Birgit hat mich gefragt, ob ich bleiben will. Dauerhaft.«
»Einfach so?« Ich meinte Empörung in Sophies Frage zu hören.
»Ja, einfach so.«
»Glaubst du nicht, dass es dir langweilig wird?«
»Nein, glaube ich nicht. Ich bin ja auch ein langweiliger Typ.«
Sophie lachte. »Dann solltest du es dir wirklich überlegen. Ich würde so weit gehen, zu sagen, dass das hier ein Paradies für Langweiler ist.«
»Okay, dann bin ich auf jeden Fall dabei«, sagte ich.
Wieder lachte Sophie und ich fühlte mich bereits ein ganzes Stück besser.
»Du solltest einen Spaziergang machen. Dann wirst du schon darauf kommen.«
Auf dem Weg die Straße hinab zum Hornborgasjön knipste ich mit der alten Olympus, die mein Vater mir geschenkt hatte. Auf den Bildern würden unter anderem die Scheune, die schlammige Einfahrt und natürlich die Nacktschnecken zu sehen sein. Den restlichen Weg schaute ich mir lieber auf die Füße, anstatt versehentlich auf einer von ihnen auszurutschen. Auf einem der Felder an der Straße nach Skövde staubte ein Traktor mit breitem Mähdrescher. Dahinter, ein, zwei Kilometer entfernt, lag der See. Ich lief an der Straße entlang, orientierte mich an einem Schild mit Runenzeichen, das hier auf Sehenswürdigkeiten hindeutete, nicht wie bei uns zu Hause. So kam ich auf einen Hof, wo eine Frau in Gummistiefeln und Holzfällerjacke die Hand zum Gruß hob. Hinter dem Hof führte ein Pfad über Wiesen mit grasenden Kühen weiter. Die Tiere glotzten neugierig, trabten auf mich zu und ich vor ihnen weg. Aus sicherer Distanz fotografierte ich ihre Gesichter.
Die Anhöhe war mit Moos überwachsen, behauene Steine lagen zu einem Kreis ausgebreitet, ein Schild informierte darüber, dass dies einmal ein ritueller Ort gewesen sei. Ich schaute ins Land, zum Hornborgasjön, bis zu den Wäldern, die noch dahinter an einem weit entfernten Horizont lagen. Einen geeigneteren Ritualort konnte ich mir in diesem Moment nicht vorstellen. Ich dachte an vieles, bloß nicht an lästige Entscheidungen und Probleme, knipste noch ein paar Fotos und kehrte über denselben Weg, den ich gekommen war, zurück.
An diesem Abend saßen wir in voller Runde am Tisch. Sophie und Andersch sahen zufrieden aus, Birgit machte ein langes Gesicht. Wir aßen Auflauf mit Brokkoli, Mandeln und Muskat. Ich hatte nichts zu sagen und blieb auch nicht zum Gitarrenspiel. Die Spinnen im Bad ekelten mich und das Bett fühlte sich zu klein an. Der Hof, die drei, das war ja ganz schön, lud zum Träumen ein. Aber wohin führten diese Träume? Ich stellte mir Andersch vor, mit seinem Fahrrad und der »neuen Kamera« im Wald, mit Ende vierzig noch allein, unfähig, einer Person wie Sophie die Karten offen auf den Tisch zu legen. Griesgrämig und mit der Frage, ob der Zyniker in mir wieder einmal gesiegt hatte, schlief ich ein.
Soweit es ging, wich ich Gesprächen mit Birgit aus. Ich bekam einen Anruf von meinen Eltern. Sie erklärten, ich hätte die Rückmeldephase verpasst, stünde kurz vor der Exmatrikulation. Es wäre schon gut, wenn ich nächste Woche zurückkäme und alles regelte, ich müsste solche Angelegenheiten im Übrigen so langsam selbst in die Hand nehmen. Es war mir peinlich, auch wenn es das sicher nicht musste.
Meine Arbeit auf dem Dach der Villa Kunterbunt war so gut wie abgeschlossen. Nur noch ein kleines Feld musste ich freikratzen, als Birgit aus der Küche auf die Anhöhe trat und mit den Händen zum Trichter geformt verkündete, sie habe gerade mit einem Freund telefoniert, der das Problem auch kenne. Es gebe da ein Mittel zum Sprühen, das die Sache in wenigen Stunden erledige. Das Moos falle quasi von selbst ab. Sie schaute mich mit dem Blick eines Clowns vorm Scherbenhaufen an, bereit, einen Witz zu reißen und sich neuen Dingen zuzuwenden. Ich hielt die Hacke hoch, zuckte die Achseln, setzte ein Lächeln auf, während in mir eine kleine Welt zusammenbrach.
Gemeinsam mit Andersch begann ich die Planung einer Außendusche, versuchte nicht weiter an das Moos auf der Villa Kunterbunt zu denken. Birgit wollte, dass die Dusche wie ein Totempfahl aussieht, aus dem geschnitzten Maul eines Frosches sollte Wasser fließen. Ich schätzte, meine Berichte vom Praktikum in der Tischlerei hatten Eindruck geschunden. Tatsächlich hatte ich bis auf ein paar Stöcke fürs Knüppelbrot in meinem Leben wenig Nennenswertes geschnitzt. Nach einigen Zeichenversuchen überließ ich Andersch die Sache, zog mich raus mit der Ausrede, dass wir uns nur gegenseitig auf die Füße träten. Birgit kündigte für den Nachmittag den Besuch eines Freundes an.
Bei Kaffee und Kuchen im Garten lernten wir Kristoffer kennen. Wenn er die Tasse zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, hatte ich den Eindruck, der Henkel müsste abbrechen. Menschen von Kristoffers Ausmaßen kannte ich bislang nur aus Filmen. Er war größer als Birgit, noch breiter, ohne beleibt zu sein. Sein Gesicht war faltig wie das einer Bulldogge und er trug eine breite Silberkette um den Hals, saß völlig deplatziert und in sich gekrümmt auf dem Gartenstuhl. In breitem Akzent, der sich um Deklination und Zeitformen nicht scherte, berichtete er von seiner Fahrt, der Familie in Norwegen. Es stellte sich heraus, dass er die letzten zwei Jahre als Automechaniker mit seinem Truck und einem Bauwagen auf dem Anhänger durch Schweden gereist war.
»Mama geht’s nicht gut. Zeit nach Hause zu gehen«, brummte er.
Es rührte mich, wie verletzlich der große Mann sich gab. Ich erfuhr, dass er hergekommen war, um Birgit seinen Anhänger zu verkaufen und nach Norwegen zurückzukehren.
»Wie lange bleibst du?«, fragte Birgit.
»Zum Fest, wenn ich darf.«
»Wenn du nicht wieder alles alleine aufisst …« Birgit schmunzelte.
Kristoffer zog einen Mundwinkel hoch und sein Gesicht schien nur noch aus Falten zu bestehen. Man merkte, dass er sich schämte.
Für Andersch und mich bestanden die Vorbereitungen für das Fest darin, die Feuerschale auszurichten und aus einigen Brettern und Stämmen Sitzbänke und Hocker zu zimmern. Sophie und Kristoffer schlugen Feuerholz, Birgit kaufte Maiskolben, Steaks und Flusskrebse, bereitete Marinaden und einen Krebssalat mit Mayonnaise, viel Dill und Rogen vom Seelachs vor. Ich spürte, dass es Zeit war, mit Birgit zu reden, doch ich konnte mich nicht überwinden, den ersten Schritt zu tun. So verging der letzte Tag vorm Fest.
Die Sitzbänke waren uns gelungen. In meinem Praktikum hatte ich selbst nie etwas gebaut, meist nur gehobelt, abgerichtet oder geschliffen. Zur Probe setzte ich mich hin, wippte ein bisschen. Andersch sah es und grinste, wohl weil er ahnte, dass es mir etwas bedeutete. Ich drehte mich um, Birgit kam auf uns zu. Sie wirkte unzufrieden, vielleicht war etwas im Haus passiert.
»Können wir mal sprechen?«, fragte sie.
Ich fühlte den Klumpen in der Brust, ahnte, was los war. Nebeneinander und ohne etwas zu sagen, gingen wir ins Haus. Birgit nahm einen Kessel vom Herd, goss dampfendes Wasser in zwei Becher, stellte mir einen mit einem Teebeutel und einem Stück Zucker auf den Tisch. Ich setzte mich und sie sich dazu.
»Du bist schlimmer als Andersch«, sagte sie.
»Weil ich keine Ansagen mache?«
Birgit versenkte den Teebeutel, danach das Stück Zucker im Becher.
»Ich weiß, dass du hier hingehörst«, sagte sie. »Aber du bist furchtbar unentschlossen.«
»Es geht ja hier auch um etwas«, erwiderte ich. Ich fand es ungerecht, dass sie mir einen Vortrag hielt, obwohl es offensichtlich sie war, die etwas von mir wollte. Woher wusste sie eigentlich, wohin ich gehörte? Hatte sie das im Horoskop gelesen?
»Du denkst dir vielleicht, was will ich mit diesen alten Leuten, irgendwo draußen in Schweden.«
»Ja, das denke ich mir. Hast du eine Antwort darauf?«
»Die habe ich dir schon längst gegeben«, sagte Birgit, nippte an ihrem Tee.
Ich spürte, dass es stimmte. Ich war unentschlossen. Im Grunde stellte mein ganzes Studentenleben den Versuch dar, nichts zu riskieren, aber doch genug, um mich hinterher als Individualisten zu fühlen. Das war feige. Da hatte Birgit recht. Doch recht zu haben, reichte hier nicht aus.
»Ich muss weitermachen«, sagte ich, nahm meinen Tee und ging.
Die Gäste kamen am Nachmittag. Das waren Nachbarinnen, Kolleginnen von Birgit, ihre beste Freundin aus Göteborg, die ihren Hund, einen anhänglichen Malteser, mitbrachte. Ein Freund von Andersch war auch mit dabei. Auf drei aneinandergereihten Tischen bauten wir das Buffet auf, Andersch breitete die mit Chili, Knoblauch und Limettenzesten marinierten Steaks auf einem mitgebrachten Grill aus. Erst jetzt kam ich auf die Idee zu fragen, was hier überhaupt gefeiert wurde. Ein nachträgliches Kräftskiva, das Krebsfest zum Start der Saison.
»Und warum Steaks?«, fragte ich.
Andersch schaute mich unschuldig an.
Die meisten Gäste hatten ebenfalls Krebssalate, Branntwein oder Bier mitgebracht. Ich kostete vom Krebssalat, den sie Skagenröra nannten. Ein Geschmack, der mich an Besuche in Lübeck erinnerte. Dazu ein Schluck Aquavit.
Ich unterhielt mich mit Birgits bester Freundin, einem Nachbarn und mit Kristoffer, der allein eine halbe Bank einnahm. Er hatte sich das Glas aufgefüllt, erzählte von seiner großen Zeit als Mechaniker im norwegischen Team beim Rennen von Dakar.
»Manchmal muss man sich was trauen«, sagte er. »Sonst wacht man irgendwann auf und …«
Er schaute mich nicht an, mehr ins Feuer, das vor uns in der Schale loderte. Es war eines dieser Gespräche, bei denen bedeutungsschwere Dinge gesagt wurden, lange Pausen entstanden und kurze, aber nachdenkliche Repliken folgten. Ich hörte Kristoffer gern zu, weil er offensichtlich etwas erlebt hatte. Wenn ich mir die Runde so besah, dachte ich, sie alle hätten was zu erzählen, ich hingegen kam mir undefiniert, fast farblos vor. Kristoffer boxte mir gegen die Schulter. »Ich hab was für dich«, sagte er.
Wie der Zwerg neben dem Riesen liefen wir den Hof hinauf zur Scheune. Dahinter hatte Kristoffer seinen Truck mit dem Bauwagen auf dem Anhänger geparkt. Ich staunte, ließ mir erklären, wie die Konstruktion funktionierte. Kristoffer stieg auf den Anhänger, der leicht nachgab. Das passende Gefährt, dachte ich. Kristoffer öffnete eine Tür am Bauwagen, trat ein, winkte mich her. Der Gang war eng, doch breit genug, dass Kristoffer darin gehen konnte. Es gab eine Dusche, eine Sitzecke und einen Schrank aus Pressspanplatte. Kristoffer kramte in einer Kiste und in noch einer, bis er fündig wurde. Er hielt ein beiges Stück Stoff in der Hand, kletterte aus dem Wagen und ich hinterher.
»Hab ich damals geschenkt bekommen«, sagte er und entfaltete den Stoff. Es war ein T-Shirt. Es zeigte das Logo des Beduinen, darunter der Schriftzug Dakar.
»Probier mal an«, sagte er.
»Das kannst du mir nicht schenken.«
Kristoffer nickte, als hätte ich etwas anderes gesagt.
Ich zog meinen Pullover, das T-Shirt aus und zog mir das von Kristoffer über. Es passte mir perfekt.
»Hast du es jemals getragen?«
Kristoffer schüttelte den Kopf.
»Warte mal hier«, sagte ich und rannte zur Scheune.
Es war kein angemessener Tausch, abgesehen davon, dass Kristoffer nichts im Gegenzug verlangt hatte. Dennoch war es mir sofort eingefallen und sicher würde er sich darüber freuen.
Kristoffer hielt das Schmuckei zwischen Daumen und Zeigefinger, schüttelte es, worauf die Glocke im Inneren erklang, und wieder zog sich das Gesicht beim Grinsen zu einer Landschaft aus Falten zusammen. Er reichte mir seine Hand und ich schlug ein.
Wir kehrten zum Lagerfeuer zurück, Kristoffer ließ sich von Andersch ein Steak in die Hand geben. Plaudernd saßen sie dort mit ihren Tellern und Schnaps in den Gläsern. Als ich mich in den Kreis neben Sophie setzte, unterbrach Birgit ihr Gespräch.
»Ich will euch mal jemanden vorstellen«, sagte sie. Ruhe kehrte ein.
»Da vorne sitzt einer, den ihr kennenlernen solltet. Fragt ihn selbst nach seinem Namen.« Die Leute schauten mich an, mit halbem und vollem Lächeln, und ich saß da in meinem neuen T-Shirt, über das ich den Pullover bis zum Erfrieren nicht ziehen würde, fühlte ihre Blicke auf mir wie bei einem Tribunal.
»Der Junge hat was Besonderes«, sagte Birgit. »Ihr hättet es sehen sollen. Die Beine rechts und links hat er dort oben auf meinem Dach gesessen.« Einige Leute lachten. Ich fühlte mich nicht beschämt, im Gegenteil, es war ein Lachen, das ich für Anerkennung hielt.
»Immer dasselbe. Kurz vor Mittag zündet er sich eine Zigarette an und, wenn er denkt, dass niemand ihn beobachtet, dann schaut er in die Ferne und dann kann man es in seinem Gesicht sehen.«
»Was?«, fragte jemand.
»Leider muss er zurück. So sind die Dinge nun mal.«
Ich sah Kristoffer nicken, Sophie kniff mir in die Seite, woraufhin ich einen Mundwinkel hochzog.
»Ich danke dir sehr für die schönen Wochen«, sagte Birgit und warf mir einen Luftkuss zu.
Ein Gast klatschte, die anderen nach und nach auch, der Malteser bellte vor Schreck. Ich schämte mich für diese unverdiente Rede, diesen unverdienten Applaus und diese unverdienten Freunde. Dann räusperte ich mich.
»Ich habe euch auch was zu sagen.«