*** SPOILER - WARNUNG !!! ***
Achtung! Der nachfolgende Kommentar enthält einige Spoiler in Bezug auf den Plot etc. - wer das Buch also noch nicht gelesen hat und sich die Spannung nicht verderben möchte, sollte besser hier halt machen bzw. schnell weiterscrollen!
Hallo, Porc!
Zunächst noch mal Glückwünsche zum Erstling - so oder so ist es auf jeden Fall ein toller Erfolg! 
Was ich sonst dazu zu sagen habe... Nun, ich täte dem Autor wohl nicht wirklich einen Gefallen, wenn ich jetzt schriebe, wie supertoll mir das Buch gefallen hat, auch wenn dem nicht so ist, oder? 
Denn ich muss leider sagen: So wirklich überzeugt hat "Tinnitus" mich nicht. Dabei hatte es schon aus zwei (wenngleich natürlich subjektiven) Gründen bei mir einen etwas schweren Stand. Denn es gibt zwei Dinge, die ich nur bedingt gut finde:
1) Post-Apokalypse-Geschichten
2) Fremde Superintelligenzen, die unseren Planeten überwachen
Doch selbst wenn ich das beiseite lasse, hinterlässt der Roman bei mir einen sehr zwiespältigen Eindruck. Er liest sich stellenweise zwar sehr interessant und spannend, mancherorts schimmert etwas von dem durch, was mir auch bei den KGs, die ich bisher von Porcupine gelesen habe, gefallen hat: Ausgefallene Charaktere, interessante Themen etc.
Umso enttäuschter bin ich nun leider von dem Roman als Ganzes. Denn er wirkt auf mich leider wie eine etwas haltlose Zusammenwürfelung unterschiedlichster Ideen und Motive, ein Wirrwarr aus Charakteren und Handlungssträngen, das stellenweise doch sehr zäh dahin plätschert. Ein Kardinalfehler, den ich persönlich dem Buch z.B. leider nicht wirklich verzeihen kann: Wenn auf den ersten 120 Seiten insgesamt 5oder 6 mal der Protagonist wechselt, und selbst, wenn man danach denkt, jetzt wäre man endlich mal wo angekommen, so identifikationstechnisch, (Kramsky), verschiebt sich der Fokus schon wieder (Richtung Lazarus). Sowas legt mir als Leser recht deftige Hürden in den Weg, wenn es darum geht, mich mit der Story und ihren Charakteren zu identifizieren. So habe ich denn auch insbesondere die erste Hälfte des Buches nur mit recht wenig Genuss gelesen.
Danach wurde es zwar etwas besser, doch auch hier hatte ich das Problem, dass es stellenweise sehr zäh vonstatten ging bzw. ich auch immer den Eindruck hatte, hier wird zu viel auf zu engem Raum versucht und die Story verliert darüber sich selbst und ihren Fokus immer wieder aus den Augen.
Da gibt es u.a. Charaktere, die auf etlichen Seiten mühsam vorgestellt und teilweise mit etwas ermüdender "Tell don't Show"-Holzhammer-Methodik charakterisiert werden (u.a. Abercomb), deren tatsächlicher Einfluss auf das Geschehen (abgesehen von einem je nachdem möglichst spektakulären Ableben) allerdings eher marginal bleibt. Diese "Screentime" hätte man sehr viel besser nutzen können, wie ich finde, zumal dadurch die ganze Geschichte sehr zerfasert und zumindest mich durchweg unbefriedigt zurücklässt, wann immer wieder mal ein Handlungsstrang sich als Sackgasse entpuppt.
Denn diesem "Zoo" aus heterogenen Handlungselementen und Motiven mangelt es für meinen Geschmack leider stark an zwingender Stringenz, an jener Dichte und philosophischen/psychologischen Tiefe und Konfliktstärke, die es für mich zu einem echten "Pageturner" gemacht hätten.
Und die Art und Weise, wie das alles zum Schluss mehr oder weniger gewaltsam unter einen Hut gestopft wird, ist ... naja, zumindest diskussionswürdig, wie ich finde. Denn durch den "billigen Trick" mit dem "Superwesen" verliert ein Großteil der behandelten Konflikte/Thematiken plötzlich an Relevanz, so wird z.B. eines der Kernthemen, nämlich das Problem von Intoleranz und Fremdenangst etc., durch diesen "Kunstgriff" auf die plumpe kollektive Manipulation durch eine fremde Macht reduziert, gegen die es ohnehin kein Mittel gegeben hätte. Auf mich wirkt das so, als versuche das Buch sich um die konsequente zu Ende Führung des damit verbundenen Diskurses herummogeln und die Menschheit nebst ihrer Historie ihrer Dynamik und Kontroversität zu berauben und sie statt dessen zum tumben Marionettentheater zu deklarieren. Vieles von dem, was die "Überintelligenz" betrifft, sei es ihre Charakterisierung, ihre Handlungen, die Glaubwürdigkeit ihres ganzen Auftritts (Wie kann z.B. eine "Bewusstseinskopie" ohne Hände eine Kapsel reparieren?) ihre Argumentation und ihre Relevanz für die Story - das alles wirkt auf mich leider sehr unausgegoren und widersprüchlich bzw. wie ein Ausweg aus einer Ecke, in die sich das Buch gar nicht erst hätte hineinmanövrieren brauchen...
Soll heißen: Der Weg zum Ziel war bis dahin mühsam genug, und die Auflösung finde ich leider extrem unbefriedigend.
Mein Fazit: Hier wurde m.E. viel Potential verschenkt. Obgleich stellenweise recht spannend zu lesen und mit einigen interessanten Ansätzen versehen, verzettelt sich "Tinnitus" mMn zu sehr in seiner bemühten Komplexität und scheitert dabei an seinem eigenen Anspruch. Etwas weniger Charaktere und Handlungssprünge, dafür ein Mehr an rotem Faden - z.B. die Konzentration auf einen Kernplot (Kramsky, die Arche, die Reise des Exilanten durch die postapokalyptische Welt) - hätten dem Gesamtwerk sicher gut getan. So bleibt vieles für mich zu unausgegoren, nur Ansatz, verstrickt sich in Nebensächlichkeiten, Wiederholungen, Widersprüchen und unbefriedigenden Lösungen, bleibt in vieler Hinsicht zu sehr an der Oberfläche bzw. mangelt es letzten Endes einfach an Dichte und konsequenter Spannung.
Soll heißen: "Tinnitus" ist beileibe kein totaler Reinfall, aber wirklich super finde es leider auch nicht. Für die "Oberliga", in die es vereinzelt schon einsortiert wurde, kriegt es für meinen Geschmack die Kurve noch nicht richtig.
Soweit mein Senf. Für mehr is mir im Moment echt zu warm... 
Gruß,
Das Nörgelhorn
PS: Über das in der Tat "ausbaufähige" Lektorat will ich mich gar nicht weiter auslassen. Aber "währe" statt "wäre" in einem gedruckten Buch ist schon ein bisserl peinlich, gell...