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Helenes Auftrag
Die LAN-Parties für Anfänger würde sie nicht vermissen - es war dort nicht wirklich interessant gewesen: Sechs Leute mit den eigenen Computern an einem Tischtennis-Tisch in Michaels Hobbyraum. Sie hatten zuerst Filme von einer Festplatte zur anderen über eine LAN-Verbindung gesendet, danach Musikstücke getauscht und zum Schluss das Spiel ausprobiert.
Helene hatte die Filme zu Hause nicht mehr angeschaut und kaum Musik gehört. Zugegeben, das Spiel reizte sie sehr - GTA III: Da könne man fliegende Autos einfügen; eine Stadt in den Wolken, eine 30 km lange Brücke über ein Getreidefeld und Achterbahnen bauen und Wohnungen einrichten - das erzählte sie ihrer neugierigen Mutter hinterher und überlegte sich, warum wieder Kevin mit seinem Partner nach Stunden gewonnen hatte.
Dann hatten sich die Jungs unter dem Tisch in Schlafsäcken auf den Rest der Nacht vorbereitet und sie musste nach Hause gehen - sie hatte ihren Computer in den Leiterwagen gepackt und war durch die Straßen gelaufen. Wahrscheinlich hatte der Zauberer dort gewartet, sie nach Hause begleitet und ins Kino eingeladen. Von da an waren sie oft zusammen ins Kino gegangen (der Zauberer hatte keinen Computer).
Filme im Kino waren besser als am Monitor. Spider Man, Tomb Raider, der Herr der Ringe - der Zauberer mochte solche Filme und ihr fielen keine anderen Vorschläge ein. (Der Zauberer meinte, dass Harry Potter Kinderkram und deshalb nicht mehr gut genug für sie sei.)
Irgendwann fing der Zauberer von dem Stein und dem Drachen an: Nur Helene könne ihm diesen Stein bringen, der ihr ganzes weiteres gemeinsames Leben in ein neues Licht tauche. Das spüre er deutlich. Deshalb müsse sich Helene auf den Weg machen. Es falle ihm schwer, sich für die kommenden Monate von ihr zu trennen aber im Interesse der höheren Sache müssten sie das Opfer bringen, sie, indem sie alles aufgeben und er, indem er auf sie warten würde. Helene würde an der Aufgabe reifen und er sei im Geiste bei ihr. Er empfahl ihr drei magische Gegenstände mitzunehmen: eine türkisfarbene Federboa ihrer Großmutter, eine benutzte Zahnbürste, einen Tauchsieder und brachte ihr den wichtigsten aller Zaubersprüche bei. Helene steckte zusätzlich eine Machete, Kaugummis und eine Flasche Wasser in ihren Rucksack.
Sie verließ ihr Elternhaus am Nachmittag. "Tschüss Mutti, ich gehe mit Kevin in die Eisdiele." Und weg war Helene.
(Kevin wurde tagelang verhört, sodass seine Mutter ihren Bruder Anton, einen Amtsrichter, um Rat fragte. Polizeibeamte kopierten die Festplatte, fanden Counter Strike, durchsuchten sein Zimmer und verhörten auch die anderen Jungs, die auf der LAN-Party gewesen waren. Helene blieb verschwunden und an Kevin haftete jahrelang der unausgesprochene Vorwurf, er hätte etwas mit diesem Verschwinden zu tun. Bis Helene wieder auftauchte, zwei Jahre lang, standen Polizeiautos immer wieder vor seinem Elternhaus.
Helenes Mutter wollte ihn kennen lernen. Kevin wusste nicht warum er Helenes Mutter kennen sollte, er hatte genug mit seiner eigenen Mutter zu kämpfen. Er hatte ja nicht mal die Gelegenheit gehabt, mit Helene Eis zu essen und er hätte sehr gerne mit Helene Eis gegessen, wenn sie ihn gefragt hätte.)
Helene stürmte einen Tag lang in die Wüste: Wenn es Schlangen gab, dann bereiteten sie Helene keinen Ärger, sie verkrochen sich in das nicht vorhandene Gehölz. Diese Wüste war eine Zäsur zwischen dem Verlassen der Heimat und der Ankunft irgendwo anders. Es könnte auch eine Zugfahrt in die Schwäbische Alb (von Ulm nach Geislingen) gewesen sein, aber nein! Es war eine Wüste, basta! Die Wüste ist dazu da, dass Helene sich Gedanken macht. Über was zum Donnerwetter sollte sich Helene Gedanken machen? Über den Sinn des Lebens? Über den Sinn ihrer Reise? Wozu sie auf der Welt war? Vergangenheit, Zukunft? Die Gegenwart hatte sie im Griff: Die Flasche Wasser würde ihr bis zur Oase reichen und an den Sand in den Schuhen hatte sie sich gewöhnt.
In der Wüste geht die Sonne morgens auf und abends unter. Am Abend, in der Oase, füllte Helene ihre Wasserflasche und legte sich unter einer Dattelpalme schlafen. Sie stürmte einen weiteren Tag durch den Sand.
Dann kam sie in ein Dorf - die Bewohner hatten noch nie etwas von dem Drachen und dem Stein gehört. Sie spitzten Buntstifte, zählten im Juli Weiße Waldhyazinthen, wickelten Klopapier um Papprollen, sahen Windows beim Defragmentieren zu und sortierten Sonntags den Staub im Staubsauberbeutel. Wie? Sie haben noch nie am Sonntag Staubsaugerbeutelstaub sortiert? Noch nie Haare, Milben, Puzzleteile und Eheringe gezählt? Müssen Sie mal ausprobieren, das beruhigt, gibt Kraft und stärkt das Immunsystem!
Helene half den Dorfbewohnern: Sie spitzte Bleistifte, zählte Weiße Waldhyazinthen, wickelte Klopapier um Papprollen, sah Windows beim Defragmentieren zu, sortierte Staubsaugerbeutelstaub. Von Montag an wartete sie jeden Tag auf das Wochenende, dann war wieder eine Woche vorbei. Ein halbes Jahr später zog sie weiter.
Im Wald begegnete sie dem Drachen: An seinem rechten Ohr steckte ein Bleistift, er trug eine Halskrause aus Klopapier und zwischen seinen Schuppen wuchsen Weiße Waldhyazinthen. Schnell holte Helene die drei magischen Gegenstände aus dem Rucksack und wollte ihren Zauberspruch aufsagen, aber der Drache war schneller und verschwand im Gehölz. Da stand Helene: die Federboa um den Hals geschlungen, den Tauchsieder in der rechten und die alte Zahnbürste in der linken Hand. Sie sprach langsam und feierlich:
„SALVIA GRALZIA SARAZIN"
Die Bäume blieben stehen, der Weg zitterte nicht, aber ein Eichhörnchen fiel vor ihre Füße. Helene sah an seinem Fall, dass es oben im Baum gestorben sein musste. Sie verscharrte es, massierte ihre schlecht durchbluteten Ohrläppchen und die linke Achillessehne. Eine Nacht lang wachte sie am Grab.
Am anderen Morgen kletterte sie auf einen Baum und sah ihr Ziel. Sie erreichte am Abend den Hügel, stand eine Minute vor der schwarzen Basaltsäule und betrachtete den Stein, einen Granitbrocken, der auf einem silbernen Tablett vor der Säule lag. Sollte sie hier auf die Knie fallen? Ein Gebet sprechen? Sollten sie jetzt die tiefsten aller tiefen Erkenntnisse überfallen? Nichts passierte!
„Dieser miese Zauberer! So ein Käse! Der kann mich mal!"
Helene steckte die türkisfarbene Federboa, den Tauchsieder und die benutzte Zahnbürste in den Rucksack, daheim würde sie diesen Plunder an die Klotür hängen. Den Stein ließ sie auf dem Tablett liegen, wer weiß?, der Zauberer würde noch mehr Mädels hierher schicken, da muss jede selber mit fertig werden.
Helene verschwand im Gehölz. Sie musste unbedingt den Drachen finden und ihm von der lächerlichen Federboa, dem Tauchsieder, der benutzten Zahnbürste und dem Zauberer, dem Deppen, erzählen.