Herberts Odyssee
Herberts Odyssee (Überarbeitet)
Herberts Odyssee
Irgendwie hatte sich Herbert den Verlauf des Abends doch ganz anders vorgestellt.
Nun saß er, um zwei Uhr morgens, im Sankt Anna Klinikum in Bochum, und starrte Löcher in die Luft. Neben ihm lag Adonis, ein muskelbepackter Pitbull-Terrier, um dessen Maul getrocknetes Blut fremdartige Muster bildete. Es war nicht sein Blut, und darüber war Herbert froh, aber das Bild des Köters beunruhigte ihn trotzdem.
Ihm gegenüber saß eine Frau, die unaufhörlich schrie; sie war Mitte vierzig, trug lange ungepflegte Haare und einen alten Trainingsanzug. Neben ihr saß ihre Begleitung; eine Frau, die so massig war, dass sie zwei der Plastikstühle besetzte. Herbert versuchte die brüllende Frau nicht zu beachten, was aber durch die direkte Nähe nicht so einfach war. Irgendjemand hatte ihr eine Gabel in die Bauchdecke gerammt, soviel hatte er bis jetzt mitbekommen, und sie verfluchte lautstark die Ärzte, die Krankenschwestern, einen gewissen Dieter und alle anderen die ihr Blickfeld kreuzten.
Nur Herbert hatte sie bisher verschont, vermutlich aber auch nur aufgrund der Präsenz von Adonis.
Eigentlich hatte Herbert vorgehabt den Abend und die Nacht vor seinem Computer zu verbringen, um seine Hausarbeit über die Nürnberger Prozesse in Reinform bringen.
Seit zwei Jahren studierte er nun schon an der Wuppertaler Universität Geschichte und Philosophie, und er hatte sich vorgenommen das Studium so schnell, wie nur möglich, hinter sich zu bringen. Der Hund gab ein Knurren von sich, schien aber noch zu schlafen.
Herbert rutschte nervös von einer Arschbacke auf die andere; die Hausarbeit würde er heute wohl knicken können.
An und für sich hatte der Tag gar nicht so schlecht begonnen.
Herbert hatte ausgeschlafen, ein gutes Frühstück zu sich genommen und war einige Runden im Nordpark joggen. Am späten Nachmittag hatte er sich dann für die Nacht mit den nötigen Lebensmitteln eingedeckt: viel Kaffe, Cola und raue Mengen an Schokolade.
Wie sich aber herausstellen sollte, hatte er das Wichtigste vergessen, nämlich Zigaretten. So saß er dann vor einem Wulst aus ausgebreiteten Notizen und Büchern, als er geistesabwesend in die Schachtel Lucky Strikes griff, nur um zu bemerken, dass dort gähnende Leere waltete. Nun blieben Herbert nur zwei Möglichkeiten: zum einen der Gewaltmarsch zur „DEA“ Tankstelle oder ein Sprung in das nahgelegene Lokal „Zur Schneise“, wo Menschen, meist männlich und im mittleren Alter, ihrem Hobby frönen und Alkohol in jeder erdenklichen Form zu sich nehmen.
Durch das Fenster konnte Herbert erkennen, dass sich die Wetterlage nicht gerade für einen kleinen Abendspaziergang eignete, denn es regnete in Strömen. Er wählte er den Weg des geringsten Widerstandes und warf sich in seine Lederjacke, um dem Ruf des Nikotinlasters nachzugehen. Das Lokal „Die Schneise“ kam zu seinem zweifelhaften Namen durch die Tatsache, dass die Alliierten während des Zweiten Weltkrieges eine Schneise durch die angrenzende Wohngegend gebombt hatte. Zwischen Postkarten und Fotos längst vergangener Sylvesterfeiern, kann man im besagtem Lokal auch einige Luftaufnahmen der Zerstörungstat bewundern.
Als Herbert nun, sich den Regen von den Haaren schüttelnd, genau dieses Lokal betrat, wurde er argwöhnig von den Gästen beäugt. Er lächelte zaghaft und senkte den Blick.
Er fühlte sich unbehaglich, doch das Ziel schon fast vor Augen und die Sucht ihn treibend, ging er, ohne sich weiter umzuschauen, in den hinteren Teil der verrauchten Kaschemme, wo neben zahlreichen Spielautomaten, ein alter Billardtisch und auch der Zigarettenautomat stand. Herbert wusste zwar, dass er dort keine Luckys finden würde, aber manchmal durfte man halt nicht wählerisch sein. Als Herbert das Hinterzimmer betrat, lief gerade, in dem an der Wand befestigten Fernsehgerät, die Tagesschau. Während er nun so tat, als sei er politisch interessiert, bemerkte Herbert nicht den hoch konzentrierten Siggi, der gerade versuchte eine außergewöhnlich erfolgreiche Partie Billard, zu ihrem krönenden Abschluss zu bringen. So geschah es nun, dass zwei Abende versaut wurden.
Zum einen, der von Siggi, dem durch einen leichten Stoß seitens Herbert, hundert Euro Wetteinsatz flöten gingen; zum Anderen, der von Herbert, der nun eine Tirade von Beleidigungen über sich ergehen lassen musste und der sich wünschte, er könnte in den Boden versinken. Als die Situation zu eskalieren drohte, und Siggi schon Anstalten machte Herbert mit dem Billardqueue verdreschen zu wollen, schaltete sich der Wirt, Dimitrios, ein.
Er versuchte Siggi zu beruhigen und redete schlichtend auf ihn ein.
Herbert stand eingeschüchtert und zitternd an einem der Spielautomaten.
Er musterte den aufgeregten Siggi, und versuchte sich ein Bild von ihm zu machen.
Dieser trug eine alte, engsitzende Jeans, wie sie in den Achtzigern modern waren, ein schwarzes Muskelshirt, mit einem „Hooligan“ Aufdruck und ein paar Turnschuhe mit neongelben Streifen. Er hatte eine typische Vokuhila Frisur – vorne kurz und hinten lang - und auf seinen Armen waren eine Vielzahl verschiedener Tätowierungen zu erkennen, wovon die meisten nach Heimarbeit aussahen. Er machte auf Herbert nicht gerade den Eindruck eines Mannes, der sich bloß durch reine Argumentation von einem Vorhaben abbringen lässt. Umso mehr hoffte er, dass der Wirt ihn zu Vernunft bringen konnte. Doch trotz all seiner Bedenken, schien in Dimitrios ein Polizeipsychologe verloren gegangen zu sein und Siggi beruhigte sich allmählich.
Herbert fiel ein Stein vom Herzen und er rang sich ein schüchternes Lächeln ab.
Wie ein Schiedsrichter, der zwei gegnerische Streithähne zu einem Handschlag auffordert, näherte sich nun der Gastwirt mit Siggi im Schlepptau. Herberts Lächeln erfror, und er konnte sich nichts weniger vorstellen, als dem Mann, der ihm gerade noch den Kopf einschlagen wollte, die Hand zu schütteln. Doch genau das war es, was der harmoniebedürftige Wirt gerade vorhatte. Liebend gern hätte sich Herbert in Luft aufgelöst oder wäre zumindest einige Schritte nach hinten gegangen, um sein Desinteresse bezüglich jeglicher Verbrüderungsaktionen zu zeigen. Doch der Royal-Casino-2000 Automat stand ihm leider im Weg, so dass kein Rückzug möglich war. Er raffte all seinen Mut zusammen, um zumindest dem Drang zu wiederstehen wegzulaufen. Er entschuldigte sich stotternd und so unterwürfig wie er nur konnte.
Es tat ihm ja so leid und er hatte es ja nicht extra gemacht.
Er war sich auch bewusst, dass viel Geld im Spiel war.
Ja, er konnte die Tätowierung auf seinem Unterarm lesen.
Klar wusste er auch, was Killer bedeutete.
Er hatte auch schon von der Fremdenlegion gehört.
Genau hier schaltete Herberts Gehirn sich aus; ein großer Fehler, wie sich wenig später herausstellen sollte.
Ja, er würde ihm auch einen ausgeben.
Nein, er wusste nicht, wie es ist, wenn man den Führerschein abgenommen bekommt.
Ja, er hatte ein Auto.
Ja, er würde ihn nach Bochum fahren.
Nach Bochum?
Herbert stutzte, doch da war es bereits zu spät.
Siggi trank in einem Zug sein Bier aus, packte seine Trainingsjacke und meinte, noch kurz bei sich vorbei schauen zu wollen. Herbert war entsetzt.
Worauf hatte er sich da bloß eingelassen?
Bevor er sich aber zu viele Gedanken machen konnte, wurde er bereits aus der Kneipe gezerrt. Es hatte aufgehört zu regnen und das Licht der Kneipe reflektierte sich in den Pfützen. Zur Begrüßung der Abendstunden, rülpste Siggi erst einmal; es war ein dermaßen tiefer und gutturaler Laut, dass Herbert zusammenzuckte.
Als sie in seinen alten Fiesta eingestiegen waren, dirigierte Siggi ihn zu sich nach Hause; die Fahrt dauerte keine zwei Minuten. Als sein Fahrgast ausstieg, plante Herbert schon eifrig seine Flucht. Dieses Vorhaben wurde ihm allerdings gründlich vermiest, denn Siggi meinte, dass jeder Versuch stiften zu gehen, unglaubliche Schmerzen im Intimbereich nach sich ziehen würde; zur Sicherheit nahm er Herbert noch den Personalausweis ab.
Als Siggi, ein paar Minute später, wieder in den Wagen stieg, war er nicht alleine; er wurde von einem besonders hässlichen Pitbull-Terrier begleitet, der, wie Siggi später erwähnte, Adonis hieß. Sie machten sich auf in Richtung Autobahn, während Herbert sich den Kopf zerbrach, wie er aus dieser misslichen Lage entfliehen konnte. Sein Beifahrer schien nun in einen kaum zu bremsenden Redefluss verfallen zu sein; er erzählte von seiner angeblichen Zeit bei der Fremdenlegion und von seiner Affäre mit einer afrikanischen Prinzessin. Herbert hatte schon längst auf Durchzug gestellt, konzentrierte sich auf das Fahren und versuchte in den richtigen Momenten, ja oder nein zu sagen.
Zum Glück trafen sie recht zügig in Bochum ein.
Siggi fragte Herbert, ob er den Eierberg kenne.
Er antwortete, dass er zwar schon davon gehört hatte, aber noch nie dort gewesen sei; Siggi erklärte ihm den Weg.
Wie der Name schon vermuten lässt, handelt es sich beim „Eierberg“, um eine Strasse in der gewisse Damen, gewisse Dienste anbieten.
Herbert, der sich so wohl fühlte, wie eine Katze in einer Badewanne, konnte das, was sich vor seinen Augen abspielte nicht glauben. Schon oft hatte er, meist auf irgendwelchen Privatsendern, Berichte über den Kietz gesehen und ein ähnliches Bild eröffnete sich nun vor ihm. Prostituierte soweit das Auge reichte; auf der Strasse, an den Autos und sich sogar in Schaufenstern anbietend, gekleidet in Stoffmengen, aus denen man gerade so ein Taschentusch hätte herstellen können. Er versuchte sich auf die Strasse zu konzentrieren, während sein Beifahrer, glücklich lächelnd, die Fleischbeschau genoss.
Siggi zeigte Herbert einen Parkplatz in dem er reinfahren sollte; er gehörte zu einem Lokal das den Namen „Club 69“ trug, ein großes Fachwerkhaus, von dem ein beruhigendes rotes Licht ausging. Als sie ausstiegen, bekam Herbert von Siggi die Leine von Adonis in die Hand gedrückt, mit der bestimmten Bitte auf ihn aufzupassen, während er sich vergnügen würde.
Die Anfrage von Herbert, warum man den Hund nicht im Wagen lassen könnte, wurde mit dem erneuten Hinweis auf die Tätowierungen und der Fremdenlegion abgeblockt.
Herbert ergab sich seinem Schicksal und folgte dem Frauenliebhaber und Hundebesitzer in den „Club 69“. Dadurch, dass er nicht gerade die Körperkraft eines Russischen Ringers besaß, hatte Herbert beachtliche Schwierigkeiten, dabei den Hund unter Kontrolle zu halten. Siggi klopfte an der schweren eisenbeschlagenen Tür. Auf Kopfhöhe öffnete sich eine kleine Luke und zwei mürrisch dreinblickende Augen musterten Siggi. Kurz darauf öffnete sich die Tür und sie wurden von einem Mann begrüßt, der, wie Herbert fand, eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Klingonen hatte. Das Erdgeschoss des „Club 69“ sah eigentlich nicht anders aus, als jede andere gutbürgerliche Kneipe auch. Mitten im Raum stand eine große runde Theke aus dunklem Holz, an der Barhocker standen. Um dem Thekenbereich waren Tische aufgestellt, an denen einige Gäste entweder tranken oder sich mit den spärlich bekleideten Damen des Hauses unterhielten. Im hinteren Bereich des Schankraumes war eine Treppe, die nach oben führte. Davor stand ein Pult, hinter der eine aufgetakelte Mittfünfzigerin stand. Siggi hielt stur drauf zu und wechselte einige Worte mit der herausgeputzten Mumie. Einige Scheine wechselten ihren Besitzer und Siggi gab Herbert ein Zeichen, dass er ihm folgen solle. Adonis hatte es sich zwischenzeitlich auf dem Boden bequem gemacht und quittierte Herberts Versuche, ihn zum Aufstehen zu bewegen, mit einem lauten Knurren. Herbert lächelte dämlich in Siggis Richtung und zeigte auf den Hund. Siggi steckte seine Finger in den Mund, und pfiff. Adonis sprang auf und zog Herbert hinter sich her, die Treppe hinauf. Die Gänge des ersten Flurs waren in einen rötlichen Schein getaucht und Herbert hörte aus einigen Zimmern triebhaftes Gestöhne. Siggi blieb vor einer Tür stehen, klopfte an, und gab Herbert zu verstehen, dass er warten solle. Er ging hinein und kam mit einem Stuhl wieder raus. Herbert verstand auf Anhieb was Siggi wollte und machte es sich gleich auf der Sitzgelegenheit bequem. Während Siggi nun in das Zimmer verschwand, knotete Herbert die Leine von Adonis an eines der Stuhlbeine. Er schaute kurz auf die Uhr; es war schon halb Eins. Er dachte kurz daran abzuhauen, da aber Siggi immer noch seinen Personalausweis hatte – auf der natürlich Herberts Adresse stand – wischte er den Gedanke zur Seite. Er setzte sich hin und ließ noch mal die Ereignisse des Abends Revue passieren. Seine Augenlider wurden schwer und er döste ein.
Ein lauter Schrei weckte Herbert. Er fuhr hoch und bemerkte, dass der Stuhl nicht mehr an seinem ursprünglichen Platz stand. Weiterhin hatte der Hund es irgendwie geschafft, den Knoten an seiner Leine zu lösen. Herbert sprang panisch auf und sah, dass die Tür des Zimmers, in dem Siggi seinen Trieben nachging, offen stand. Er zögerte einen kurzen Augenblick, nahm dann aber doch seinen ganzen Mut zusammen und riskierte ein Blick in den Raum. Als erstes sah er eine junge schwarze Frau, nackt und mit angsterfüllten Augen, die versuchte sich aus einem blutgetränkten Laken zu befreien. Jetzt sah Herbert auch den Grund für das viele Blut: Der Pitbull-Terrier hatte sich in Siggis Hinterteil festgebissen. Dieser brüllte und spuckte wüste Beschimpfungen aus. Danach ging alles ganz schnell; der Klingone erschien auf dem Flur und mit Hilfe eines weiteren Gastes des Bordells gelang es ihnen, den Hund zu beruhigen und von Siggis Hintern zu trennen. Ein Krankenwagen wurde gerufen und Siggi wurde ins Klinikum gefahren, natürlich immer noch begleitet von Herbert.
Nun saß er dort im Krankenhaus. Die schreiende Frau war inzwischen zur Behandlung abgeholt worden und Herbert genoss die angenehme Ruhe. Das einzige Geräusch, das er nun wahrnahm, war das monotone Schnarchen des Hundes. Erst jetzt bemerkte er, dass er die ganze Zeit über Siggis Jacke rumgetragen hatte und sie nun auf dem Stuhl neben ihm lag. Eine kleiner Hoffnungsschimmer schlich sich durch seine müden Gehirnwindungen. Er sprach ein kurzes Gebet, durchsuchte die Taschen der Jacke und fand seinen Personalausweis. Er stand auf, schaute sich mit unschuldiger Miene um und verschwand, leise pfeifend, durch den Ausgang.