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Hier beginnt es

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Hier beginnt es

»… und schneller als du denkst, bist du Teil der Familie«, sagte Birgit, die Hände am Lenkrad, und kicherte. Ich konnte nicht anders, als sie mit ihren perückenartigen Zöpfen, dem jugendlichen Kleidungsstil und großmütterlichen Gesicht auf Anhieb zu mögen. Ihr Englisch war besser als meines und der schwedische Akzent, der von einer mädchenhaften Stimme getragen wurde, passte nicht zur Ausdrucksweise, wie ich sie bei meinen Gastgebern in Malmö kennengelernt hatte. Das hier war nicht die Großstadt, das war gut zehn Kilometer von Skövde entfernt bei Axvall am Hornborgasjön. Die Karosserie klapperte, als wir den Weg hinauf zum Hof über eine von Nacktschnecken gepflasterte Straße fuhren – eine Plage, wie Birgit mehrfach betonte, während die Schneckenkörper beim Überfahren unter den Reifen rumpelten. Um die Alleen von Kirschbäume erstreckten sich Felder, versprengte Waldstücke mit Findlingen darin. Ich zählte drei Häuser.
Eine schlammige Einfahrt und wir erreichten das Grundstück. Birgit parkte neben einer Egge und einem Holzverschlag. Beim Aussteigen kam mir die Luft kälter vor als noch am Bahnhof in Skövde, von dem Birgit mich abgeholt hatte. Hier roch es feucht – nach Pilzen und Kaminfeuer. Ich zog meinen Rucksack und die Tüte von unserem Stadteinkauf aus dem Kofferraum. Birgit führte mich zu einem länglichen Gebäude, das sie als ‚Scheune‘ bezeichnete.
»Schön hier«, sagte ich.
»Es gibt viel Platz«, begann sie. »Wenn du willst, musst du nie wieder weg.«
Ich lachte verhalten, um Birgit nicht zu kränken. Länger als die geplanten zwei Wochen hatte ich nicht vor zu bleiben.
»Wer arbeitet hier noch?«, fragte ich.
»Lernst du noch kennen.«
Unterhalb der Scheune lag Birgits Hof. Ein Schuppen in Ochsenblutrot, dahinter ein freistehendes Schwedenhaus, eine Art Villa Kunterbunt inmitten eines verwilderten Gartens. Wie auf den Fotos im Internet, dachte ich.
»Ihr schlaft in der Scheune«, sagte Birgit. »Da drüben in meinem Haus essen wir.«
Sie schloss die Scheune auf, ging über schmale Treppenstufen voran, bis wir einen Sparrendachboden betraten, in dem es nach Holz und Duftkerzen roch. Ringsum bezogene Betten.
»Such dir eins aus.«
»Wer schläft dort drüben?«, fragte ich. In der Ecke stand ein Bett, auf dem eine Waschtasche, Hemden und eine zusammengeklappte Handsäge lagen.
»Andersch«, antwortete Birgit. »Komm runter, wenn du fertig bist.«
»Zum Haus?«, fragte ich.
Birgit nickte. Noch einmal lächelte sie, dann verabschiedete sie sich. Licht fiel durch die Gaubenfenster. Ich packte meinen Rucksack aus, legte mich aufs Bett, schloss die Augen, horchte in den Raum hinein.

Rasiert, im dicken Pullover lief ich die Gehwegplatten von der Scheune zu Birgits Haus hinab. Durch die Fenster sah ich sie in der Küche stehen. Neben ihr eine zierliche Frau, sicher zwanzig Jahre jünger, mit grau meliertem Haar, das zu ihrem jugendlichen Gesicht nicht passte. Ich trat ein, eine Türglocke erklang. Birgit grüßte und stellte mich der Frau als den neuen Dauergast vor.
»Ich bleib nur zwei Wochen«, sagte ich. Die Frau nickte aufmerksam.
Ihr Name war Sophie, sie arbeitete als Lehrerin in einer katholischen Schule bei Graz, betonte jedoch gleich, dass sie nicht besonders gläubig sei. Wir einigten uns darauf, in Birgits Anwesenheit Englisch zu sprechen. Sophie trug ein breites Haarband aus blauem Stoff und wenn sie lächelte, konnte man ihr Alter an den zahlreichen Falten um ihre Augen ablesen. Ich fand es seltsam, dass sie wie eine junge und alte Frau zugleich aussah. Während wir Gemüse für ein einfaches Ofengericht schnitten, fragte Sophie mich aus. Ich erzählte, dass ich studierte, nach Halle bei Leipzig gezogen sei, um vom Lehramt zur Germanistik zu wechseln; Leipzig wäre das neue Berlin. Sie sei nie in Berlin gewesen, meinte sie. Sophie befragte mich mit einer Neugier, die ihr den Anschein verlieh, sich mindestens so sehr für die Lebensentwürfe anderer zu interessieren wie ich. Dass sie viele Jahre als Lehrerin gearbeitet hatte, fand ich beeindruckend. Ich fragte mich, wie man so mutig oder unsicher sein konnte, auch im fortgeschrittenen Alter und mit gewissem gesellschaftlichen Erfolg wieder etwas Neues vom Leben einzufordern oder zumindest danach Ausschau zu halten. Wie ehrlich Sophie von ihrem Alleinsein in der Steiermark sprach, dem Wunsch, Schwedisch zu lernen und mit den Händen zu arbeiten, machte sie mir sympathisch. Sie war eine kleine, hagere Person und ihre Wangen färbte ein Netz roter Äderchen. Ihr freundliches, sorgenvolles Gesicht und wie sie mich ohne Aufdringlichkeit nach meinem Leben ausfragte, das berührte mich. Birgit hatte sich zurückgelehnt, sagte kaum etwas. Es brauchte kein Wort, um einen Eindruck von ihrem und Sophies Verhältnis zu gewinnen. Während Birgit unserem Gespräch lauschte, sah ich, wie starr das Lächeln in ihren Mundwinkeln hing. Sie musste Sophies Freundlichkeit und Interesse gut kennen. Sicher galt die Beharrlichkeit, mit der Sophie ihre Fragen stellte, auch für die Arbeit bei Birgit. Trotz allem war das nicht ihr Hof. Auch wenn ich erfuhr, dass Sophie Birgit eine Miete zahlte, jetzt, da sie für ein halbes Jahr zum Arbeiten und Schwedischlernen hergekommen war, ahnte ich, dass ein solches Zusammenleben nicht ohne territoriale Grenzkonflikte ablief.
Während das Gemüse im Ofen fiepte, erzählte Birgit von ihrer Tochter in Göteborg, dem indonesischen Vater und geschiedenen Ehemann und wie sie das Grundstück nahe des Hornborgasjöns für einen Spottpreis gekauft hatte. Die Anfangszeit sei einsam gewesen, aber nach und nach habe sie gelernt, dass man selbst hier draußen eine Familie finden könne. Sophie und Birgit warfen sich ein Lächeln zu. Sie interessiere sich für die Kraft von Edelsteinen, redete von Esoterik und Nachhaltigkeit. Ich hörte ihr zu, widersprach jedem Satz innerlich, während ich nach außen zu allem nickte, ihre Annahmen sogar mit eigenen Argumenten fütterte. Einerseits hielt ich diese Dinge für Hokuspokus, andererseits wollte ich mir meinen Zynismus abgewöhnen. Ich befürchtete etwas Existentielles nur deshalb zu verpassen, weil es mit rationalem Denken zu leicht zu entkräften war. Die Eieruhr schrillte und wir tischten auf.

Das Ofengemüse wurde mit frischem Rosmarin und Thymian aus dem Garten garniert. Ich erfuhr, dass außer Sophie und mir nur ein Däne namens Andersch, mit dem ich das Schlaflager teilte, bei Birgit arbeitete. Er lebte hier schon über ein Jahr, würde heute Nacht von einem Ausflug zurückkehren. Da das Thema keinen Gesprächsstoff brachte, fragte ich nach meiner Arbeit, brüstete mich noch einmal damit, vor meinem Studium Erfahrungen in einer Tischlerei gesammelt zu haben, was ich Birgit bereits in einer E-Mail ausgebreitet hatte.
»Andersch ist auch Tischler«, sagte Birgit. »Ihr könnt zusammenarbeiten. Für Tischler gibt es hier so viel Arbeit. Da wirst du in einem Jahr nicht mit fertig.«
»Es muss ja nur für zwei Wochen reichen«, sagte ich grinsend. Birgit verstand den Seitenhieb nicht oder ignorierte ihn absichtlich.
»Du könntest auch den Schuppen mit Rötfärg streichen und wenn du ein Schatz bist, kratzt du mir das Moos vom Dach. Hier oben …«, sie deutete mit einem ihrer wurstigen Zeigefinger über sich.
Eine Weile noch saßen wir zusammen, aßen, tranken Wein. Birgit spielte uns etwas auf der Gitarre vor, sang mit ihrer piepsigen Stimme dazu, und ich musste mich anstrengen, nicht loszuprusten, auch wenn ich nicht gerade besser sang. Birgit hatte ein unfreiwilliges Talent, Witze zu erzählen. Mit unschuldigem Gesichtsausdruck mimte sie die dänische Prinzessin, die sich bei ihrem letzten Staatsbesuch durch ihr fehlendes Rhythmusgefühl lächerlich gemacht hatte. Ihre drallen, zugleich runzeligen Hände klatschte Birgit ineinander, als ob sie nach Fliegen schlüge. Sophie und ich konnten uns nicht einkriegen vor Lachen. Wie vor zwei Kleinkindern wiederholte Birgit ihren Witz ein zweites und drittes Mal, es funktionierte. So verbrachten wir unseren ersten Abend.
Auf dem Weg zur Scheune und ins Bett schmunzelte ich noch immer, schmeckte den klebrigen Wein auf der Zunge. Im Duschraum neben Sophies Quartier im Erdgeschoss wusch ich mir das Gesicht, freute mich über das Wimmeln der Spinnen, die mit leeren Netzen fetter Beute harrten; es bedeutete, auf dem Land zu sein. Andersch war noch nicht zurückgekehrt. Ich warf mich ins Bett, knipste das Licht aus und schlief so fest wie lange nicht.

*​

Die Melodie des Handyweckers trällerte mich aus dem Schlaf. Ich hörte ein Schnarchen. In dem zuvor leeren Bett lag nun der Rückkehrer, mir sein breites Kreuz zugewandt. Schnell zog ich mir etwas über, schlich mich hinaus in die Kälte. Nebel hing in den Wipfeln der Tannen, troff von Fensterscheiben und Hauswänden. Am Himmel hinter einer Wand aus Grau leuchtete die Sonne, ein fast weißer Kreis. Ich spazierte zur Villa Kunterbunt, als lebte ich hier schon seit langem. Die Türglocke erklang, an der Anrichte stand Birgit, die mit ihrem Kopf beinahe die niedrige Decke der Küche berührte. Gemeinsam deckten wir für vier Personen ein. Sophie, das blaue Stirnband im Haar, stieß mit zwei Tassen voller Himbeeren dazu. Wie sich herausstellte, war das Pflücken ihr morgendliches Ritual, für das sie gern etwas früher als alle anderen aufstand.
Birgit hatte den Ofen zum Heizen geöffnet. Wir aßen Müsli mit Joghurt und Beeren, als Andersch hereinpolterte. Er war ein kräftiger, für sein Alter gut aussehender Mann mit blauen Augen, breitem Kinn und grauem Stoppelbart. Er trug eine Beanie, eine Daunenweste über einem eng anliegenden Longsleeve, das die muskulösen Oberarme betonte. Alles in allem sah er aus wie jemand, den ich mir als Bergführer einer hochalpinen Tour vorstellte. Er grüßte, hielt mir seine Hand hin. Dann umarmte er Birgit und Sophie, was seiner groben Erscheinung etwas Herzliches verlieh. Kurz fühlte ich mich fremd angesichts der Vertrautheit zwischen den Dreien. Andersch verströmte einen herben Männergeruch, etwas, das ich mochte, selbst aber nicht an mir hatte. Er trank seinen Kaffee mit einem Schuss Milch, sah über die Müslischüssel gebeugt wie ein kleiner Junge aus.
Nach dem Frühstück gab es eine Arbeitsbesprechung. Sophie würde die Beete umgraben, Andersch und ich den Schuppen vorm Haus mit Rötfärg, dem Schwedenrot, streichen. Birgit hatte etwas in der Stadt zu erledigen, versprach noch einen Eimer Farbe mitzubringen und eine Feuerschale für das Fest in drei Wochen.
»So lange bleibst du aber«, sagte sie mit gespielter Strenge.
Was sollte ich anderes tun, als zu nicken?

Mit einem Rundholz rührte Andersch im Brei, der den Namen Ochsenblutrot verdiente. Die alte Farbe trugen wir mit improvisierten Schleifklötzen ab, kamen im Rhythmus der Arbeit ins Gespräch.
»Wo bist du gewesen?«, fragte ich.
»Ich mach einen Film«, sagte Andersch. »Hier oben gibt es viele Hobos, die in den Wäldern leben. Alte Leute, die sich von Beeren und Pflanzen ernähren. Ich mach eine Doku über ein paar von ihnen. Einige kennen mich und machen mit. Ich glaub, das schauen sich eine Menge Leute an.«
Ich war überrascht und begeistert, das Andersch kein Bergführer, sondern, wie es schien, eine Art Künstler war. Er erzählte, dass er als Maler in Kopenhagen gelebt habe, seine Wohnung, zugleich Atelier, momentan aber untervermiete. Dann zeigte er mir Bilder seiner Gemälde auf dem Handy. Das waren große Leinwände. Dunkle Farben, die abstrakte Bildräume eröffneten, dennoch einen Sinn für Figürlichkeit sowie ein technisch überzeugendes Raum- und Körpergefühl verrieten. Andersch wischte zu einigen mit Rötel gefertigten Skizzen. Er habe auch als Zeichenlehrer gearbeitet. Das sei die Freiheit. Kein großes Geld, dafür ein Leben nach eigenen Prinzipien.
»Ganz interessant«, sagte ich. »Ich hab auch mal versucht zu zeichnen, aber das hier ist wirklich was. Mein Vater macht übrigens Filme. Für Arte, das ist in Deutschland eine große Nummer. Vielleicht kann ich euch vermitteln.«
Anderschs Augen wurden größer, er nickte hastig, erzählte, dass er sich schon eine Kamera gekauft habe und bald mit dem Filmen beginne. Ich dachte an die Auflagen, von denen mein Vater gesprochen hatte. Mindestens eine Szene mit Drohnenflug, Intro-Musik mit Streichern, jemand für die Kamera, jemand fürs Drehbuch, jemand für Produktion und Postproduktion. Andersch dachte vielleicht, man bräuchte nichts zu tun, als zu ein paar Aussteigern in den Wald zu spazieren, sie zu überreden, vor die Kamera zu treten, und am Ende schnitt man einen Film daraus und verdiente einen Haufen Geld. Je mehr ich darüber nachdachte, desto unredlicher kam mir das Projekt vor. Ich hielt es für voyeuristisch, zumal ich Anderschs Motive nicht einschätzen konnte. Er glaubte also, viele Leute wollten das sehen. Worum ging es ihm? Schon bereute ich, ihm den Kontakt angeboten zu haben. Einerseits beeindruckte mich sein Mut, andererseits war ich mir sicher, dass das Projekt noch im Entstehen versanden würde. Während Andersch weiter überzeugt auf mich einredete, versuchte ich mir vorzustellen, gemeinsam mit ihm an dem Projekt zu arbeiten.
»Du gibst mir seine E-Mail, ja?«
»Ich such sie dir die Tage mal raus«, log ich.
Bis zum Mittag strichen wir die Stirnseite des Schuppens. Birgit war zurückgekehrt, wir kochten Bandnudeln mit Lachs, Salbeibutter und Tomaten aus dem Garten. Noch immer dachte ich über das Gespräch mit Andersch nach. Ich fühlte mich nicht bereit, die Dinge anders zu sehen, dachte an Halle, an die Germanistik, die ich gegen das Lehramt, die sichere Bank, eingetauscht hatte. Ich war vierundzwanzig und was hatte ich bisher auf die Beine gestellt? Neuerdings versuchte ich mich im Schreiben, hatte die Idee, mit der Germanistik einen Job als Lektor zu finden. Die Geschichte zehntausender Arbeitsloser, das war mir bewusst. Doch neben meinen Zweifeln besaß ich auch so etwas wie Hoffnung, bröckelnd zwar, aber stark genug, um mich zu immer neuen Unwägbarkeiten anzuspornen.
Das Ausstreichen der Farbe mit dem Malerpinsel beruhigte mich. Andersch arbeitete sich zur Nord-, ich zur Südseite vor. Nach einer Weile war er ganz hinter seiner Wand verschwunden. Den übrigen Nachmittag bekam ich ihn nicht zu Gesicht, in meinem Kopf war es ruhiger geworden. Mit lockerer Handbewegung verstrich ich den letzten Rest Farbe, sah, wie die anderen Stellen nach und nach zu einem kreidigen Rot antrockneten. Es war eine Binsenweisheit, doch es brauchte wirklich wenig, um glücklich zu sein.

Den Nachmittag hatte ich frei. Ich setzte mich in den Garten, genoss die vom Tag übrigen Sonnenstrahlen, wanderte mit ihnen wie eine Kompassnadel, bis auch sie hinter den Tannen verschwunden waren. Vor dem Essen hatte ich Zeit, in einem meiner mitgebrachten Bücher zu lesen. Lieber aber machte ich einen Spaziergang. Ich kam an zwei Ameisenhaufen vorbei, einer Pferdekoppel, trug innere Monologe aus, bis niemand mehr was zu sagen hatte.
Erst in der Dämmerung kehrte ich zum Hof zurück. Andersch hatte einen Salat zubereitet, wir tranken, unterhielten uns. Als Birgit die Gitarre rausholte, ging Andersch ins Bett. So saßen wir eine Weile zu dritt. Ich nahm die Gitarre, Birgit sang und Sophie verlangte Zugabe um Zugabe. Birgit erzählte von den Leuten, die in den letzten Jahren bei ihr gearbeitet hatten. Alle wären sie in ihr altes Leben zurückgekehrt.
»Aber ich glaube, du bist ein bisschen mutiger«, sagte sie und zwinkerte mir zu.

*​

Bereits vor einer Woche hatten Andersch und ich den Schuppen fertiggestrichen. Nun arbeitete ich auf dem Dach der Villa Kunterbunt, legte die Beine links und rechts über den Dachfirst, hatte mal Glück, mal Pech mit dem Wetter. Mit einer Harke und anderem zweckentfremdeten Werkzeug kratzte ich dicke Ballen Moos von den Schindeln. Wenn das Mittagessen vorbereitet wurde, rauchte ich meist noch eine von Anderschs selbstgedrehten Zigaretten, stieg die Leiter hinab, um in der Küche zu helfen.
Heute waren wir zu zweit. Während Sophie ein Fenchelgratin vorbereitete, machte ich mir die Hände beim Schneiden der Roten Bete schmutzig.
»Was hältst du eigentlich von Andersch?«, fragte Sophie unvermittelt.
Ich legte das Messer neben das Holzbrettchen. Sophie schaute mich erwartungsvoll an.
»Ist da was zwischen euch?«, fragte ich.
»Woher weißt du das?«
Ich wusste es nicht, hatte ins Blaue hinein gefragt. Eine Chance, mich zu erklären, bekam ich nicht. Sophie wirkte plötzlich aufgeregt.
»Du darfst es Birgit nicht erzählen, okay?«
»Ja, natürlich«, sagte ich, wollte sie beruhigen. Ich wusste nicht, was sie auf einmal hatte.
»Seit wann?«, fragte ich. Sophie schüttelte den Kopf, als könnte sie darüber nicht weiter sprechen. Ich konnte nur vermuten, was dahinter steckte.
»Es ist von seiner Seite sowieso nicht so richtig«, meinte sie.
»Hat er das gesagt?«
»Ich glaube, er ist nicht der Beziehungs-Typ.«
In dem Punkt wollte ich Sophie nicht widersprechen. Die Beschreibung passte zu gut zu dem Bild, das ich mir von Andersch gemacht hatte.
»Und warum darf Birgit es nicht wissen?«, fragte ich mit gesenkter Stimme.
»Du behältst es wirklich für dich?«
Ich nickte.
»Also, ich glaube, sie hatten mal was. Auf jeden Fall steht sie auf ihn.«
»Meinst du echt?«, fragte ich.
»Klar. Siehst du nicht, wie sie ihn anschaut?«
»Vielleicht denkst du das nur. Sie sind fünfzehn Jahre oder mehr auseinander.«
»Das macht doch nichts.«
In diesem Moment kam Andersch herein, die Türglocke erklang und Sophie schaute aufs Fenchelgratin, als wäre nichts gewesen.
Beim Mittagessen im Garten versuchte ich in Anderschs und Birgits Gesichtern Beweise für Sophies Vermutungen zu finden. Tatsächlich lag da etwas in Birgits Blick, aber ob es das war, für das Sophie es hielt, wusste ich nicht. Das Gespräch hatte einen Eindruck davon hinterlassen, dass die Verhältnisse selbst in einer so kleinen Gruppe komplizierter waren, als es auf den ersten Blick erschien. Birgits Hof war ein Rückzugsort, aber deshalb noch lange kein Paradies. Hier machten wir uns nützlich und tatsächlich schmeckte das Essen besser, wenn man meinte, es sich mit den eigenen Händen verdient zu haben. Aber wenn wir einmal ehrlich waren, kam nur ein kleiner Teil davon aus dem Garten, das meiste hingegen aus dem Supermarkt in Skövde. So lange sich die Speisekammer auf magische Weise füllte, konnten wir so tun, als wäre es anders. Im Grunde aber lebten wir von der Mietfreiheit und dem Gehalt, das Birgit als Krankenschwester verdiente, in einem Land, das es sich leistete, sein Pflegepersonal gut zu bezahlen.

Für den nächsten Tag gab Birgit uns frei. Sie wolle ihren Urlaub genießen, uns überreden, mit ihr auf den Mineralienmarkt bei Falköping zu fahren. Andersch blieb mit der Ausrede zurück, noch ein paar Bretter für den Anbau des Schuppens zuschneiden zu wollen. Zu dritt in Birgits Volvo fuhren wir über die Nacktschnecken, die Landstraße vorbei am Hornborgasjön und roten Bauernhäusern, bis wir nach einer halben Stunde den Parkplatz vorm Mineralienmarkt erreichten.
Mit Stoff bespannte Stände erstreckten sich auf einem ungepflasterten Pfad zwischen weißen Reihenhäusern. Wir trödelten von Stand zu Stand. Neben Edelsteinen, Magnetiten, geschliffenem Katzengold und Sandsteinklumpen gab es Schmuckeier, Traumfänger, Topflappen und Kochlöffel. Einige Menschen hier sahen wie Zauberer aus, trugen schmale, runde Brillen, selbstgenähte Kleidung, die Frauen gestrickte oder gefilzte Pulswärmer, die Männer weißen oder grauen Bart, zumindest aber schulterlanges Haar. Birgit suchte einen Rosenquarz. Mehr als zweitausend Kronen, etwa zweihundert Euro, wollte sie nicht ausgeben, doch ein großes Exemplar könne selbst die Energie eines toten Raumes, manchmal sogar eines ganzen Hauseswiederbeleben. Ich stellte Birgits Ansichten nicht in Frage. Wenn sie daran glaubte, wären die zweihundert Euro sicher gut investiert. Auch ich ließ mich hinreißen, etwas zu kaufen. Für fünfzehn Kronen erstand ich ein buntes Ei, das man schütteln konnte, wodurch eine Glocke im Inneren erklang. Ich fand das einen guten Preis.
Im langen Gemeindehaus in der Mitte des Marktes kehrten wir ein. Dort gab es zwei verschiedene Sorten Kuchen und rabenschwarzen Filterkaffee, den man beliebig oft nachfüllen konnte. Die Schweden seien große Kaffeetrinker, meinte Birgit, und das leuchtete mir ein, schließlich musste man ja mit irgendetwas gegen die zunehmend kurzen Tage vorgehen. Ich genoss es, hier mit Birgit und Sophie zu sitzen, glaubte, dass wir eine gute Clique abgaben. Birgit ließ sich von uns überzeugen, den größten Quarz zu kaufen, Sophie stocherte eine halbe Stunde lang in ihrem Blechkuchen herum und ich füllte mir fasziniert von der Möglichkeit alle paar Minuten Kaffee nach.

*​

Fast zwei Wochen waren vergangen, seitdem Birgit mich am Bahnhof in Skövde abgeholt und mit auf ihren Hof genommen hatte. Der Dachfirst der Villa Kunterbunt war mein fester Arbeitssitz geworden. Andersch war nicht ganz schwindelfrei und Sophies Kreislauf zu unbeständig, um in der Höhe zu arbeiten. Das Mooskratzen war also wie geschaffen für mich. Birgit dankte es mir, indem sie sich gelegentlich auf die Anhöhe stellte, das Dach überprüfte und anerkennend mit dem Kopf nickte.
An einem Sonntag saßen wir zu zweit in der Küche, tranken Tee und aßen Kekse. Ich hatte das vage Gefühl, dass Sophie und Andersch nicht zufällig zur gleichen Zeit auf dem Hof verschwunden waren. Birgit tunkte ihren Keks in den Tee, saugte die aufgeweichte Masse mit den Lippen an.
»Du kannst hier bleiben«, sagte sie. Es klang, als hätte ich sie darum gebeten, und ich überlegte, ob ich das vielleicht getan hatte.
»Du meinst hier?«, fragte ich.
Birgit nickte.
»Danke.«
»Also bleibst du?«
»Ich weiß nicht.«
Birgit schob mir die Kekse rüber, doch ich lehnte ab.
»Ich wünsche mir sehr, dass du bleibst.«
»Aber was soll ich hier machen?«
»Nichts«, sagte Birgit und schaute mich eindringlich an. »Du kannst ein Buch schreiben, du kannst Schweden erkunden, du kannst die Vögel im Hornborgasjön beobachten, wandern gehen, Leute einladen und mit mir ein Energiezentrum in der Scheune errichten.«
»Bis auf das Letzte klingt das ziemlich verlockend«, sagte ich. Ich musste grinsen und Birgit zum Glück auch.
Jetzt nahm ich mir einen Keks, schaute Birgit kauend an und sie mich. Obwohl nichts versprochen war, wirkte sie zufrieden. Ich brauchte Bedenkzeit.

Der Sonntag war wie dafür gemacht, meine Angelegenheiten zu sortieren. Ich lief zwischen den Beeten, pflückte Himbeeren, setzte mich zum Grübeln in den Garten. Bereits so manche Chance hatte ich mir verbaut. Das schlechte Abitur, die abgebrochene Lehre. Meine Eltern unterstützten mich, doch auch ihre Geduld kannte ein Ende. Ich jobbte, aber wie lange konnte ich mir das Studium noch leisten? Vielleicht war es die letzte Gelegenheit. Ohne Ausbildung keine Perspektive. Daran glaubte ich zwar nicht, aber wohin würde mich diese Querdenkerei führen? Jetzt dachte ich vielleicht, ich könne das System austricksen. In zehn Jahren aber wäre ich bereits deutlich älter, das System hingegen hätte sich wieder einmal verjüngt.

Meine Gedanken hatten mich nicht gerade aufgebaut. Ich fühlte mich durcheinander, wollte nicht weiter nachdenken, starrte geradeaus. Mit spitzen Schritten kam Sophie durchs Gras gelaufen, setzte sich neben mich.
»Wo bist du gewesen?«, fragte ich.
»Hab ein bisschen gelesen«, sagte Sophie.
»Ich dachte, du wärst vielleicht mit Andersch.«
Sophie errötete, sagte nichts dazu.
»Und du?«, fragte sie.
»Ich denk darüber nach, ob ich mal wieder abbrechen sollte …«
»Du willst nach Hause?«
»Ich weiß nicht, was ich will. Das ist das Problem«, sagte ich.
Sophie nickte verständnisvoll. Ich wartete darauf, dass sie mir einen Ratschlag erteilte, vergeblich.
»Ich mag es hier«, sagte ich. »Vielleicht muss ich die Chance einfach nutzen.«
»Welche Chance?«, fragte Sophie.
»Birgit hat mich gefragt, ob ich bleiben will. Dauerhaft.«
»Einfach so?« Ich meinte Empörung in Sophies Frage zu hören.
»Ja, einfach so.«
»Glaubst du nicht, dass es dir langweilig wird?«
»Nein, glaube ich nicht. Ich bin ja auch ein langweiliger Typ.«
Sophie lachte. »Dann solltest du es dir wirklich überlegen. Ich würde so weit gehen, zu sagen, dass das hier ein Paradies für Langweiler ist.«
»Okay, dann bin ich auf jeden Fall dabei«, sagte ich.
Wieder lachte Sophie und ich fühlte mich bereits ein ganzes Stück besser.
»Du solltest einen Spaziergang machen. Dann wirst du schon darauf kommen.«

Auf dem Weg die Straße hinab zum Hornborgasjön knipste ich mit der alten Olympus, die mein Vater mir geschenkt hatte. Auf den Bildern würden unter anderem die Scheune, die schlammige Einfahrt und natürlich die Nacktschnecken zu sehen sein. Den restlichen Weg schaute ich mir lieber auf die Füße, anstatt versehentlich auf einer von ihnen auszurutschen. Auf einem der Felder an der Straße nach Skövde staubte ein Traktor mit breitem Mähdrescher. Dahinter, ein, zwei Kilometer entfernt, lag der See. Ich lief an der Straße entlang, orientierte mich an einem Schild mit Runenzeichen, das hier auf Sehenswürdigkeiten hindeutete, nicht wie bei uns zu Hause. So kam ich auf einen Hof, wo eine Frau in Gummistiefeln und Holzfällerjacke die Hand zum Gruß hob. Hinter dem Hof führte ein Pfad über Wiesen mit grasenden Kühen weiter. Die Tiere glotzten neugierig, trabten auf mich zu und ich vor ihnen weg. Aus sicherer Distanz fotografierte ich ihre Gesichter.
Die Anhöhe war mit Moos überwachsen, behauene Steine lagen zu einem Kreis ausgebreitet, ein Schild informierte darüber, dass dies einmal ein ritueller Ort gewesen sei. Ich schaute ins Land, zum Hornborgasjön, bis zu den Wäldern, die noch dahinter an einem weit entfernten Horizont lagen. Einen geeigneteren Ritualort konnte ich mir in diesem Moment nicht vorstellen. Ich dachte an vieles, bloß nicht an lästige Entscheidungen und Probleme, knipste noch ein paar Fotos und kehrte über denselben Weg, den ich gekommen war, zurück.

An diesem Abend saßen wir in voller Runde am Tisch. Sophie und Andersch sahen zufrieden aus, Birgit machte ein langes Gesicht. Wir aßen Auflauf mit Brokkoli, Mandeln und Muskat. Ich hatte nichts zu sagen und blieb auch nicht zum Gitarrenspiel. Die Spinnen im Bad ekelten mich und das Bett fühlte sich zu klein an. Der Hof, die drei, das war ja ganz schön, lud zum Träumen ein. Aber wohin führten diese Träume? Ich stellte mir Andersch vor, mit seinem Fahrrad und der »neuen Kamera« im Wald, mit Ende vierzig noch allein, unfähig, einer Person wie Sophie die Karten offen auf den Tisch zu legen. Griesgrämig und mit der Frage, ob der Zyniker in mir wieder einmal gesiegt hatte, schlief ich ein.

*​

Soweit es ging, wich ich Gesprächen mit Birgit aus. Ich bekam einen Anruf von meinen Eltern. Sie erklärten, ich hätte die Rückmeldephase verpasst, stünde kurz vor der Exmatrikulation. Es wäre schon gut, wenn ich nächste Woche zurückkäme und alles regelte, ich müsste solche Angelegenheiten im Übrigen so langsam selbst in die Hand nehmen. Es war mir peinlich, auch wenn es das sicher nicht musste.
Meine Arbeit auf dem Dach der Villa Kunterbunt war so gut wie abgeschlossen. Nur noch ein kleines Feld musste ich freikratzen, als Birgit aus der Küche auf die Anhöhe trat und mit den Händen zum Trichter geformt verkündete, sie habe gerade mit einem Freund telefoniert, der das Problem auch kenne. Es gebe da ein Mittel zum Sprühen, das die Sache in wenigen Stunden erledige. Das Moos falle quasi von selbst ab. Sie schaute mich mit dem Blick eines Clowns vorm Scherbenhaufen an, bereit, einen Witz zu reißen und sich neuen Dingen zuzuwenden. Ich hielt die Hacke hoch, zuckte die Achseln, setzte ein Lächeln auf, während in mir eine kleine Welt zusammenbrach.
Gemeinsam mit Andersch begann ich die Planung einer Außendusche, versuchte nicht weiter an das Moos auf der Villa Kunterbunt zu denken. Birgit wollte, dass die Dusche wie ein Totempfahl aussieht, aus dem geschnitzten Maul eines Frosches sollte Wasser fließen. Ich schätzte, meine Berichte vom Praktikum in der Tischlerei hatten Eindruck geschunden. Tatsächlich hatte ich bis auf ein paar Stöcke fürs Knüppelbrot in meinem Leben wenig Nennenswertes geschnitzt. Nach einigen Zeichenversuchen überließ ich Andersch die Sache, zog mich raus mit der Ausrede, dass wir uns nur gegenseitig auf die Füße träten. Birgit kündigte für den Nachmittag den Besuch eines Freundes an.
Bei Kaffee und Kuchen im Garten lernten wir Kristoffer kennen. Wenn er die Tasse zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, hatte ich den Eindruck, der Henkel müsste abbrechen. Menschen von Kristoffers Ausmaßen kannte ich bislang nur aus Filmen. Er war größer als Birgit, noch breiter, ohne beleibt zu sein. Sein Gesicht war faltig wie das einer Bulldogge und er trug eine breite Silberkette um den Hals, saß völlig deplatziert und in sich gekrümmt auf dem Gartenstuhl. In breitem Akzent, der sich um Deklination und Zeitformen nicht scherte, berichtete er von seiner Fahrt, der Familie in Norwegen. Es stellte sich heraus, dass er die letzten zwei Jahre als Automechaniker mit seinem Truck und einem Bauwagen auf dem Anhänger durch Schweden gereist war.
»Mama geht’s nicht gut. Zeit nach Hause zu gehen«, brummte er.
Es rührte mich, wie verletzlich der große Mann sich gab. Ich erfuhr, dass er hergekommen war, um Birgit seinen Anhänger zu verkaufen und nach Norwegen zurückzukehren.
»Wie lange bleibst du?«, fragte Birgit.
»Zum Fest, wenn ich darf.«
»Wenn du nicht wieder alles alleine aufisst …« Birgit schmunzelte.
Kristoffer zog einen Mundwinkel hoch und sein Gesicht schien nur noch aus Falten zu bestehen. Man merkte, dass er sich schämte.

Für Andersch und mich bestanden die Vorbereitungen für das Fest darin, die Feuerschale auszurichten und aus einigen Brettern und Stämmen Sitzbänke und Hocker zu zimmern. Sophie und Kristoffer schlugen Feuerholz, Birgit kaufte Maiskolben, Steaks und Flusskrebse, bereitete Marinaden und einen Krebssalat mit Mayonnaise, viel Dill und Rogen vom Seelachs vor. Ich spürte, dass es Zeit war, mit Birgit zu reden, doch ich konnte mich nicht überwinden, den ersten Schritt zu tun. So verging der letzte Tag vorm Fest.

*​

Die Sitzbänke waren uns gelungen. In meinem Praktikum hatte ich selbst nie etwas gebaut, meist nur gehobelt, abgerichtet oder geschliffen. Zur Probe setzte ich mich hin, wippte ein bisschen. Andersch sah es und grinste, wohl weil er ahnte, dass es mir etwas bedeutete. Ich drehte mich um, Birgit kam auf uns zu. Sie wirkte unzufrieden, vielleicht war etwas im Haus passiert.
»Können wir mal sprechen?«, fragte sie.
Ich fühlte den Klumpen in der Brust, ahnte, was los war. Nebeneinander und ohne etwas zu sagen, gingen wir ins Haus. Birgit nahm einen Kessel vom Herd, goss dampfendes Wasser in zwei Becher, stellte mir einen mit einem Teebeutel und einem Stück Zucker auf den Tisch. Ich setzte mich und sie sich dazu.
»Du bist schlimmer als Andersch«, sagte sie.
»Weil ich keine Ansagen mache?«
Birgit versenkte den Teebeutel, danach das Stück Zucker im Becher.
»Ich weiß, dass du hier hingehörst«, sagte sie. »Aber du bist furchtbar unentschlossen.«
»Es geht ja hier auch um etwas«, erwiderte ich. Ich fand es ungerecht, dass sie mir einen Vortrag hielt, obwohl es offensichtlich sie war, die etwas von mir wollte. Woher wusste sie eigentlich, wohin ich gehörte? Hatte sie das im Horoskop gelesen?
»Du denkst dir vielleicht, was will ich mit diesen alten Leuten, irgendwo draußen in Schweden.«
»Ja, das denke ich mir. Hast du eine Antwort darauf?«
»Die habe ich dir schon längst gegeben«, sagte Birgit, nippte an ihrem Tee.
Ich spürte, dass es stimmte. Ich war unentschlossen. Im Grunde stellte mein ganzes Studentenleben den Versuch dar, nichts zu riskieren, aber doch genug, um mich hinterher als Individualisten zu fühlen. Das war feige. Da hatte Birgit recht. Doch recht zu haben, reichte hier nicht aus.
»Ich muss weitermachen«, sagte ich, nahm meinen Tee und ging.

Die Gäste kamen am Nachmittag. Das waren Nachbarinnen, Kolleginnen von Birgit, ihre beste Freundin aus Göteborg, die ihren Hund, einen anhänglichen Malteser, mitbrachte. Ein Freund von Andersch war auch mit dabei. Auf drei aneinandergereihten Tischen bauten wir das Buffet auf, Andersch breitete die mit Chili, Knoblauch und Limettenzesten marinierten Steaks auf einem mitgebrachten Grill aus. Erst jetzt kam ich auf die Idee zu fragen, was hier überhaupt gefeiert wurde. Ein nachträgliches Kräftskiva, das Krebsfest zum Start der Saison.
»Und warum Steaks?«, fragte ich.
Andersch schaute mich unschuldig an.
Die meisten Gäste hatten ebenfalls Krebssalate, Branntwein oder Bier mitgebracht. Ich kostete vom Krebssalat, den sie Skagenröra nannten. Ein Geschmack, der mich an Besuche in Lübeck erinnerte. Dazu ein Schluck Aquavit.
Ich unterhielt mich mit Birgits bester Freundin, einem Nachbarn und mit Kristoffer, der allein eine halbe Bank einnahm. Er hatte sich das Glas aufgefüllt, erzählte von seiner großen Zeit als Mechaniker im norwegischen Team beim Rennen von Dakar.
»Manchmal muss man sich was trauen«, sagte er. »Sonst wacht man irgendwann auf und …«
Er schaute mich nicht an, mehr ins Feuer, das vor uns in der Schale loderte. Es war eines dieser Gespräche, bei denen bedeutungsschwere Dinge gesagt wurden, lange Pausen entstanden und kurze, aber nachdenkliche Repliken folgten. Ich hörte Kristoffer gern zu, weil er offensichtlich etwas erlebt hatte. Wenn ich mir die Runde so besah, dachte ich, sie alle hätten was zu erzählen, ich hingegen kam mir undefiniert, fast farblos vor. Kristoffer boxte mir gegen die Schulter. »Ich hab was für dich«, sagte er.
Wie der Zwerg neben dem Riesen liefen wir den Hof hinauf zur Scheune. Dahinter hatte Kristoffer seinen Truck mit dem Bauwagen auf dem Anhänger geparkt. Ich staunte, ließ mir erklären, wie die Konstruktion funktionierte. Kristoffer stieg auf den Anhänger, der leicht nachgab. Das passende Gefährt, dachte ich. Kristoffer öffnete eine Tür am Bauwagen, trat ein, winkte mich her. Der Gang war eng, doch breit genug, dass Kristoffer darin gehen konnte. Es gab eine Dusche, eine Sitzecke und einen Schrank aus Pressspanplatte. Kristoffer kramte in einer Kiste und in noch einer, bis er fündig wurde. Er hielt ein beiges Stück Stoff in der Hand, kletterte aus dem Wagen und ich hinterher.
»Hab ich damals geschenkt bekommen«, sagte er und entfaltete den Stoff. Es war ein T-Shirt. Es zeigte das Logo des Beduinen, darunter der Schriftzug Dakar.
»Probier mal an«, sagte er.
»Das kannst du mir nicht schenken.«
Kristoffer nickte, als hätte ich etwas anderes gesagt.
Ich zog meinen Pullover, das T-Shirt aus und zog mir das von Kristoffer über. Es passte mir perfekt.
»Hast du es jemals getragen?«
Kristoffer schüttelte den Kopf.
»Warte mal hier«, sagte ich und rannte zur Scheune.

Es war kein angemessener Tausch, abgesehen davon, dass Kristoffer nichts im Gegenzug verlangt hatte. Dennoch war es mir sofort eingefallen und sicher würde er sich darüber freuen.
Kristoffer hielt das Schmuckei zwischen Daumen und Zeigefinger, schüttelte es, worauf die Glocke im Inneren erklang, und wieder zog sich das Gesicht beim Grinsen zu einer Landschaft aus Falten zusammen. Er reichte mir seine Hand und ich schlug ein.

Wir kehrten zum Lagerfeuer zurück, Kristoffer ließ sich von Andersch ein Steak in die Hand geben. Plaudernd saßen sie dort mit ihren Tellern und Schnaps in den Gläsern. Als ich mich in den Kreis neben Sophie setzte, unterbrach Birgit ihr Gespräch.
»Ich will euch mal jemanden vorstellen«, sagte sie. Ruhe kehrte ein.
»Da vorne sitzt einer, den ihr kennenlernen solltet. Fragt ihn selbst nach seinem Namen.« Die Leute schauten mich an, mit halbem und vollem Lächeln, und ich saß da in meinem neuen T-Shirt, über das ich den Pullover bis zum Erfrieren nicht ziehen würde, fühlte ihre Blicke auf mir wie bei einem Tribunal.
»Der Junge hat was Besonderes«, sagte Birgit. »Ihr hättet es sehen sollen. Die Beine rechts und links hat er dort oben auf meinem Dach gesessen.« Einige Leute lachten. Ich fühlte mich nicht beschämt, im Gegenteil, es war ein Lachen, das ich für Anerkennung hielt.
»Immer dasselbe. Kurz vor Mittag zündet er sich eine Zigarette an und, wenn er denkt, dass niemand ihn beobachtet, dann schaut er in die Ferne und dann kann man es in seinem Gesicht sehen.«
»Was?«, fragte jemand.
»Leider muss er zurück. So sind die Dinge nun mal.«
Ich sah Kristoffer nicken, Sophie kniff mir in die Seite, woraufhin ich einen Mundwinkel hochzog.
»Ich danke dir sehr für die schönen Wochen«, sagte Birgit und warf mir einen Luftkuss zu.
Ein Gast klatschte, die anderen nach und nach auch, der Malteser bellte vor Schreck. Ich schämte mich für diese unverdiente Rede, diesen unverdienten Applaus und diese unverdienten Freunde. Dann räusperte ich mich.
»Ich habe euch auch was zu sagen.«

 

Hey @Carlo Zwei!

dass ich mich sehr über deinen Kommentar gefreut habe. Wirklich auch so viele praktische Hinweise, die ich einfach übernehmen konnte. Auch stilistische Sachen, wo ich eigentlich immer sehr wählerisch bin, haben mich überzeugt. Alles schon nach dem Lesen deines Komms eingearbeitet.
Das freut mich auch, dass es für dich hilfreich war :)

Einfach ein bisschen alltagssprachlicher klingen zwischendurch. Es ist ja sonst auch durchaus ein beschreibender, ordentlicher Text. Man könnte hier ja auch schreiben: Ich hielt das für einen guten Preis.
Aber, ich finde, es macht hier keinen Unterschied.
Haste vollkommen Recht. Vor allem, wenn es ein Ich-Erzähler ist, macht es Sinn, dass er sich da auch mal alltagssprachlich ausdrückt. Was wäre Holden Caulfield in Catcher in the Rye, wenn er formal "gesprochen" hätte... Also, Daumen hoch von mir!

Aber wie die Regel dazu heißt wissen nur Gott und Friedl.
:D Mögen sie gesegnet sein.

Aber hier sagt mans so und nach fünf Jahren Exil ... :-)
Hehe, ja, das ist ne Weile. Meine Freundin u ich wurden mal in Armenien von so nem Typen zum Frühstück und Vodka-Trinken eingeladen, und nach etwa einer Stunde (und einer halben Flasche) waren wir "Ureinwohner". Das geht also manchmal schneller, als man denkt.
Jedenfalls ist Knüppelbrot ein verdammt cooles Wort :)

Danke dir für den sehr guten Kommentar!
Sehr gerne, und freut mich, dass du wieder mehr Luft hast und offenbar Umzug etc. hinter dich gebracht hast!

Schönen Sonntag noch,
rainsen

 

Hey Carlo,

... schön, dass Du wieder aufgetaucht bist und - alle Achtung - so fleißig Kommentare aufholst. :) Es freut mich, dass Du mit meinem Kommentar etwas anfangen konntest. Deine Figuren, Deine Sprache + mehr Spannung = tolle, sehr veröffentlichenswerte Texte.

(Wo bleiben neue Texte von dir?).
Ich schreibe im Moment nicht mehr so viel (baue mir gerade ein zusätzliches Onlinebusiness auf. Das ist extremst arbeitsintensiv neben dem normalen Job). Davor habe ich für Wettbewerbe geschrieben und auch mehrere Texte veröffentlicht. Was sehr cool ist: eine Geschichte ist auf die Liste der relevanten Horrorgeschichten von 2020 gekommen. Auch jetzt bin ich an Texten "dran", allerdings gehe ich es dieses Jahr ruhiger an.

eine schöne Woche, petdays

 

Was wäre Holden Caulfield in Catcher in the Rye, wenn er formal "gesprochen" hätte...

gutes Beispiel :D

Hehe, ja, das ist ne Weile. Meine Freundin u ich wurden mal in Armenien von so nem Typen zum Frühstück und Vodka-Trinken eingeladen, und nach etwa einer Stunde (und einer halben Flasche) waren wir "Ureinwohner".

klingt gut, aber auch ein bisschen nach der Ethnologen-Perspektive. Zumindest hab ich es nie geschafft, während eines Aufenthaltes oder einer Reise wirklich 'heimisch' zu werden. Da ist immer Fremdheit geblieben, was mich mehr dazu gebracht hat, meine Haltung zum Reisen zu hinterfragen. Selbst hier im Osten fühle ich mich nach der Zeit immer noch wie ein Kulturhybrid.

LG

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Das ist extremst arbeitsintensiv neben dem normalen Job). Davor habe ich für Wettbewerbe geschrieben und auch mehrere Texte veröffentlicht. Was sehr cool ist: eine Geschichte ist auf die Liste der relevanten Horrorgeschichten von 2020 gekommen.

Freut mich, das klingt doch gut (genau wie das mit dem 'Onlinebusiness' – gerade in diesen Zeiten). Da wünsche ich dir weiterhin viel Erfolg und dass du auch weiter Zeit zum Schreiben findest. Danke für deine Rückmeldung. LG

 

Moin,

»… und schneller als du denkst, bist du Teil der Familie«, sagte Birgit, die Hände am Lenkrad, und kicherte.

Mit Dialog beginnen und so, weißte ja selbst. Finde ich nicht optimal. Auch wegen dem zweiten Satz:
Ich konnte nicht anders, als diese wuchtige Frau mit ihren perückenartigen Zöpfen, dem jugendlichen Kleidungsstil und großmütterlichen Gesicht auf Anhieb zu mögen.

Das ist auch von der Zeit her falsch, meine ich, denn der Augenblick, also der Moment, in dem er das entscheidet bzw entschieden hat, liegt doch vor dieser Szene. Ich hatte nicht anders gekonnt, als diese ... oder? Dann wirkt der ganze Satz auf mich auch irgendwie total zusammengebastelt: wuchtig, perückenartig, jugendlich, großmütterlich. Das ist viel Information, aber trotzdem bekomme ich da kein Bild. Klingt auch nach easy way out - warum hier nicht diese Person wirklich beschreiben. Er beobachtet sie, während sie das sagt, das wäre doch eine Möglichkeit. Du nimmst dir hier selbst das Potential heraus. Und wie sehen auch perückenartige Zöpfe aus? Künstlich meinst du wahrscheinlich, oder?

Ihr Englisch war besser als meines und der schwedische Akzent, der von einer mädchenhaften, zugleich krächzenden Stimme getragen wurde, passte nicht zur geschliffenen Ausdrucksweise, wie ich sie bei meinen Gastgebern in Malmö kennengelernt hatte.
Was ist denn jetzt der Grund, warum er sie auf Anhieb mag? Weil sie besser englisch spricht als er selbst? Oder weil der schwedische Akzent nicht zu der geschliffenen Ausdrucksweise der Gastgeber in Malmö passt? Hier hinkt es auch, weil sprechen denn die Gastgeber in Malmö nun auch Englisch? Der Vergleich wäre ja: der schwedische Akzent passt nicht zur geschliffenen Ausdrucksweise, das ist so die Analogie. Was du aber meinst ist: Die Art, wie sie spricht, das ist ein gewisses Argot, eine nicht sauber, nicht offizielle Sprechweise; das ist aber nicht der schwedische Akzent. Dann: können mädchenhafte Stimmen also nicht gleichzeitig krächzend sein? So kategorisch schließt du das nämlich hier aus. Wie klingt denn eine mädchenhafte Stimme? Hell, sanft, hauchend, dünn? Mir ist das zu einfach, das ist auch wieder der easy way out, du nimmst eine Abkürzung.

Klappernd fuhren wir den Weg hinauf zum Hof über eine von Nacktschnecken gepflasterte Straße – eine Plage, wie Birgit mehrfach betonte, während die Schneckenkörper beim Überfahren unter den Reifen ihres alten Volvos rumpelten
Mit was klappern die denn? Mit den Zähnen, oder den Augen? Ist nicht, was du meinst, klar, aber so lese ich das - es geht erstmal nicht um das Auto. Und dann: Schneckenkörper rumpeln beim Überfahren? Es rumpelt, wenn du über einen Bordstein fährst, oder ein dicken Ast, oder durch ein Schlagloch, aber doch nicht wenn du eine Nacktschnecke platt fährst. Das ist einfach zu stark.

Um die Alleen tragender Kirschbäume erstreckten sich Felder, versprengte Waldstücke mit Findlingen darin. Ich zählte drei Häuser.
Was tragen die Bäume denn? Du meinst hier sicher: fruchttragend. Und erstrecken sich die Felder tatsächlich um die Alleen herum? Grenzen die nicht eher an die Alleen an, oder liegen parallel zu diesen, oder daneben? Wie kann er den einen Findling in einem versprengten Waldstück beim Vorbeifahren überhaupt sehen? Du meinst ja hier so etwas wie eine Remise, ein Feldgehölz, und darin ein Findling. Schwierig, wenn der keinen Röntgenblick hat, oder?

Melde mich gleich mit mehr, muss das leider auch in Etappen machen, die liebe Zeit!

Gruss, Jimmy

 

Aber wie die Regel dazu heißt wissen nur Gott und Friedl.

worauf Rainsen antwortet
Mögen sie gesegnet sein.

Nun, niemand ruft einen der beiden Herren ungestraft – bin kein Prophet und selbst als Presbyter hab ich an keinen Gott geglaubt (es geht nicht darum, an was man glaubt, sondern wie man sich verhält – und obwohl ich gerade die Idee hab, meine Anfänge „Ikarus“, „Jeannetigone“, „Ich, Caesar“ (inzwischen ein Dramolett) und vor allem „Kakophonie“ fortzusetzen (Arbeitstitel „Medusa oder Timbuktu liegt nicht in Amazonien“, keine Bange, ich geb nicht den „Medusalem“) will ich für Stand Freitag um 20:41 noch kleinere, aber auch notwenige Korrekturen und Vorschläge machen, wobei – wenn ich es richtig erkannt hab – auch Euer Problem beackert wird.
Aber zunächst der Reihe nach von oben nach unten

Hier roch es feucht, nach Pilzen und Feuer.
Warum hier das Komma?, oder kurz: Warum dem Übermaß an Regeln noch eine unbekannte zufügen (was einen wie mich, der auch nebenbei Mathe-Voresungen mitgemacht hat, „erzählen“ kommt ja von der Zahl). Ja, vom Theater (und Kleist) weiß ich, dass es eine Regieanweisung sein kann. Aber wenn es eine (Atem-)Pause signalisieren soll, eignet sich der Gedankenstrich (die Bezeichnungen „Halbgeviertstrich u. a. Schreit eigentlich nach Satire). Also auf jeden Fall weg mit dem Komma!

Es braucht eigentlich –keines Wortes mehr zum „keine Kinder"-Problem ...

Auch wenn ich erfuhr, dass Sophie Birgit eine Miete zahlte, jetztKOMMA da sie für ein halbes Jahr zum Arbeiten und Schwedischlernen hergekommen war, ahnte ich, dass ein solches Zusammenleben nicht ohne territoriale Grenzkonflikte ablief.
Erst zum leichteren Problem, dem fehlenden Komma, das trennt nämlich einen eingeschobenen, begründenden und substantivistisch überlasteten Nebensatz
…, da sie für ein halbes Jahr zum Arbeiten und Schwedischlernen hergekommen war, ...
von einem übergeordneten Nebensatz mit äußerst schwacher Klammer.

… zahlte, jetzt ahnte ich, ...

Warum die Scheu, einen weiteren Nebensatz, genauer Infinitivsatz zwischenzuschieben, um die eher bürokratisch wirkende Substantivierung zu vermeiden, also …

Und warum das begründende „wenn“ (ist ja nicht falsch), wenn ein vergleichendes „als“ die Veränderung auf zeitl. und sozialer Ebene ausdrückt

„Auch als ich erfuhr, dass Sophie Birgit eine Miete zahlte, da sie für ein halbes Jahr hergekommen war, um zu arbeiten und Schwedisch zu lernen, ...

Er war ein kräftiger, für sein Alter gut aussehender Mann, mit blauen Augen, breitem Kinn und grauem Stoppelbart.
Komma weg!


»Seit wann?«, fragte ich. Sophie schüttelte den Kopf, als könne sie darüber nicht weiter sprechen. Ich konnte nur vermuten, was dahinter steckte.
Warum plötzlich indirekte Rede (Konj. I) in einer Mutmaßung und als-ob-Situation (selbst wenn das ob verschwiegen bleibt): Konjunktiv irrealis! „als könnte“!

Mehr als zweitausend Kronen, etwa zweihundert Euro, wollte sie nicht ausgeben, doch ein großes Exemplar könne selbst die Energie eines toten Raumes, manchmal sogar eines ganzes Haus wiederbeleben.
a) warum Indikativ (wollte, nicht nur zufällig auch Konj. II) und Konj. I (könne), wenn die Aussage durch das „manchmal“ relativiert wird?

b) Genitiv-Schwächeln … „eines ganzen Hauses“

Pack das Ganze in den Indikativ, denn die modalen Verben „wollen“ und „können“ sind eh von binärer Wertigkeit, entweder man will bzw. kann was oder eben nicht, der Fachmann wird lächeln, wenn einer solala will oder kann

Auf dem Weg die Straße hinab zum Hornborgasjön knipste ich mit der alten Olympus, die mein Vater mir geschenkt hatte. Auf den Bildern zu sehen, wären unter anderem die Scheune, die schlammige Einfahrt und natürlich die Nacktschnecken.
Warum Konj. II, wenn Futur I doch einfacher ist?

Auf jeden Fall: Komma weg!, es zerschlägt das komplexe Prädikat „zu sehen sein“ („wären“ vorm Infinitiv ersparte auf jeden Fall ein Komma! Du hast doch sonst keine Bange vor kleistschen Sätzen – also warum nicht

Auf den Bildern wären unter anderem die Scheune, die schlammige Einfahrt und natürlich die Nacktschnecken zu sehen.
Oder alternativ und mit geringerem Zweifel „ … werden … zu sehen sein.“

Kurze Unterbrechung zum Konjunktiv II, der absolut nix mit der Zeitenfolge zu tun hat und eine Art grammatischer Wahrscheinlichkeitsrechnung zwischen 0 (unwirklich, unwahr[scheinlich]) und 1 (wirklich, wahrhaftig) liegt, also zwischen Potentialität und Aktualität unterscheidet. Der Witz ist, dass der Theologe in der Frankfurter Schule, Paul Tillich, das Problem thematisiert hat.

Ich dachte an Vieles, bloß nicht an lästige Entscheidungen und Probleme, knipste noch ein paar Fotos und kehrte über denselben Weg, den ich gekommen war, zurück.
Zahlwörter, selbst wenn sie unbestimmt daherkommen, i. d. R. Klein, also „an vieles denken“

Sie erklärten, ich habe die Rückmeldephase verpasst, stehe kurz vor der Exmatrikulation. Es wäre schon gut, wenn ich nächste Woche zurückkäme und alles regele, ich müsse solche Angelegenheiten im Übrigen so langsam selbst in die Hand nehmen.
Warum dieser kauderwelsche Gemisch aus Konj. I und II? Entweder indirekte Rede und durchgängig Konj. I – also „sei … komme, was die kürzere Korrektur verursacht, oder Zweifel und Konj. II und hätte, stände oder – da klingt Zeitlichkeit eher zufällig durch, ist aber wunderbar, stünde – regelte - müsste

Ähnlich hier

Nur noch ein kleines Feld musste ich freikratzen, als Birgit aus der Küche auf die Anhöhe trat und mit den Händen zum Trichter geformt verkündete, sie habe gerade mit einem Freund telefoniert, der das Problem auch kenne. Es gäbe da ein Mittel zum Sprühen, das die Sache in wenigen Stunden erledige. Das Moos fiele quasi von selbst ab.

Hier
Birgit wollte, dass die Dusche wie ein Totempfahl aussähe, aus dem geschnitzten Maul eines Frosches solle Wasser fließen.
Lassen die Verben „wollen“ und „sollen“ gar den nicht nur optischen Indikativ zu

Birgit wollte, dass die Dusche wie ein Totempfahl aussieht, aus dem geschnitzten Maul eines Frosches sollte Wasser fließen.

Hier

Wenn er die Tasse zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, hatte ich den Eindruck, der Henkel müsse abbrechen.
Wäre es sogar wurscht, ob der Leser Indikativ und Konjunktiv auseinander halten kann dank des Modalverbs „müssen“ (Logik wie beim können und sollen. Das Problem ist übrigens „uralt“ und in den „ist-“ und „soll“- Regelungen der Gesetzgebung - an sich alltäglich und jedem geläufig ...)

Schau'n mer ma', war draus wird,

Dein Dante Friedchen

 

Also weiter:

Eine schlammige Einfahrt und wir erreichten das Grundstück. Birgit parkte neben einer rostigen Egge und einem Holzverschlag.
Eine schlammige Einfahrt ... fehlt da nicht was? Die Details hier, die rostige Egge und der Holzverschlag, die sind für sich genommen gut, aber die hinterlassen auch keinen konkreten Eindruck beim Erzähler, und so auch nicht beim Leser. Er weiß, was eine Egge ist, er verfügt also über diesen Wissensstand, und dann lohnt es sich doch, das konkret mit dem Hintergrund, dem Erfahrungshorizont des Erzählers zu verbinden. Sonst steht das so alleine da rum, die Egge und der Holzverschlag, die Konstruktion wird sichtbar, ich spüre, hier soll um jeden Preis Atmosphäre erzeugt werden, aber eigentlich ist da nur Leere, nur die Benennung von Dingen.

Beim Aussteigen kam mir die Luft kälter vor als noch am Bahnhof in Skövde, von dem Birgit mich abgeholt hatte.
Ist klar, dass sie ihn abgeholt hat.

Hier roch es feucht, nach Pilzen und Feuer.
Riechen Pilze feucht? Und Feuer? Oder ist das eine Aufzählung?

Birgit führte mich zu einem länglichen Gebäude, das sie als ‚Scheune‘ bezeichnete.
»Schön hier«, sagte ich.
»Es gibt viel Platz«, begann Birgit. »Wenn du willst, musst du nie wieder weg.«
Ich lachte verhalten, um Birgit nicht zu kränken. Länger als die geplanten zwei Wochen hatte ich nicht vor zu bleiben.
Lass Birgit doch sagen: "Das ist unsere Scheune." Ich hab das Gefühl, ich bin endlos weit weg von deinem Personal. Das wird durch diese passive Art des Dialogs noch bekräftigt.
Dann: Wenn du willst, musst du nie wieder weg. Das klingt wie der Titel einer Carver-Geschichte, und ich bekomme sofort das Gefühl, das mir hier etwas verraten wird. Oder besser: Mir wird zu viel verraten.

Ein Beispiel:

»Schön hier«
»Es gibt viel Platz«, begann Birgit.
Ich lachte verhalten.

Das mit den zwei Wochen würde ich gar nicht verraten. Das kannst du doch nachher in einem Beisatz erwähnen. Das verhaltene Lachen ist doch als Reaktion genug, oder meinst du nicht?

Unterhalb der Scheune lag Birgits Hof. Ein verwilderter Garten, wie auf den Fotos im Internet dargestellt.
Hier liest es sich, als sei der Hof ein verwilderter Garten.

Ein Schuppen in Ochsenblutrot, dahinter das freistehende Schwedenhaus, eine Art Villa Kunterbunt.
Ärgerlich, wenn man Pippi Langstrumpf nie gelesen hat. Ich finde so Verweise schwierig, auch wenn ich sie selber benutze in meinen Texten, ein gutes Gefühl habe ich dabei nie. Es setzt voraus, dass der Leser Bescheid weiß und dieses Meta-Bild jetzt in den Text einfügt.
Sie schloss die Scheune auf, ging über schmale Treppenstufen voran, bis wir einen Sparrendachboden betraten, in dem es nach Holz und Duftkerzen roch. Ringsum bezogene Betten.
Nach was duften denn die Kerzen? Ist wieder eine kleine Abkürzung, was schade ist. Und: Ringsum bezogene Betten. Ringsum von was? Rund um einen Mittelpunkt? Oder stehen die Betten nebeneinander in einer Reihe?
»Wer schläft dort drüben?«, fragte ich. In der Ecke stand ein Bett, auf dem eine Waschtasche, Hemden und eine zusammengeklappte Handsäge lagen.
Der ist da gerade angekommen, sieht sich seinen Schlafplatz das erste Mal an und dann fragt er direkt so was? Fragt er da nicht allgemeiner, etwas versteckter, verpackter, sein Interesse und seine Neugierde etwas verhehlender: Ach, schlafen ja auch andere hier? Oder: Schlafen alle hier?, und dann sieht er zu dem benutzten Bett herüber. Und sie sagt dann so: Das Bett ist vom Andersch. Du willst da auf die Tonlosigkeit hinaus, und das spürt man, da ist was mit dem Andersch, aber man sieht genau in die Konstruktion hinein.

Ich packte meinen Rucksack aus, legte mich aufs Bett, schloss die Augen, horchte in den Raum hinein. Ein verlockender Gedanke, womöglich doch etwas länger zu bleiben.
Er horcht in den Raum hinein. Was hört er denn? Und warum ist es jetzt plötzlich doch ein verlockender Gedanke, eventuell länger zu bleiben? Woraus schließt er das, wie kommt er auf die Idee, was hat ihn dazu bewegt, eine 180 Gradwende zu nehmen? Was hat ihn so sehr beeindruckt, ihn so sehr angezogen? Die Stille? Die Abgeschiedenheit? Das Urwüchsige? Nichts davon wird erwähnt.

Auch wenn ich erfuhr, dass Sophie Birgit eine Miete zahlte, jetzt da sie für ein halbes Jahr zum Arbeiten und Schwedischlernen hergekommen war, ahnte ich, dass ein solches Zusammenleben nicht ohne territoriale Grenzkonflikte ablief.
Territorialer Grenzkonflikt klingt so nach Irak vs Iran. Persönlicher Konflikt etc, so was meinst du doch, oder?

Dieser ganze lange Absatz davor ... extremes Tell. Mich erinnert das an so Geschichten von russischen Autoren, Checkov, Gogol und auch an Puschkin, an diese dekadenten Städter, die dann zu ihren Verwandten aufs Land fahren, meistens leicht verarmter Adel, aber prächtige Anwesen und alles etwas surreal. In irgendeinem Kommentar habe ich gelesen, dass derjenige findet, du habest dein Personal, deine Charaktere gut beschrieben. Das stimmt. Sie sind gut beschrieben. Aber zum Leben erwecken, das ist eine andere Sache. Hier hättest du etwas wagen können, ruhig auch sprachlich, Dialoge mal in Englisch, Deutsch, Kauderwelsch, Hand und Fuß ... dann diese Sache mit der Esoterik, da sehe ich schon förmlich, wie er nickt und sagt, sehr interessant, aber etwas ganz anderes denkt - da steckt so viel drin an Potential.

Sorry, ich muss nachher weitermachen, du kennst das ja! :D

Gruss, Jimmy

 

So, ich hoffe, letzte Runde, sorry für die Stückelung.

Ihre drallen, zugleich runzeligen Hände klatschte Birgit ineinander, als ob sie nach Fliegen schlüge.
Kann etwas Dralles (voll, gespannt, dralle Brüste zum Beispiel) gleichzeitig runzelig sein?
Die Melodie des Handyweckers trällerte mich aus dem Schlaf.
Ist so eine grundsätzliche Sache: trällern. Das wäre nach Achillus ein Pudel-Protagonist. Das klingt in meinen Ohren alles nach Verniedlichung - ich meine, es ist ja auch keine Melodie in dem Sinne, kein Wohlklang, sondern eine Abfolge von Tönen, laut und schrill, die soll einen ja wecken und nicht noch den Traum verlängern. Trällern, ich weiß nicht.

Nebel hing in den Wipfeln der Tannen, troff von Fensterscheiben und Hauswänden.
Nebel, der von Fensterscheiben und Hauswänden tropft. Tut er das wirklich? Ich weiß, welches Bild du meinst, aber tropfen passt in meinen Ohren irgendwie nicht richtig.

Ich spazierte zur Villa Kunterbunt, als lebte ich hier schon seit langem.
Und wie tut er das? Was bedeutet das für ihn: als lebe er hier schon seit langem? Dass es ihm schon alles sehr vertraut vorkommt, dass er alles sofort wiedererkannt, dass er sich schon zu Hause fühlt?

Er war ein kräftiger, für sein Alter gut aussehender Mann, mit blauen Augen, breitem Kinn und grauem Stoppelbart.
Was ist: für sein Alter gut aussehend? Entweder er sieht gut aus, oder eben nicht. Das ist wie Arm dran, oder Arm ab. Das ist auch sprachlich unpräzise, finde ich, vor allem in Verbindung mit dem nächsten Satz:
Alles in allem sah er aus wie jemand, den ich mir als Bergführer einer hochalpinen Tour vorstellte.
Alles in allem? Was denn jetzt? Da ist doch immer noch ein Zögern, der Erzähler ist sich nicht sicher, fällt aber dann doch das Urteil, so stellt er sich jemanden vor, der eine hochalpine Tour führt. Wie kommt er da drauf? Was veranlasst ihn zu diesem Vergleich? Wäre der Erzähler selber Bergsteiger, Kletterer, und würde zu dem Andersch sagen: "Kletterst du auch?" Und er sagt dann: "Wieso?" "Du siehst so aus.", dann könnte ich das irgendwie nachvollziehen. Aber so ist doch dieser Vergleich vollkommen aus der Luft gegriffen. Es ist auch etwas, dass der Leser selber kombinieren sollte, er sollte sich diesen Archetyp selbst erschließen können.

Andersch verströmte einen herben Männergeruch, etwas, das ich mochte, selbst aber nicht an mir hatte. Er trank seinen Kaffee mit einem Schuss Milch, sah über die Müslischüssel gebeugt wie ein kleiner Junge aus.
Was ist ein herber Männergeruch? Das soll ja zeigen, dass der Erzähler sich Andersch gegenüber irgendwie unmännlich fühlt, und das auch weiß, aber macht man das am Geruch fest? So wie Hirsche in der Feistzeit? Da wäre doch erstmal die Phsyis - der ist breiter, größer, stärker, hat ein markantes Gesicht, wirkt entschlossen. Dann schreibst du aber am Ende hin, er wirke wie ein kleiner Junge - das passt doch vorne und hinten nicht. Vielleicht stellt sich der Erzähler vor, wie der Andersch da zum kleinen Jungen wird, damit seine Präsenz nicht so überdeutlich wird, eine kleine Erzählung, die ihm sein Selbstbewußtsein erhält.

»Ich mach einen Film«, sagte Andersch. »Hier oben gibt es viele Hobos
Sagt er Hobo? Ein Hobo ist ein Tramp, jemand der permanent unterwegs ist, das sind diese Leute ja offensichtlich nicht. Das sind Aussteiger, die im Wald autark versuchen zu überleben.

Dunkle Farben, die abstrakte Bildräume eröffneten, dennoch einen Sinn für Figürlichkeit sowie ein technisch überzeugendes Raum- und Körpergefühl verrieten.
Das klingt wie der Museumsführer im König zu Köln. Woher weißt dein Erzähler das? Ohne eine entsprechende Bildung kann er das nicht wissen. Das ist doch Spezialwissen, das muss man irgendwie in der Vita des Erzählers unterbringen, sonst entbehrt das jeder Glaubwürdigkeit, wenn das so aus dem Nichts kommt, ist das ein wenig wie deus ex machina - plötzlich kann dein Prot zu allem was Schlaues sagen.

Mein Vater macht übrigens Filme. Für Arte, das ist in Deutschland eine große Nummer. Vielleicht kann ich euch vermitteln.«
Wenn sein Vater Filme macht - dann wird er doch sicher einen geübten Blick haben. Er sieht und denktn Bildern - das wäre wahrscheinlich, weil sein Vater ihm das beigebracht hat oder er es sich abgeguckt hat, oder oder oder. Da verschenkst du doch Potential - er ist da in der schwedischen Wildnis, und er sieht und denkt cineastisch, weil ihm das im Blut liegt, weil er es gewöhnt ist, so zu denken, für ihn sind das alles mehr oder weniger Kameraeinstellungen. DANN kann er so einen Satz bringen, wie mit der Kunst, aber du musst diesen Erfahrungshorizont etablieren.

Neuerdings versuchte ich mich im Schreiben, hatte die Idee, mit der Germanistik einen Job als Lektor zu finden.
Yeah Baby, do the Gordon Lish!

Ich muss noch mal unterbrechen ... die Hölle der Werktätigen ruft!

Gruss, Jimmy

 

Ich hol mal besser gleich auf, bevor der Berg noch größer wird hehe

Oh, Mann. Ich verstehe das, was du kritisierst. Einiges haben auch andere schon angemerkt, aber hier verstehe ich es wirklich. Und ich fühl mich wie ein Faulpelz, den man bei seinen gemütlichen Abkürzungen ertappt. Genug Selbstmitleid :D ich muss schauen, wie ich das ändern kann. Heute Vormittag habe ich den ersten Abschnitt umgeschrieben, aber habe das Zwischenergebnis wieder rausgenommen. War einfach noch zu unausgegoren. Ab Sonntag hab ich wieder wesentlich mehr Zeit fürs Schreiben und dann versuche ich alles. Ich denke mal, du bist sehr beschäftigt. Ich mein nur, ich bin nicht undankbar, wenn du einfach sagst, so, jetzt muss wieder was anderes. Deine Anmerkungen sind bereits sehr gut und hilfreich. Vielen Dank für die Zeit und Arbeit!

Mit Dialog beginnen und so, weißte ja selbst. Finde ich nicht optimal. Auch wegen dem zweiten Satz:

ich dachte, das wäre witzig, weil es so eine Verbindung mit dem Titel eingeht und auch weil es nur ein Fetzen ist und so in medias res. Aber Gold ist das nicht, das stimmt. Und es gibt auch Sachen, die funktionieren einfach nicht, auch wenn man das gerne will.

Ich konnte nicht anders, als diese wuchtige Frau mit ihren perückenartigen Zöpfen, dem jugendlichen Kleidungsstil und großmütterlichen Gesicht auf Anhieb zu mögen.
Das ist auch von der Zeit her falsch, meine ich, denn der Augenblick, also der Moment, in dem er das entscheidet bzw entschieden hat, liegt doch vor dieser Szene. Ich hatte nicht anders gekonnt, als diese ... oder? Dann wirkt der ganze Satz auf mich auch irgendwie total zusammengebastelt: wuchtig, perückenartig, jugendlich, großmütterlich. Das ist viel Information, aber trotzdem bekomme ich da kein Bild. Klingt auch nach easy way out - warum hier nicht diese Person wirklich beschreiben. Er beobachtet sie, während sie das sagt, das wäre doch eine Möglichkeit. Du nimmst dir hier selbst das Potential heraus. Und wie sehen auch perückenartige Zöpfe aus? Künstlich meinst du wahrscheinlich, oder?

es ist einfach unpräzise, glaube ich. Ich wollte sagen, dass er im Nachhinein beschreibt, wie der Anblick dieser ungeschlachten Frau Sympathien bei ihm hervorruft. Aber ich kann auch nicht widersprechen. Die ganze Story ist sehr passiv geschrieben, sehr indirekt. Zurecht markierst du das an jeder Stelle. Mir kommt es vor, als ob ich zu schnell oder zu skizzenhaft geschrieben hätte. Als wäre das nur ein erster Entwurf, bei dem man dann hinterher alles Indirekte zu Dialog machen und jedes beobachtete Detail noch einmal scharf stellen muss.

Ihr Englisch war besser als meines und der schwedische Akzent, der von einer mädchenhaften, zugleich krächzenden Stimme getragen wurde, passte nicht zur geschliffenen Ausdrucksweise, wie ich sie bei meinen Gastgebern in Malmö kennengelernt hatte.
Was ist denn jetzt der Grund, warum er sie auf Anhieb mag? Weil sie besser englisch spricht als er selbst? Oder weil der schwedische Akzent nicht zu der geschliffenen Ausdrucksweise der Gastgeber in Malmö passt?

Das ist nur eine Beobachtung. Aber sie schwebt so wie andere Details, wie du das benennst, im Raum herum, macht nicht wirklich was, ruft nichts Inneres hervor und ist dabei noch unpräzise.

sprechen denn die Gastgeber in Malmö nun auch Englisch? Der Vergleich wäre ja: der schwedische Akzent passt nicht zur geschliffenen Ausdrucksweise, das ist so die Analogie. Was du aber meinst ist: Die Art, wie sie spricht, das ist ein gewisses Argot, eine nicht sauber, nicht offizielle Sprechweise; das ist aber nicht der schwedische Akzent. Dann: können mädchenhafte Stimmen also nicht gleichzeitig krächzend sein? So kategorisch schließt du das nämlich hier aus. Wie klingt denn eine mädchenhafte Stimme? Hell, sanft, hauchend, dünn?

ja, das stimmt. In meiner Überarbeitung habe ich das viiel mehr so einfangen können, wie ich es mir gewünscht habe. Da habe ich sie einfach (nach deinem Vorschlag) in so einem merkwürdigen Englisch sprechen lassen, dass auch etwas plump ist, aber auch direkt und darin sympathisch. Sie kommentiert die Schneckenplage:

»It's a plague with these animals«, sagte Birgit.

oder antwortet (in dieser Tell-Passage, die ich versucht habe, in Dialog aufzulösen):

»So you are a family right now?« (Protagonist)

»Yes. It’s destiny«, sagte Birgit. »The universe sent us all together. Also Andersch, the other guy. He is my little soulmate.«

»Do you believe in destiny?«, fragte ich.

»Yes, who not?«

»Me«, sagte ich. »But maybe I just don’t know it yet.«


Mit was klappern die denn? Mit den Zähnen, oder den Augen? Ist nicht, was du meinst, klar, aber so lese ich das

Ja, ist klar.

Es rumpelt, wenn du über einen Bordstein fährst, oder ein dicken Ast, oder durch ein Schlagloch, aber doch nicht wenn du eine Nacktschnecke platt fährst. Das ist einfach zu stark.

Habe jetzt (offline) ... als wir den Weg hinauf zum Hof über eine von Nacktschnecken übersähte Straße fuhren. Ich meinte, das Rumpeln ihrer Körper beim Überfahren hören zu können.

Du meinst hier sicher: fruchttragend. Und erstrecken sich die Felder tatsächlich um die Alleen herum? Grenzen die nicht eher an die Alleen an, oder liegen parallel zu diesen, oder daneben? Wie kann er den einen Findling in einem versprengten Waldstück beim Vorbeifahren überhaupt sehen? Du meinst ja hier so etwas wie eine Remise, ein Feldgehölz, und darin ein Findling. Schwierig, wenn der keinen Röntgenblick hat, oder?

Es geht um diese verwischenden Bilder beim Vorbeifahren. Aber ich habs da einfach nicht gut hingekriegt. Gerade ist die Stelle ganz raus. Aber das ist leider auch easy way out.

Danke dir für die sehr guten Hinweise. Die Überarbeitung steht ab Sonntag an. Bis dahin überlege ich mir, wie ich das anstelle ... und versuche deine anderen Kommentare zu beantworten.

LG
Carlo

 

Birgits Hof war ein Rückzugsort, aber deshalb noch lange kein Paradies. Hier machten wir uns nützlich und tatsächlich schmeckte das Essen besser, wenn man meinte, es sich mit den eigenen Händen verdient zu haben. Aber wenn wir einmal ehrlich waren, kam nur ein kleiner Teil davon aus dem Garten, das meiste hingegen aus dem Supermarkt in Skövde. So lange sich die Speisekammer auf magische Weise füllte, konnten wir so tun, als wäre es anders. Im Grunde aber lebten wir von der Mietfreiheit und dem Gehalt, das Birgit als Krankenschwester verdiente, in einem Land, das es sich leistete, sein Pflegepersonal gut zu bezahlen.

Ja, das ist so der Hauptpunkt. Ihm fällt aus, dass es doch nicht so superrosig ist, das ist wie Punk mit Föhnfrisur, wenn es am Bahnhof zu kalt wird, gibt es immer noch Hotel Mama. Ich weiß, es ist sehr schwierig, aus dem Hamsterrad des modernen Lebens auszusteigen, fast unmöglich, wenn man einmal drin ist, und nur unter sehr großen Anstrengungen und Verzicht. Man muss das wollen. Oft gibt es dann auch so Kompromisse, so halbe Lösungen, die wirken anziehen und toll, aber es ist eben nur die Hälfte der Strecke, das wird irgendwann offensichtlich. Vielen fehlt der Mut.


Zu dritt in Birgits Volvo fuhren wir über die Nacktschnecken, die Landstraße vorbei am Hornborgasjön und roten Bauernhäusern, bis wir nach einer halben Stunde den Parkplatz vorm Mineralienmarkt erreichten.

Guter Satz, so lapidar, mit den Nacktschnecken, ich musste lachen.


»Manchmal muss man sich was trauen«, sagte er. »Sonst wacht man irgendwann auf und …«
Das darf er natürlich nicht sagen: das wirkt sonst wie, Alle Achtung, jetzt wichtige Metapher. Es ist natürlich klar, dass er da in einem inneren Kampf ist und das alles abwägt, ich finde, das hast du mit dem offenen Ende viel besser eingelöst. Wenn Kristoffer ihm diese Geschichte mit Drakar erzählt, müsstest du den Figurendruck etwas erhöhen - was hatte er denn zu verlieren? Wenn das jetzt nur eine Heldengeschichte ist, bietet sie ja keine Parität an, es befinden sich beide Protagonisten in einer jeweils nicht miteinander vergleichbaren Situation. Hätte Kristoffer auch etwas aufgeben müssen, eine Sicherheit, eine Frau, einen Job, um diese damals einmalige Gelegenheit wahrzunehmen, würde das eher in die Waage kommen. Dann könnte der Erzähler konstatieren: Ah, klar, Kristoffer musste ja AUCH etwas aufgeben, und er hat etwas dafür bekommen, nämlich jede Menge gute Erinnerungen, von denen er heute noch zehrt. Will ich das auch? Will ich das riskieren?

Mich erinnert der Text an den Film The Beach, mit DiCaprio. Das ist auch vorgeblich eine Insel der Glückseligkeit, aber dahinter die düsteren Abgründe. Hier sind die Abgründe jetzt nicht so düster, aber ich finde, da schwebt immer so eine Aura des Dunklen über solchen "Projekten" - Eifersucht, Neid, sozialer Status innerhalb der Gruppe ... das könntest du sogar noch etwas ausdenen, so suspense Momente, vielleicht wird Sonja ja auch auf ihn scharf oder Birgit, und dann bekommt das schnell so einen ganz bizarren Touch, Sex gegen Bleiberecht, seelische Sklaverei, das nimmt mitunter ja seltsamste Dynamiken.

Gruss, Jimmy

 

Nun, niemand ruft einen der beiden Herren ungestraft

Friedl, der Zorn Aguirres.

Danke, dass du wie gerufen kommst. Diesmal setze ich das auch um ...

bin kein Prophet und selbst als Presbyter hab ich an keinen Gott geglaubt (es geht nicht darum, an was man glaubt, sondern wie man sich verhält

Aber verhält man sich nicht so, weil man glaubt, dass es das Richtige ist (das glaube ich, bin aber auch Moralüberzeugter)?

Hier roch es feucht, nach Pilzen und Feuer.
Warum hier das Komma?, oder kurz: Warum dem Übermaß an Regeln noch eine unbekannte zufügen (was einen wie mich, der auch nebenbei Mathe-Voresungen mitgemacht hat, „erzählen“ kommt ja von der Zahl). Ja, vom Theater (und Kleist) weiß ich, dass es eine Regieanweisung sein kann. Aber wenn es eine (Atem-)Pause signalisieren soll, eignet sich der Gedankenstrich (die Bezeichnungen „Halbgeviertstrich u. a. Schreit eigentlich nach Satire). Also auf jeden Fall weg mit dem Komma!

jajaja – ist ersetzt :) Danke, Dante

Es braucht eigentlich –keines Wortes mehr zum „keine Kinder"-Problem ...

wenn du denn drauf bestehst, habe es jetzt ausgetauscht. Ja, du hast recht. Mir fällt zumindest kein Gegenwort ein.

Auch wenn ich erfuhr, dass Sophie Birgit eine Miete zahlte, jetztKOMMA da sie für ein halbes Jahr zum Arbeiten und Schwedischlernen hergekommen war, ahnte ich, dass ein solches Zusammenleben nicht ohne territoriale Grenzkonflikte ablief.
Erst zum leichteren Problem, dem fehlenden Komma, das trennt nämlich einen eingeschobenen, begründenden und substantivistisch überlasteten Nebensatz

Danke dir.

Und warum das begründende „wenn“ (ist ja nicht falsch), wenn ein vergleichendes „als“ die Veränderung auf zeitl. und sozialer Ebene ausdrückt

„Auch als ich erfuhr, dass Sophie Birgit eine Miete zahlte, da sie für ein halbes Jahr hergekommen war, um zu arbeiten und Schwedisch zu lernen, ...


bis dahin würde es Sinn ergeben, finde ich. Ist doch so eine Art Konditionalsatz. Auch wenn ich erfuhr, dass sie das pro forma zu Hause nennen durfte, ahnte ich, dass realiter zwei Worte nicht ausreichten.

Er war ein kräftiger, für sein Alter gut aussehender Mann, mit blauen Augen, breitem Kinn und grauem Stoppelbart.
Komma weg!

Selbst Aguirre weiß nicht, warum ich dieses Komma gesetzt habe. Danke dir, ist raus.

»Seit wann?«, fragte ich. Sophie schüttelte den Kopf, als könne sie darüber nicht weiter sprechen. Ich konnte nur vermuten, was dahinter steckte.
Warum plötzlich indirekte Rede (Konj. I) in einer Mutmaßung und als-ob-Situation (selbst wenn das ob verschwiegen bleibt): Konjunktiv irrealis! „als könnte“!

Contenance wahren und so tun, als hätte niemand es gesehen ...

Mehr als zweitausend Kronen, etwa zweihundert Euro, wollte sie nicht ausgeben, doch ein großes Exemplar könne selbst die Energie eines toten Raumes, manchmal sogar eines ganzes Haus wiederbeleben.
a) warum Indikativ (wollte, nicht nur zufällig auch Konj. II) und Konj. I (könne), wenn die Aussage durch das „manchmal“ relativiert wird?

stimmt. Das mit wollte habe ich überhaupt nicht gesehen. Wahrscheinlich habe ich so eine Art Konjunktivitis (im Volksmund: Konjunktief).
Muss es dann 'könnte' (weil Zweifel) heißen? :sicko:

b) Genitiv-Schwächeln … „eines ganzen Hauses“

...

Auf dem Weg die Straße hinab zum Hornborgasjön knipste ich mit der alten Olympus, die mein Vater mir geschenkt hatte. Auf den Bildern zu sehen, wären unter anderem die Scheune, die schlammige Einfahrt und natürlich die Nacktschnecken.
Warum Konj. II, wenn Futur I doch einfacher ist?

hmm, er beschreibt dort, mit welcher Erwartung er das Foto gemacht hat und insofern, was er abbilden wollte.

Auf jeden Fall: Komma weg!, es zerschlägt das komplexe Prädikat „zu sehen sein“ („wären“ vorm Infinitiv ersparte auf jeden Fall ein Komma! Du hast doch sonst keine Bange vor kleistschen Sätzen – also warum nicht

wollte es gerade wegmachen. Das ist diese Reger: Verschränkung bzw. Einschluss des übergeordneten Satzes, gelle?

Auf den Bildern wären unter anderem die Scheune, die schlammige Einfahrt und natürlich die Nacktschnecken zu sehen.
Oder alternativ und mit geringerem Zweifel „ … werden … zu sehen sein.“

habe ich jetzt genommen. Habe es jetzt so: "Auf den Bildern würden unter anderem die Scheune, die schlammige Einfahrt und natürlich die Nacktschnecken zu sehen sein."

Kurze Unterbrechung zum Konjunktiv II, der absolut nix mit der Zeitenfolge zu tun hat und eine Art grammatischer Wahrscheinlichkeitsrechnung zwischen 0 (unwirklich, unwahr[scheinlich]) und 1 (wirklich, wahrhaftig) liegt, also zwischen Potentialität und Aktualität unterscheidet. Der Witz ist, dass der Theologe in der Frankfurter Schule, Paul Tillich, das Problem thematisiert hat.

Das habe ich ja eigentlich schon begriffen, will sagen, ich glaube daran. Vielleicht sollte ich jetzt noch danach handeln :)

Ich dachte an Vieles, bloß nicht an lästige Entscheidungen und Probleme, knipste noch ein paar Fotos und kehrte über denselben Weg, den ich gekommen war, zurück.
Zahlwörter, selbst wenn sie unbestimmt daherkommen, i. d. R. Klein, also „an vieles denken“

jap. Danke

Sie erklärten, ich habe die Rückmeldephase verpasst, stehe kurz vor der Exmatrikulation. Es wäre schon gut, wenn ich nächste Woche zurückkäme und alles regele, ich müsse solche Angelegenheiten im Übrigen so langsam selbst in die Hand nehmen.
Warum dieser kauderwelsche Gemisch aus Konj. I und II? Entweder indirekte Rede und durchgängig Konj. I – also „sei … komme, was die kürzere Korrektur verursacht, oder Zweifel und Konj. II und hätte, stände oder – da klingt Zeitlichkeit eher zufällig durch, ist aber wunderbar, stünde – regelte - müsste

Ich halte das irgendwie für Teil der Figurenrede. Aber das ist faul. Vielleicht habe ich aktiv verlernt, wie man das richtig macht ... Ist jetzt Konj. II

Ähnlich hier
Nur noch ein kleines Feld musste ich freikratzen, als Birgit aus der Küche auf die Anhöhe trat und mit den Händen zum Trichter geformt verkündete, sie habe gerade mit einem Freund telefoniert, der das Problem auch kenne. Es gäbe da ein Mittel zum Sprühen, das die Sache in wenigen Stunden erledige. Das Moos fiele quasi von selbst ab.

Es gebe / es falle

Birgit wollte, dass die Dusche wie ein Totempfahl aussähe, aus dem geschnitzten Maul eines Frosches solle Wasser fließen.
Lassen die Verben „wollen“ und „sollen“ gar den nicht nur optischen Indikativ zu

Birgit wollte, dass die Dusche wie ein Totempfahl aussieht, aus dem geschnitzten Maul eines Frosches sollte Wasser fließen.


das mit wollen/sollen will ich mir merken. Danke dir fürs genaue Hinschauen.

Wenn er die Tasse zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, hatte ich den Eindruck, der Henkel müsse abbrechen.
Wäre es sogar wurscht, ob der Leser Indikativ und Konjunktiv auseinander halten kann dank des Modalverbs „müssen“ (Logik wie beim können und sollen. Das Problem ist übrigens „uralt“ und in den „ist-“ und „soll“- Regelungen der Gesetzgebung - an sich alltäglich und jedem geläufig ...)

ja, hab ich geändert.

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Danke Friedl. Du kamst wirklich gerufen. Ich schäme mich jetzt noch ein kleines bisschen und dann sehe ich zu, dass ich mal einen Haken unter diesen Text mache. Ich will ihn schon noch einmal weiterarbeiten (nach Jimmys Anmerkungen noch mehr, auch wenn das keine Baustelle, sondern eher ein unplaniertes Grundstück ist). Aber er soll übernächste Woche (online) gelesen werden und bis dahin werde ich ihn wahrscheinlich nicht (zumindest nicht gleich) umkrempeln. Er hat seine großen Schwächen, ist ein langer, gemächlicher Text. Aber Ich mag ihn (und vor allem jetzt, wo er wieder Konj.unktur hat).

Viele Grüße
Apeman

 

Aber er soll übernächste Woche (online) gelesen werden und bis dahin werde ich ihn wahrscheinlich nicht (zumindest nicht gleich) umkrempeln. Er hat seine großen Schwächen, ist ein langer, gemächlicher Text.
klingt gut - und die gesprochene Sprache vermag "Schwächen" zu überdecken. Und wenn ein bisschen Publikum dabei ist, um so besser. Eine meiner ersten Lesungen (zwote Hälfte 70er Jahre) brachte sogar richtig Geld für den Srudenten - 500 DM für ne halbe Stunde Krawall, "verewigt" in den "Geschichten aus Be-Erde".

Bis bald und viel Erfolg, wünscht der

Friedel

 

Hey Jimmy,

vielen Dank dir für diesen Marathon-Kommentar. Da kann ich sicher noch lange von zehren. Was du später noch geschrieben hast, hat mich auch sehr zum Nachdenken gebracht. Ich habe mich danach an den Schreibtisch gesetzt und direkt was geschrieben, weil ich das nicht auf mir sitzen lassen wollen. Das war nichts und dann ich habe ich einen Challenge-Text geschrieben, aber ich glaube, du wirst ihn nicht mögen :D Man muss immer dran bleiben oder auch wieder einen Weg zurückfinden, wenn man länger ne Pause hatte oder Dinge sich verändert haben. Ich kann nicht so ganz cool und ruhig bleiben, ich muss dann was machen auch wenn ich mich dann manchmal etwa in die Scheiße reite. Aber das wird schon. Hab es ja schon im Kommentar davor angedeutet, dass deine Zeilen mir zeigen, wie unpräzise ich zum Teil arbeite und was da für Fehler drin stecken. Gerade denke ich über so ironische, tragik-komische und ein bisschen absurde Texte nach, weil das immer auch etwas war, was mich sehr interessiert hat. Mal sehen, wohin sich das so entwickelt.

Eine schlammige Einfahrt ... fehlt da nicht was?

ja, das ist abgekürzt. Eine Pappelallee, 385 Schnecken, eine schlammige Einfahrt. "Wir sind da!"
Da mache ich es mir schon zugegeben ein bisschen einfach, akzeptiere das so, obwohl es sicher noch nicht der beste Ausdruck ist.

Er weiß, was eine Egge ist, er verfügt also über diesen Wissensstand, und dann lohnt es sich doch, das konkret mit dem Hintergrund, dem Erfahrungshorizont des Erzählers zu verbinden

Da hast du schon recht. Ähnliches trifft auch auf andere Stellen zu. Ich glaube, dass ich diesem Ich-Erzähler zu sehr vertraut habe bzw. dass er mir hier und da ausbüchst. Da fragt man sich schon, woher er das weiß bzw. was das für eine Seite an ihm ist und warum da nicht auch an anderen Stellen etwas anklingt.

Lass Birgit doch sagen: "Das ist unsere Scheune." Ich hab das Gefühl, ich bin endlos weit weg von deinem Personal. Das wird durch diese passive Art des Dialogs noch bekräftigt.

habe das, wie gesagt, in einer Überarbeitung anders gemacht. So sieht das da aktuell aus:

Ich zog meinen Rucksack und die Tüte von unserem Stadteinkauf aus dem Kofferraum. Birgit führte mich zu einem länglichen Gebäude.
»It's our barn.«
»Beautiful«, sagte ich.
»There is a lot of space«, begann Birgit.
Ich räusperte mich.

Ärgerlich, wenn man Pippi Langstrumpf nie gelesen hat.

Dann kann man das nachlesen (klassischer Konter, du kennst den :D). Ja, das ist immer so eine Sache. Ich habe es in der Überarbeitung raus genommen. Es ist ja schon auch verzichtbar, individualisiert den Text sehr, verschließt ihn anderen dadurch aber auch. Das ist ja immer so das Ding. Ich mach das gerne, weil es in dem Text eher zu viel davon gibt als zu wenig.

Nach was duften denn die Kerzen?

Sie schloss die Scheune auf, ging über schmale Treppenstufen voran, bis wir einen Sparrendachboden betraten, in dem es nach Holz und Duftkerzen roch, Aprikose oder Pfirsich. Zu beiden Seiten, in den Schrägen reihten sich bezogene Betten.
»You can choose.«

Neugierde etwas verhehlender: Ach, schlafen ja auch andere hier? Oder: Schlafen alle hier?, und dann sieht er zu dem benutzten Bett herüber. Und sie sagt dann so: Das Bett ist vom Andersch. Du willst da auf die Tonlosigkeit hinaus, und das spürt man, da ist was mit dem Andersch, aber man sieht genau in die Konstruktion hinein.

er fragt jetzt gar nicht mehr darauf hinaus. Andererseits lese ich bei dir auch, wie ich das auch sehe. Da entsteht, wenn auch nur ganz bescheiden, so etwas wie Spannung. Also sollte das vielleicht schon wieder rein. Deine Dialog-Vorschläge finde ich passend.

Er horcht in den Raum hinein. Was hört er denn? Und warum ist es jetzt plötzlich doch ein verlockender Gedanke, eventuell länger zu bleiben?

Noch einmal lächelte Birgit, dann verabschiedete sie sich. Licht fiel durch die Gaubenfenster. Ich packte meinen Rucksack aus, legte mich aufs Bett und schloss die Augen.

Habe beides in der aktuellen (offline-)Version rausgenommen. Aber das ist ja keine Antwort auf deine Frage. Da fehlt es an Konkretion und es stellt sich die Frage: macht das Sinn oder kann das weg? Nur mal als so ein Versuch: Er horcht in den Raum hinein und es ist wirklich ruhig. Da ist gar nichts. Vielleicht beginnt er an einem anderen Tag wieder leise Geräusche zu hören, weil sich seine Ohren an die Ruhe gewöhnt haben. Warum will er länger bleiben? Da fehlt die Motivation, dass ist eine große Leerstelle, die Leser füllen können aber nicht müssen. Da ist wenig Angebot im Text. Das Bett ist bequem, er hat diesen Raum nur für sich, da ist Ruhe, das ist wonach er sich sehnt. Aber: Weder das Bett noch seine Sehnsucht ist irgendwie beschrieben. So ist es eine Leerstelle.

Territorialer Grenzkonflikt klingt so nach Irak vs Iran. Persönlicher Konflikt etc, so was meinst du doch, oder?

hehe. Ja schon. War eher so im übertragenden Sinne. Vielleicht passt persönlicher Konflikt besser. Es ging aber auch um Machtansprüche. Also wer darf, wo sein, hat welche Aufgaben und was für ein Verhältnis zu Andersch?

Das stimmt. Sie sind gut beschrieben. Aber zum Leben erwecken, das ist eine andere Sache. Hier hättest du etwas wagen können, ruhig auch sprachlich, Dialoge mal in Englisch, Deutsch, Kauderwelsch, Hand und Fuß ...

Aus neuer Version:
»We talk English here, so Birgit understands us too.«
»Sure«, sagte ich.
»She is as a teacher in catholic school, can you believe?«, fragte Birgit und lachte, als wäre das etwas Absurdes.
»It’s true«, sagte Sophie. Ein Netz roter Äderchen färbte ihre Wange. »But I’m not very religious.«
»How can someone be just a little bit, Sophie?«, fragte Birgit.
Sophie nickte einsichtig.
»Well, then I’m not religous at all.«
»Is’ ja kein Problem«, sagte ich.

Das ist eine gute Idee. Auf jeden Fall mutiger und mit dem Potential, die Figuren greifbarer zu machen. Ist ja irgendwie auch klar durch Dialog. Da habe ich es mir wohl auch etwas gemütlich gemacht, dem Erzähler zu vertrauen, der mir immer wieder auch Autobiografische Brocken hinspuckt oder das alles so berichtet, wie er das denkt, ohne beweisen zu müssen. Bisschen lazy.

Kann etwas Dralles (voll, gespannt, dralle Brüste zum Beispiel) gleichzeitig runzelig sein?

Nee, ist noch nicht der richtige Ausdruck. Danke für den Hinweis.

Ist so eine grundsätzliche Sache: trällern. Das wäre nach Achillus ein Pudel-Protagonist. Das klingt in meinen Ohren alles nach Verniedlichung - ich meine, es ist ja auch keine Melodie in dem Sinne, kein Wohlklang, sondern eine Abfolge von Tönen, laut und schrill, die soll einen ja wecken und nicht noch den Traum verlängern.

Das Pudel-Thema hehe. Ja, ist in der aktuellen Version auch raus. Stimmt. Was hätten wir eigentlich ohne diesen Kommentar von Achillus gemacht?

Nebel, der von Fensterscheiben und Hauswänden tropft. Tut er das wirklich?

Das hat Kiroly auch bemängelt. Aber das macht er doch eigentlich schon. Naja, vielleicht sind es keine Tropfen. Vielleicht hängt er dort als so feuchter Glanz. Muss ich auch nochmal drüber.

Ich spazierte zur Villa Kunterbunt, als lebte ich hier schon seit langem.
Und wie tut er das? Was bedeutet das für ihn: als lebe er hier schon seit langem?

Das ist ja so ein Spiel mit der Andeutung. Da ist eine plötzliche Vertrautheit, vielleicht sogar ein Wohlfühlen. Das merkwürdige ist, finde ich, das es sich ja schon beweist. Er hat genau diesen Gedanken. Das heißt, er muss in diesem Moment auch etwas dergleichen fühlen. Und trotzdem ist die Motivation nicht ganz klar. Warum ist das so? Das liefert der Text nicht. Er sagt: Der Protagonist fühlt das so und deshalb muss etwas vorliegen, was ihn das fühlen lässt. Konstruiere selbst, lieber Leser. Natürlich ist das auch etwas lazy. Das scheint nicht legitim zu sein.

Er war ein kräftiger, für sein Alter gut aussehender Mann, mit blauen Augen, breitem Kinn und grauem Stoppelbart.
Was ist: für sein Alter gut aussehend? Entweder er sieht gut aus, oder eben nicht. Das ist wie Arm dran, oder Arm ab.

hehe. Das sehe ich tatsächlich auch so. Das ist wahrscheinlich so eine Floskel. Fürs (spezifische) Alter gut aussehen. Ist ja mit der These alt=tendenziell hässlich verbunden. So sehe ich das eigentlich auch nicht. In der aktuellen Version ist das sowie die Sache mit dem Bergführer raus.

Alles in allem sah er aus wie jemand, den ich mir als Bergführer einer hochalpinen Tour vorstellte.
Alles in allem? Was denn jetzt? Da ist doch immer noch ein Zögern, der Erzähler ist sich nicht sicher, fällt aber dann doch das Urteil, so stellt er sich jemanden vor, der eine hochalpine Tour führt. Wie kommt er da drauf? Was veranlasst ihn zu diesem Vergleich? Wäre der Erzähler selber Bergsteiger, Kletterer, und würde zu dem Andersch sagen: "Kletterst du auch?" Und er sagt dann: "Wieso?" "Du siehst so aus.", dann könnte ich das irgendwie nachvollziehen. Aber so ist doch dieser Vergleich vollkommen aus der Luft gegriffen.

Naja, das ist halt so ein bisschen humorig. Er nimmt ihn nicht ganz ernst. Er stereotypisiert ihn als so einen knackigen Mittvierziger. Rau mit Stoppelbart und 'Lebenserfahrung'. So wie der Protagonist Andersch sieht und aus dessen Auftreten darauf schließt, wie Andersch sich vielleicht selbst sieht. Und darüber macht er sich ein bisschen lustig. Aber das ist vielleicht etwas fadenscheinig geraten.

Andersch verströmte einen herben Männergeruch, etwas, das ich mochte, selbst aber nicht an mir hatte. Er trank seinen Kaffee mit einem Schuss Milch, sah über die Müslischüssel gebeugt wie ein kleiner Junge aus.
Was ist ein herber Männergeruch? Das soll ja zeigen, dass der Erzähler sich Andersch gegenüber irgendwie unmännlich fühlt, und das auch weiß, aber macht man das am Geruch fest? So wie Hirsche in der Feistzeit? Da wäre doch erstmal die Phsyis - der ist breiter, größer, stärker, hat ein markantes Gesicht, wirkt entschlossen. Dann schreibst du aber am Ende hin, er wirke wie ein kleiner Junge

Da rufe ich dieses Bild auf, greife aber wieder sehr auf den Erfahrungshorizont der Leser zu. Kann verstehen, wenn einem das zu unkonkret ist, man lieber wissen will, ob es Speick ist oder so etwas Holziges, Minziges oder Orangiges.

Ein Hobo ist ein Tramp, jemand der permanent unterwegs ist, das sind diese Leute ja offensichtlich nicht. Das sind Aussteiger,

Das stimmt. Ändere ich

Das klingt wie der Museumsführer im König zu Köln. Woher weißt dein Erzähler das?
Wenn sein Vater Filme macht - dann wird er doch sicher einen geübten Blick haben. Er sieht und denktn Bildern - das wäre wahrscheinlich, weil sein Vater ihm das beigebracht hat oder er es sich abgeguckt hat, oder oder oder. Da verschenkst du doch Potential - er ist da in der schwedischen Wildnis, und er sieht und denkt cineastisch, weil ihm das im Blut liegt, weil er es gewöhnt ist, so zu denken, für ihn sind das alles mehr oder weniger Kameraeinstellungen. DANN kann er so einen Satz bringen, wie mit der Kunst, aber du musst diesen Erfahrungshorizont etablieren.

hehe. Das ist was ähnliches wie das mit der Egge. Hier würde es sich schon lohnen, denke ich.

Ja, das ist so der Hauptpunkt. Ihm fällt aus, dass es doch nicht so superrosig ist, das ist wie Punk mit Föhnfrisur, wenn es am Bahnhof zu kalt wird, gibt es immer noch Hotel Mama. Ich weiß, es ist sehr schwierig, aus dem Hamsterrad des modernen Lebens auszusteigen, fast unmöglich, wenn man einmal drin ist, und nur unter sehr großen Anstrengungen und Verzicht.

Da bin ich ja froh, dass das zumindest rüberkommt. Darum geht es. Aber zugleich ist es auch eine Art Versöhnung damit. Das entspricht meiner Meinung nach einem reflektierten Umgang mit Kontingenzerfahrung. Ich weiß, dass da viele widersprechen werden. Aber ich denke, es ist immer wichtig, sich Widersprüchen auszusetzen und ein Stück weit einfach zu lernen, sie auszuhalten. Ich glaube, dass das eine viel größere psychologische und gesellschaftliche Dimension hat, als viele Leute denken. Ich würde soweit gehen, zu sagen, das ein Gros zwischenmenschlicher und kommunikativer Probleme auf der Unfähigkeit beruhen, Widersprüche auszuhalten.

Guter Satz, so lapidar, mit den Nacktschnecken, ich musste lachen.

Freut mich.

»Manchmal muss man sich was trauen«, sagte er. »Sonst wacht man irgendwann auf und …«
Das darf er natürlich nicht sagen: das wirkt sonst wie, Alle Achtung, jetzt wichtige Metapher. Es ist natürlich klar, dass er da in einem inneren Kampf ist und das alles abwägt, ich finde, das hast du mit dem offenen Ende viel besser eingelöst.

Naja, er bricht es ja auch zum Glück ab und außerdem gibt es ja auch so etwas wie eine ironische Brechung: "Es war eines dieser Gespräche, bei denen bedeutungsschwere Dinge gesagt wurden, lange Pausen entstanden und kurze, aber nachdenkliche Repliken folgten."

Wenn das jetzt nur eine Heldengeschichte ist, bietet sie ja keine Parität an, es befinden sich beide Protagonisten in einer jeweils nicht miteinander vergleichbaren Situation. Hätte Kristoffer auch etwas aufgeben müssen, eine Sicherheit, eine Frau, einen Job, um diese damals einmalige Gelegenheit wahrzunehmen, würde das eher in die Waage kommen. Dann könnte der Erzähler konstatieren: Ah, klar, Kristoffer musste ja AUCH etwas aufgeben, und er hat etwas dafür bekommen, nämlich jede Menge gute Erinnerungen, von denen er heute noch zehrt

Das wäre eine sehr gute Möglichkeit, das auszubauen. Das könnte das Ende jeden Fall gut auf den Punkt bringen; werde ich versuchen. Er kann das ja auch aus seinem Lebenskontext erzählen, wo er eben von seiner Ausbildung zum Mechaniker erzählt, die er abgebrochen hat; und dann trotzdem Mechaniker wurde und sogar mit nach Dakar gefahren ist, was ohne seine Entscheidung nicht passiert wäre. Das wäre doch gar nicht schlecht ...

The Beach, mit DiCaprio

Ich mag den Film, zumindest in meiner Erinnerung. Die besten Kritiken hat er, glaube ich, nicht bekommen. Aber oft wird über den Film geredet. Vielleicht weil er etwas zum Ausdruck gebracht hat, was stofflich sonst nicht im Mainstream verhandelt wurde. Meine Story ist da natürlich nur der ganz harmlose Verwandte aus Schweden. Hier passiert ja nicht wirklich was Schlimmes, obwohl genau das vielleicht der Fall hätte sein sollen. Mehr äußerer Psychokonflikt über diesem persönlichen, inneren Konflikt.

Eifersucht, Neid, sozialer Status innerhalb der Gruppe ... das könntest du sogar noch etwas ausdenen, so suspense Momente, vielleicht wird Sonja ja auch auf ihn scharf oder Birgit, und dann bekommt das schnell so einen ganz bizarren Touch, Sex gegen Bleiberecht, seelische Sklaverei, das nimmt mitunter ja seltsamste Dynamiken.

genau das.


Ich danke dir, dass du dir so viel Zeit genommen ist. Sehr wertvolle Kommentare, ein richtiges Geschenk für mich.
Beste Grüße
Carlo

 

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