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Herbstbastelei
Als Greta aus dem Fenster sah, hatte sie das erste Mal seit einem halben Jahr wieder gute Laune.
Es war noch ganz früh, an den Holzbalken neben ihr glitzerten Spinnweben und in den Hofschluchten lag noch ein leichter Dunst. Es würde ein wunderschöner Tag werden - mit einem unverschämt blauen Farbkastenhimmel, wie es ihn nur Anfang Oktober gibt.
„Altweibersommer“, dachte Greta, „das ist ja doch die schönste Zeit des Jahres.“
Dann musste sie ein wenig lachen. Altweibersommer, das passte. Eine wehmütige, goldene Zeit für eine alte Frau mit zu vielen traurigen Erinnerungen. Eigentlich fehlten jetzt nur noch ein paar wunderschön in Gelb- und Rottönen gefärbte Blätter und eine kleine Brise, die sie über den Hof tanzen ließ.
Es war schade, dass der einzige Baum in dem grauen Hinterhof schon lange krank war. Eine mächtige Kastanie, die ihr und ihrem Mann immer so viel Freude bereitet hatte. Konnte man sie doch lesen wie einen lebendigen Jahreszeitenkalender - mit ihren scharfen Winterzweigen, die in den grauen Himmel stachen, und den grünsilbernen Spitzen im Frühling. Etwas später hatte sie wachsweiße Blüten aufgesetzt und daraus im Herbst grünstachlige Kugeln geboren. Wenn der Wind durch die Äste wogte, konnte man mitunter das Plopp-Plopp der Früchte hören, die auf die Autos und den Boden fielen. Mit den Kindern hatten sie dann Kastanienmännchen gebastelt. Bieder und spießig, vielleicht sogar ein wenig lächerlich, dieses Herbstidyll, aber es war damals eine gute, zufriedene Zeit. Später, als die Figürchen schon lange vergessen waren, da war der Baum krank geworden. Eine hartnäckige Sorte Motten, die das Grün der Blätter frühzeitig rosten und die Früchte verkümmern ließ.
Und dann, es musste ungefähr zu derselben Zeit gewesen sein, da war dann ihr Mann erkrankt. Er hatte diesen Baum so sehr geliebt, fast war es Glück, wenn man eine Krankheit jemals Glück nennen konnte, dass er die Verwandlung des Baumes in ein zerfressenes Rostgestrüpp kaum noch mitbekommen hatte.
Manchmal hatte sie beobachtet, wie Nachbarn das verdorbene Laub zusammenfegten, um die Puppen der Motten zu verbrennen, genützt hatte es wohl wenig, denn auch im nächsten Sommer rollten sich die grünen Blätter zusammen zu welken Hülsen, bedeckten den Hof und die Autos und durchsetzten die Luft mit feinem Staub. Doch sie hatte keine Zeit, sich darum zu kümmern, sie war mit anderen Dingen beschäftigt.
Krebs war eine grausame Krankheit, er nagte und schlang und fraß an dem Menschen, mit dem man zusammengelebt und gelacht und gestritten und den man geliebt hatte. Er fraß so lange, bis er den Geliebten in eine hilflose, blasse Hülle verwandelt hatte, die sich nur noch den Tod wünschte, weil Bleiben Leben bedeutete und Leben nur noch Schmerz. Und wenn er sie fragte, warum es ihn getroffen hatte und nicht sie - und ihr Dinge vorwarf, die sie nicht ändern konnte, dann schwieg sie, denn darauf gab es keine Antwort.
Doch die größte Grausamkeit für sie war, dass sie sich zum Schluss so sehr gewünscht hatte, dass er endlich starb. Nicht aus Mitleid dachte sie so, sondern sie konnte ihn nicht mehr ertragen, seine zänkische Ungerechtigkeit, seinen Geruch und seine Verwandlung.
Im letzten Winter war ihr Mann dann endlich gestorben. Erst danach hatte sie gemerkt, wie entsetzlich allein sie war. Jetzt, wo das Pflegen und Sorgen und die Verzweiflung über das Schicksal ihres Mannes beendet waren, spürte sie ihre Einsamkeit. Ihre Töchter lebten weit entfernt und hatten wenig Zeit. Außerdem war sie keine Mutter, die ihre Kinder für ihr Lebensglück verpflichten wollte. Das musste sie alleine schaffen. Doch Einsamkeit, das war ein Gefühl, das konnte man gar nicht allein ertragen. Sie lachte bitter. Trost gegen die Einsamkeit bekäme sie nur durch einen Gefährten, dessen Fehlen sie doch gerade einsam machte. Ein hässlicher kleiner Widerspruch, das war ihr Leben jetzt. Ein Gefühl, das schmerzte wie ein körperlicher Defekt. Doch töten würde die Einsamkeit sie nicht, sie fraß und nagte nur an ihr, und in der Nacht ließ sie ihre Seele an einem Abgrund zurück, den sie entlangwandern musste. Und an jedem Morgen fühlte sie sich hohler und immer mehr ausgeweidet, bis sie eines Tages keine Kraft mehr besitzen würde, dem Abgrund zu widerstehen.
Doch dieser Tag heute – das war so anders, so warm, so golden. Vielleicht hatte sie ja doch noch ein wenig Glück und lernte, sich an kleinen Dingen festzuhalten. Die Sonne wärmte sie, auf ihren rechten Arm fielen die dunklen Schatten der Kastanienblätter, verschwommene Ornamente und zierliche Flecken, die auf ihrer Haut wanderten. Sie streckte und dehnte sich, streckte sich noch ein wenig mehr, dann betrachtete sie den kranken, alten Baum. Er sah aber gar nicht mehr krank aus, er war wunderbar. Kein einziger brauner Fleck störte auf dem tiefen Grün des Laubes. Das Blau des Himmels wirkte fast bleich dagegen, und wie um den Kontrast noch zu verstärken, waren die Blattränder von zarten Gelb- und Goldtönen gesäumt. Zwischen den Zweigen hingen die prallen Stachelfrüchte, bereit zu platzen und ihre glänzenden Samen an den Boden zu verlieren. Und nun fuhr, wie wenn all die Jahre nicht gewesen wären, eine kleine Brise in die Zweige, ließ die Blätter hin und her tanzen, dann hörte sie die ersten Früchte auf den Hinterhof hinunterfallen.
Greta streckte sich, schmunzelte und beschloss hinunterzugehen, um wieder zum Kind zu werden, das Kastanien sammelt, sie poliert, in Schalen ausstellt und daraus kleine Figuren bastelt.
Als sie in die Wohnung zurückkam, machte sie sich gleich an die Arbeit. Zahnstocher, ein kleiner Bohrer. Dann setzte sie das erste Loch – mit einem kleinen Sirren grub sich die Spirale in die Kugel – eine perfekte Öffnung. Sie konnte es immer noch. Ihre Figürchen damals waren beliebt, einmal hatte sie ein paar ihrer Naturskulpturen sogar in einer Ausstellung gezeigt. Wieder ließ sie das Gewinde in die glatte Haut eindringen, sie fand es fast schade, das schimmernde Braun zu verletzen, aber es musste sein. Der Bohrer fraß, es staubte ein wenig, ein leichter Geruch nach Erde, dann war auch das zweite Loch gesetzt. Sie griff zur nächsten Kastanie und zur dritten, langsam entstand eine kleine Figurengruppe. Während sie sich ausruhte und Kaffee trank, schob sie die Männchen an der Tischkante entlang, bewunderte ihre kindlich-rohe Form, doch dann stutzte sie. Die Maserung einer der Kastanien erinnerte sie an die Zeichnung eines Gesichtes, eines kleinen Gesichtes mit leicht nach unten gezogenen Mundwinkeln, darunter die Andeutung eines Bartes. Sie lachte, nahm einen Stift zur Hand und verstärkte die flüchtigen Linien, damit ganz deutlich wurde, wessen Gesicht sie da gesehen hatte. „Siehst du, mein Alter, jetzt bist du mit deinem geliebten Baum vereint“, sagte sie.
Jetzt brauchte sie nur noch eine besonders große Kastanie für ein Verbindungsstück. Sie setzte den Bohrer an und holte tief Luft, denn diese Passage hier, die war schwierig, sie musste den Körper fast durchbohren, damit sie weitermachen konnte. Sie packte die Frucht fester. Zwischen ihren Fingern schimmerte die Schale wie Porzellan, doch sie fühlte sich wärmer an, viel wärmer, wie die Haut eines glatten Tieres. Ein kurzer Ekel durchzuckte sie, sie zögerte und sah nach einem Ersatz. Doch dann riss sie sich zusammen, setzte entschlossen den Bohrer an, er sirrte los und fräste sich in das Fleisch hinein, es staubte, ruckte, dann prallte er zurück, als wäre er auf eine kraftvolle, elastische Schicht gestoßen, die ihn ausspuckte und mit Wucht zurückschleuderte. Er krachte hinaus aus dem Bohrgang und biss sie in die Hand, mit der sie die Kastanie gehalten hatte. Kurz bevor sie den Wundschmerz fühlte, spürte sie in ihrer Hand ein kleines, triumphierendes Zappeln wie von etwas Lebendigem. Sie schleuderte die braune Kugel weg und betrachtete die Wunde. Blut tropfte auf den Tisch, der Schnitt sah tief aus, doch nähen lassen würde sie ihn nicht. Sie hatte zu viel zu tun. Als sie die fehlende Kastanie gefunden und zu den anderen gelegt hatte, sah sie, wie wunderschön sie waren – fein gemaserte Adern überzogen die braunen, glänzenden Kapseln, nur an einer klebte ein wenig Blut.
Als sie am nächsten Morgen aufwachte, frühstückte sie gar nicht erst. Sie rannte sofort hinunter, um Kastanien zu sammeln. Als sie in das Geäst hinaufblickte, sah sie die großen Blattfinger des Baumes, als ob sie in den Himmel greifen wollten, sie wirkten noch saftiger als am Tag zuvor. Auf dem Boden lag ein dicker Laubteppich, unter dem sich ein Meer brauner Früchte verbarg. Greta wühlte in den fleischigen Blättern, sammelte, raffte und schimpfte mit den Kastanien wie mit ungezogenen kleinen Kindern, denn wenn sie nach ihnen griff, spielten sie mit ihr und rollten weg. Und Greta griff daneben und schürfte sich die Haut, bis ihre Hände rau und rissig waren.
Aber ihre kleinen Installationen machten Fortschritte, die Menge der Figürchen wuchs, sie verband sie mit Silber- und Golddraht, bis ein montierter Reigen entstand, danach schmückte sie ihn mit Perlen und zierlichen Papierstreifen.
Manchmal zeigte sie ihrer Nachbarin die kleinen Gruppen.
Am Anfang war die voller Lob: „Du bist geschickt, Greta, alle Achtung, irgendwie siehst du toll aus jetzt, so frisch und kräftig.“
Dann waren aus dem Lob Ratschläge geworden und aus den Ratschlägen Warnungen: „Findest du nicht, du solltest ein wenig unter die Menschen gehen? Du bist so blass! Und deine Hände sind voller Wunden. Du musst zum Arzt, manche davon sehen ganz entzündet aus, ganz eitrig. Mach mal Pause von all dem, es tut dir nicht gut.“
Greta fand das nicht. Die Arbeit machte ihr Freude. Sie war schwierig, sicher, die Kastanien waren schwer zu halten, man musste aufpassen, wenn man sie miteinander verband und verbohrte, manchmal waren sie fast ein wenig bissig und zänkisch, sie wollten einfach nicht so wie sie. Aber das machte nichts, sie lernte noch, wie sie sie anfassen musste. Und Gretas Nächte waren klar und gut und statt an einem Abgrund wanderte ihre Seele in einer goldfarbenen Ebene.
Wenn sie morgens aufwachte, waren manche der Figürchen weg. Sie musste lachen, am liebsten hätte sie ihrer Nachbarin erzählt, dass sie das an ihren Mann erinnerte, der hatte früher auch immer ihre Skulpturen versteckt. Aber sie hatte keine Zeit für Gespräche. Das hielt sie nur ab von ihrer Mission. Da war noch so vieles, was fehlte, was sie holen und tun musste. Und wenn ihre Nachbarin dann doch kam, dann tranken sie nur kurz einen Kaffee, doch nun achtete sie darauf, dass sie die Nachbarin nicht zu weit in ihre Wohnung eindringen ließ.
Nachts lag sie in ihrem Bett mit geöffnetem Fenster und lauschte dem Baum. Manchmal, wenn es stürmte, stoben die Zweige bis zu ihrem Fenster, reichten hinein zu ihr und zankten und waren ungerecht und beschimpften sie für Dinge, an denen sie nichts ändern konnte. Am Morgen fand sie dann Blätter auf ihrem Bett wie eine Decke, die sie umsorgen und zudecken wollte, doch sie fühlte sich matt und krank. Und in der Luft hing ein schwerer Geruch nach Erde und Schimmel. Manchmal hatte sie jetzt Angst vor diesem zudringlichen, kraftvollen Baum und seinen mit spitzen Zähnen gezackten Blättern, dessen Äste und Samen immer größer und kräftiger wurden und die sich des Nachts an ihr zu nähren schienen. Wenn sie nun durch die goldfarbene Ebene ihrer Träume wanderte, sah sie vor sich einen grauen, schuppigen Rand.
Sie hatte nur wenig Zeit für andere, doch wenn sie sich mit der Nachbarin unterhielt, dann versprühte sie Parfüm in ihrer Wohnung, um den Geruch nach Moder zu überdecken, und dann beklagten sich beide, dass der Baum immer größer wurde. Die Nachbarin erzählte ihr, dass auch die anderen im Hause Angst hätten vor den großen Ästen, die zu lang und zu schwer waren und unter der Last der Früchte zu brechen drohten.
Und manchmal wusste Greta nicht mehr, ob die Gespräche überhaupt stattgefunden hatten. Und manchmal, wenn sie von ihren Raubzügen zurückkehrte, sah sie einen Zettel mit einer Information für alle Hausbewohner, irgendeine Ankündigung von Arbeiten. Doch wenn sie in ihrer Wohnung war, hatte sie ihn schon wieder vergessen.
An einem Morgen, als sie dem Rand der Traumebene mit seinen Rissen und Kratern sehr nahe gekommen war, erwachte sie von lautem Kreischen und Hämmern. Als sie zu ihrem Fenster rannte, sah sie, dass der Kastanienbaum von einem Metallgehäuse bedrängt wurde. Eine schwenkbare Hebebühne ragte in den Wipfel hinein, zwei Männer fraßen sich mit schweren, massiven Sägen von Ast zu Ast. Das Kreischen der Maschinen drang bis zu ihr und dann kreischte es auch in ihrem Kopf. So wie sie war, nur mit einem verschlissenen, schmutzigen Morgenrock, rannte sie hinunter. Sie schrie zu den Männern hinauf, verbot ihnen das Sägen und drohte ihnen, dann stürzte sie sich durch die Absperrung und griff in den tiefen Teppich von Laub und Ästen. Sie warf Kastanien, Blätter und Zweige in die Luft, griff nach Ästen, die sie kaum heben konnte, sie wollte die Männer treffen und sie von ihrer Bühne stoßen und dann warf sie sich gegen den kleinen Bagger, der unter dem Baum stand, bis der Stoff ihres Mantels rot wurde. Dann lachte sie und schrie und lachte wieder und keiner wusste, was schlimmer war.
Als die Polizisten mit der Nachbarin in ihre Wohnung gingen, um ein paar Sachen für sie zu holen, fanden sie in einem der hinteren Zimmer ein Regal.
Die Bücher und Kunstgegenstände, die einmal darin ausgestellt waren, lagen unbeachtet auf dem Boden. In den Fächern schichteten sich zerkleinerte Äste, Blätter, Rinde, ganz eng gestopft und faulig vergoren. Aus einigen Fächern heraus quollen dicke Wülste von sorgfältig miteinander verklebten Kastanien. Davor, wie zufällig aufgehängte Mobiles, mit Fäden verbundene Blätter. Und überall vor den braunen wulstigen Kränzen drängten sich weitere, kleinere Objekte, Hunderte von zierlichen Gebilden. Wären die Polizisten nahe an das Regal herangetreten, hätten sie gesehen, dass die kleinen Arrangements aus miteinander verbundenen Kastanienfiguren bestanden mit behutsam bemalten Gesichtern, verziert und dann am Holz befestigt.
Doch die Männer blieben an der Tür stehen. Sie wollten nicht näher treten, denn ein Gestank, modrig und süßlich, durchsetzte die Luft. Sie blieben stehen, erstarrt, denn von der Tür her sahen sie die innere Ordnung der fleischigen Kastanienknäuel, die aus den Brettern quollen, die sich zu Bündeln und Rundungen formten und die sich zu den wuchtigen Gliedmaßen eines riesigen Körpers. Und wenn der Wind, der manchmal durch das geöffnete Fenster drang, eines der Blattmobiles bewegte, dann sah es aus wie ein Winken, das Abschiedswinken eines riesigen, älteren Mannes.