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Heini
Tag 1
Ratte, denke ich – das denke ich immer an dieser Stelle.
Ich fahre durch eine Pfütze und meine Reifen schreiben für kurze Zeit einen meterlangen Satz ohne Punkt und Komma auf den Asphalt. Ich trete schneller, schalte hoch, der Tag beginnt.
„30“ steht groß und weiß auf der Fahrbahn neben meinem Radweg, und ich bin mir nicht sicher, ob die Zahl schon immer dort gestanden hat, aber heute sehe ich das natürlich sofort: Es ist mein dreißigster Geburtstag, und ich stelle mir so einen Fritzen von der Straßenverkehrsbehörde vor, mit Pinsel und Farbeimer und Taschenlampe, wie er extra für mich in der Nacht eine 30 auf die Straße malt – eigentlich nett, aber ich weiß nicht, ob ich mich darüber freue, denn Dreißig ist ja schon so ein besonderes Ding, mit Bilanzziehen und allem – und so viel ist da jetzt nicht: ein Fahrrad, Schaltgruppe XT, Brooks Ledersattel. Ein Ex-Partner. Drei allerbeste Freundinnen, mit denen ich heute Abend um die Häuser ziehen werde – falls man das noch so sagt in meinem Alter. Ein guter Job, ja, und die geerbte Wohnung ein Glückstreffer. Keine Kinder. Das ist schon alles.
Dort vorne kommt Der Ast, und ich spiele wieder das Schätz-Spiel mit mir selbst: Noch fünfzig Mal treten bis zum Ast – und wenn es genau fünfzig Mal sind, oder etwas weniger, jedenfalls nicht mehr – werde ich heute den Heini sehen.
Totaler Quatsch – orakeln – aber naja …
Hm – vierundsechzig Mal treten bis zum Ast – Kopf einziehen!
Vielleicht treffe ich den Heini ja trotzdem, er weiß das ja nicht mit der Vierundsechzig.
Ein schneller Radfahrer überholt mich und ich scanne ihn kurz ab – ein durchtrainierter Mann Anfang vierzig auf einem Mountainbike. Es gibt Regeln, wer mich überholen darf: Rennradfahrer, egal in welchem Alter und welchen Geschlechts, Teenager – es sei denn, sie sind fett – und sportlich aussehende Männer. Überholen muss ich dann alle, die übrig bleiben: Rentner, langsam fahrende Männer, Frauen und Kinder.
Ich habe Glück mit meiner Arbeitsstrecke: ein Stück durch den Park, viel Radweg, wenige Ampeln – ich kann einfach vor mich hin fahren und fünfunddreißig Minuten meinen Gedanken nachhängen – ich glaube, im Auto wäre das so nicht möglich: Autofahrergedanken haben in der Stadt gar keine Zeit, sich so richtig zu entfalten – die werden schon im Keim erstickt von gedachten Banalitäten wie: „Geht’s noch???“, „Hoffentlich bekomme ich einen Parkplatz!“, „30“, und „Grüner wird’s nicht!“, oder „Blöder Radfahrer!“ und so weiter – und im Bus oder der Bahn: Entweder hast du Kopfhörer auf und tauchst vollkommen ab in deine Musik, oder du lauschst einer ununterbrochenen Kette von Wortfetzen: „Und hat gesagt Ischwör Wieder zum Arzt Wääääääh Amina Koyim Hausaufgaben nicht Deine Mutter Schursche saga moll vasvilla Nächste Haltestelle Peking Gewesen Hunde gegessen Yalla Yalla Cogito ergo Therapie“ und so weiter – und dazu das Nnnz Nnnz aus den Kopfhörern von irgendwem – da bleibt nicht viel Platz für eigene Gedanken.
Und deshalb genieße ich das hier so.
Ziel erreicht. 34,5 Minuten – ganz gut für mein Alter!
Tag 2
Ratte, denke ich – das denke ich immer an dieser Stelle. Eigentlich ist da jetzt gar keine Ratte mehr. Aber dort hat sie gelegen, ich erinnere mich genau, weil ich ihr überrascht und erschrocken mitten ins tote Gesicht geblickt habe – von Weitem hatte ich gedacht, da vorne liegt eine Mütze, und dann waren meine Gedanken mit etwas anderem beschäftigt gewesen, Gegenwind und Wahlplakat, und dann – Mütze – war das gar keine, sondern eine frisch überfahrene Ratte mit Zähnen und Gedärm und enttäuschten Augen, und es war zu spät, um wegzuschauen. An den nächsten Tagen war es mir zumeist gelungen, den Kopf zur Seite zu drehen oder schnell die Augen zu schließen, bevor ich bei der Ratte war, aber nicht immer. Bald war nur noch Fell zu erkennen und Rot und gar nicht mehr so viel eigentliche Ratte. Das Fell wurde immer flacher und mit der Zeit sah es so aus, als hätte jemand einen grauen Lappen auf die Straße getackert, und irgendwann wurde auch der Lappen immer flacher und asphaltiger und man konnte gar nicht mehr erkennen, was Straße und was Ratte war, bis nur noch ein dunkler Fleck übrig blieb, und auch nur dann, wenn man wusste, dass er da war. Gut möglich, dass irgendwann so ein Rentner auf einem Fahrrad mit klappernden Schutzblechen aus seinem Kleingarten kommt, mit Socken in den Sandalen und einem Spankorb voll frisch geernteter Äpfel, den er etwas wackelig auf den Gepäckträger klemmt, und dann fährt er los und der Korb rutscht natürlich zur Seite und ein paar Äpfel kullern auf die Straße, die der Rentner dann langsam wieder aufsammelt, während ein paar Autofahrer ungeduldig warten und einer hupt – und dann fährt der Rentner nachhause, und vor seinem Fahrradschuppen trifft er den kleinen blonden Nachbarsjungen, den er so mag, und er nimmt einen Apfel aus dem Korb und reibt ihn an seinem muffigen Gartenhemd blank und schenkt ihn dem Jungen, der auch gleich hineinbeißt wie in irgendeiner Werbung – und einfach niemand ahnt, dass der Apfel kurz zuvor auf der Ratte gelegen hat ...
Die Sonne scheint und trockenes Laub zerbröselt knisternd unter meinen Reifen, wie Cornflakes. Ohne Milch.
Gleich kommt wieder meine 30. Die kann jetzt weg.
Gestern ist es wirklich ziemlich spät geworden mit den Mädels. Immer wieder Cheers und Prost und Jamas! War schon lustig, besonders als wir dann noch ein paar Freunde von Nina getroffen haben … Dieser Robert hält seinen Kopf immer ganz schief, wenn er jemandem zuhört. Ich glaube, bei mir besonders.
Habe ich einen Durst!
Ein Kind überholt mich, höchstens zehn Jahre alt, aber ist mir jetzt egal, da kann ich mich heute nicht drum kümmern.
Vierundsechzig Mal treten – Der Ast – Kopf einziehen – Bingo!
Der Heini heißt natürlich nicht in echt Heini, wahrscheinlich hat er einen ganz normalen Namen wie Sebastian oder Daniel, aber seit Mittwoch letzter Woche klingt nichts schöner in meinen geistigen Ohren als Heini.
Ich spule zum hundertsten Mal das Video in meinem Kopf zurück, drücke auf Play und sehe mich, wie ich vor meinem Schreibtisch stehe, den letzten, etwas groß geratenen Bissen meines Käsebrötchens im Mund und die Tastatur verkehrt herum in den Händen, weil ein paar Krümel in ihr gelandet sind, ich höre es klopfen und sage: „Hmmrein!“, und als die Tür aufgeht und so ein Typ hereinkommt, ziemlich groß und vielleicht etwas älter als ich, bekomme ich Angst, nun für immer und ewig hier so stehen zu müssen, oder wenigstens für hundert Jahre wie bei Dornröschen, mit diesem Käsebrötchenmatsch in der linken Wangentasche und der umgedrehten Tastatur in der Hand – denn ich erstarre sofort und stehe für Sekunden einfach wie Dekoration im Büro herum. Etwas passiert mit meinem Gehirn, vermutlich führen dort winzige NSA-Leute eine Geschmacksumwandlung durch, und als sie damit fertig sind, finde ich nichts schöner als blasse Haut mit ein paar Sommersprossen, Haare in einer so langweiligen Farbe, dass es dafür wohl nicht mal einen Namen gibt, und Augen in einer unentschlossenen Mischung aus Grün und Grau – und obwohl ich mit schnöseligen Anzugträgern noch nie etwas anfangen konnte, bin ich einfach hin und weg von diesem Typen in seinem Anzug. Das liegt natürlich daran, wie er den Anzug trägt – er hat Dockers an und ein verwaschenes Nirvana-T-Shirt unter der Jacke, und eigentlich wirkt er so, als würde er gleich dieses Jackett ausziehen, sich über die Schulter werfen und einen Feldweg an Irlands Westküste entlanggelaufen kommen: Er wuchtet nebenbei ein paar dicke, ausgebrochene Schafe zurück über die Steinmauer, trinkt im Pub auf halber Strecke ein schnelles Guinness am Tresen mit Sean O‘Malley und Rory Flanagan und diskutiert mit ihnen über die Milchpreise, bevor er sich mit dem Unterarm den Schaum vom Mund wischt und etwas Gälisches zur Verabschiedung murmelt, was dort so gemurmelt wird, wenn man sich verabschiedet, vor dem Pub trennt er noch schnell und souverän zwei betrunkene Streithähne, die sich gegenseitig an die Gurgel gegangen sind, dann läuft er weiter, läuft bis zu dem kleinen Cottage an den Klippen, von dem weißer Rauch aufsteigt und wo ich schon warte und aus Schafwolle einen Pullover mit kompliziertem traditionellen Familienmuster für ihn stricke, den er unter seinem Jackett und über dem Nirvana-T-Shirt tragen kann, wenn es kühler wird, eine Schüssel dampfender Kartoffeln steht auf dem Tisch und am Torffeuer sitzen unsere fünf Kinder und spielen mit ihren Murmeln – auf diese Weise trägt er seinen Anzug. Und die Art wie er dasteht, mit irgendeinem Zettel in der Hand, auf den er fragend schaut und dann fragend auf mich, leicht verwirrt und halb grinsend – dieses Dastehen gibt mir endgültig den Rest, und dabei hat er noch nicht einmal etwas gesagt. Er sagt dann: „Ich suche eigentlich Frau Schmidt.“
In meinem frisch gewaschenen Gehirn überschlagen sich die Antwortmöglichkeiten, sie reichen von: „Schmidt? Nie gehört, den Namen ...“, über ein gehauchtes: „Das wird schwer, aber ich helfe Ihnen suchen …“, bis zu einem überzeugten: „Ich bin Frau Schmidt, was kann ich für Sie tun? Ich würde alles für Sie tun …“, – aber wie lange würde ich damit durchkommen – und er schaut wieder fragend auf seinen Zettel und sagt dann: „Aaaaaah, Zimmer 829!“, und ich bin hier in Zimmer 329 und irgendein blöder Drucker hat bei der 8 geschwächelt und nur deshalb ist er jetzt hier – aber eine kleine Resthoffnung bleibt: Vielleicht gibt es das Zimmer 829 ja gar nicht, oder ist nur über einen Geheimgang zu erreichen wie in diesem Film mit dem Stockwerk 7 ½, oder der Bahnsteig 9 ¾ im King's Cross – und dann kommt er zurück zu mir, zerknüllt seinen Zettel und sagt: „Okay, Baby - vergessen wir Frau Schmidt!“
„Okay“, sagt er stattdessen, „dann bin ich hier wohl falsch. Sorry.“
Er dreht sich zum Gehen, grinst wieder leicht, hebt seinen Zettel zum Gruß nach oben und wünscht mir „Einen schönen Tag noch!“
Ich stelle die Tastatur zurück auf den Schreibtisch, schiebe den Brötchenrest in meinem Mund auf die rechte Seite und krächze: „Ihnen auch!“, und dann steige ich vorsichtig durch das Loch in der Luft, wo er gerade gestanden hat, lehne mich an den Türrahmen und blicke ihm hinterher, wie er sich federnden Schrittes, mit seinem Über-eine-irische-Schafweide-laufen-Gang den Flur entlang bewegt – weg von mir und direkt in die Arme von Frau Schmidt, diesem elenden Flittchen.
Katrin, die im Zimmer neben mir sitzt, kommt mit einem Kaffeebecher in der Hand aus der Kantine geschlendert und fragt: „Wer war das denn?“, und wenn das hier ein Film wäre und es würde einen Oscar in der Kategorie Unbeteiligt tun geben, wäre der jetzt fällig: Ich schlucke die letzten verbliebenen Brötchenkrümel runter und antworte: „Wer denn? Ach, der - irgend so ein Heini, der in der falschen Etage gelandet ist.“
Das Video in meinem Kopf ist zu Ende, ich drücke auf Stop.
Durst.
Mein Kopf tut weh.
Und das Gekrächz der Krähen geht mir auf die Nerven.
Ich trete im Takt von Heini in die Pedale:
Hei. Ni. Hei. Ni. Hei. Ni.
Heini. Heini. Heini. Heini.
Heini Hei. Ni Heini. Heini Hei. Ni – ach, blöd, ich will nicht mehr, ich denke nichts!
Denke. Nicht. Denke. Nicht. Denke. Nicht.
Weiter vorne fällt irgendetwas vom Himmel.
Warum auch nicht.
Eine Walnuss – die Schale zerspringt auf dem Asphalt, ein Auto fährt vorüber und blitzschnell kommt eine Krähe angesegelt, landet am Straßenrand, schaut nach links und rechts wie ein eifriges Vorschulkind, hüpft zur Nuss, pickt sich das Innere aus der Schale und verschwindet aus meinem Blickfeld, um irgendwo zu frühstücken. Nicht schlecht!
Ich brauche jetzt auch einen Kaffee.
Bei uns im Institut arbeiten über 1000 Leute, da läuft man natürlich nicht immer jedem über den Weg - aber am Kaffeeautomaten trifft man sie alle.
37 Minuten – okay – nicht ganz mein Tag heute.
Tag 3
Der Wind bläst mir ins Gesicht und die Wolken hängen tief am Himmel wie vollgefressene Fettsäcke.
Immerhin ist es noch trocken.
Ratte.
Ich habe natürlich im Telefonverzeichnis nachgesehen, wegen Frau Schmidt. Sie arbeitet in der Personalabteilung und heißt Elfriede, und das beruhigt mich etwas, denn mit diesem Vornamen kann sie altersmäßig nicht zur Zielgruppe von Heini gehören. Obwohl – man kann das heute gar nicht wissen – all diese uralten Namen, die plötzlich wieder modern sind. Aber Elfriede … Oder Helmut … Mal im Ernst - ob jemals wieder einer sein Kind Horst oder Kurt nennen wird? Ah, ein paar alte Nirvana-Fans vielleicht ... Und eigentlich doch irgendwie süß: Kurt. Wie das überhaupt funktioniert, dass manche totgeglaubten alten Namen wieder gesellschaftsfähig werden … Wer traut sich das denn als allererster: nach hundert Jahren ein kleines Baby zum Beispiel Gertrud zu nennen? Ich denke an eine Schulklasse, in vierzig Jahren vielleicht, und der Lehrer, so ein alter Kevin mit Tränensäcken und Schmerbauch …
Ast
Manchmal stelle ich mir vor, dass meine Gedanken durch die Lüftungsschlitze des Fahrradhelms entweichen und nach oben steigen, ob sie die Wolkendecke durchbrechen und durch all die Luftschichten, die wir irgendwann einmal in Geographie lernen mussten, im Weltall verschwinden – wie voll das dort sein muss mit all diesem bereits Gedachten seit dem Urschleim, und immer wieder neue Gedanken, die dazukommen, und auch alte Gedanken, von anderen Leuten wieder neu gedacht – und dann sehe ich solche Comic-Denkblasen vor mir, auf dünnen Beinen, wie sie sich zu unterschiedlich großen Gruppen des immer gleichen Gedankens versammeln, je nachdem, wie oft er gedacht wurde – und etwas abseits am Rande des Universums, stehen kleine Grüppchen besonders elitärer Denkblasen herum wie auf einer Vernissage, in denen zum Beispiel Cogito ergo sum steht, oder Ich weiß, dass ich nichts weiß – die gibt es dann so fünfzehn, zwanzig Mal. Sie unterhalten sich leise und kultiviert miteinander, haben vielleicht ein Sektglas in der Hand, streicheln sich das Kinn und fragen: „ Und, wer hat Sie denn gedacht?“ „Ich wurde von einem französischen Philosophen gedacht.“ „Das ist sehr interessant, hmhm.“ „Und, Gnädigste, von wem wurden Sie gedacht?“ „Von einem vierjährigen Mädchen.“ „Aha, naja, soso.“ „Ein bayrischer Bierkutscher, Prost!“ „Ein Samurai.“ „Eine Neandertalerin.“ „Interessant ...“ „Mich hat ein Axtmörder gedacht!“ – aber von dem Axtmördergedanken wenden sich die feinsinnigen Herrschaften dann ganz pikiert ab und lassen ihn links liegen, obwohl er der gleiche Gedanke ist wie sie selbst, und er trottet traurig und verloren rüber zu den prolligen Autofahrer-Denkblasen, die in riesigen Gruppen herumstehen, sich im Schritt kratzen und in denen „Fuck!“ steht und „Geht’s noch?“, „Führerschein im Lotto gewonnen?“ und „Grüner wird’s nicht!“ – doch die wollen mit dem Axtmördergedanken auch nichts zu tun haben – aber nicht, weil er von einem Mörder gedacht wurde, sondern weil sie mit solchen etepetete Gedanken einfach nichts anzufangen wissen …
Gestern hat Robert angerufen und gefragt, ob ich mit ihm ins Kino gehen will.
Weiß nicht …
Weiter vorne regnet es wieder Walnüsse – es sind heute viele Krähen, die sich zu ihrem geschickten Nussknack-Spektakel versammelt haben, und ich verfolge fasziniert den ruhigen Landeanflug eines der Vögel, bis mir ein LKW kurz die Sicht nimmt – und plötzlich wechselt das gleichmäßige Schweben der Krähe in ein hartes, schnelles Trudeln, ein Aufprall auf dem Asphalt – ein Auto, noch ein Auto, ich – ich kann meinen Kopf nicht wegdrehen und sehe alles, und ich sehe, wie einer der Flügel verzweifelt versucht, sich vom Boden abzuheben, doch vielleicht winkt er auch einfach nur zum Abschied.
Ich hätte nicht gedacht, dass ich wegen einer Krähe so traurig sein kann.
Tag 4
Der Weg ist noch feucht vom nächtlichen Regen und ich fahre Nacktschneckenslalom. Ich glaube, diese Schnecken sind echt doof, doch für irgendetwas sind sie wohl dennoch erfunden wurden – also versuche ich, zwischen ihnen hindurchzufahren: Nacktschnecke, Nacktschnecke, abbremsen, links fahren, Nacktschnecke, Ratte, Nacktschnecke, rechts …
Ast.
Es war schön gestern im Kino, toller Film, und danach haben wir ewig nicht aufgehört, zu quatschen. Robert hat so lange Wimpern, dass sie manchmal richtige Schatten auf sein schräges Gesicht werfen.
Mittags in der Kantine habe ich den Heini noch nie gesehen.
Aber der muss doch irgendwas essen! Alle anderen trifft man dort immer …
Vielleicht fährt er zum Essen nachhause, zu seiner Frau – unwillkürlich sehe ich eine Fünfziger-Jahre-Hausfrau mit Kittelschürze und Lockenwicklern vor mir, Elfriede, wie sie am Herd steht und ein nach Pups riechendes Gemüsegericht kocht, während ein paar rotznäsige Kinder mit dem Besteck auf den Tisch klopfen und singen: Wir haben Hunger, Hunger, Hunger …
Vielleicht ist er schwul und isst mittags nur eine dünne Scheibe Vollkornbrot im Büro, weil sein Freund ein französisches Gourmet-Restaurant betreibt und ihm spätnachts die übriggebliebenen Amuse-Gueules und Petit Fours mit nachhause bringt, die sie sich dann, nackt auf dem Bett liegend und kichernd, gegenseitig in den Mund stecken …
Aaaargh!
Ich habe nicht an die Krähe gedacht – da war die Krähe!
Einige Meter vor mir auf dem Radweg fährt eine Frau mit Kind im Kindersitz.
Ich leite das Überholmanöver ein, trete, trete, trete, schalte hoch – doch dann sehe ich auf der anderen Seite einen Radfahrer entgegenkommen, und etwas stimmt nicht mit ihm. Er wirkt fehl am Platz hier, er kommt mir bekannt vor, und es ist Heini.
Der Heini???
Ich verstehe das nicht.
Immer noch nicht.
Ich schließe den Mund und rolle langsam weiter.
Mutter und Kind sind längst auf und davon.
Tag 14
Der Nebel ist so dicht, dass ich nicht mal weiß, ob ich schon an der Ratte vorbeigefahren bin.
Kleine Tropfen legen sich auf meine Jacke, wie zum Beweis, dass überhaupt noch etwas existiert,
und meine Haare, die unter dem Helm hervorschauen, sind klitschnass.
Ich glaube, jetzt bin ich gerade unter dem Ast hindurch gefahren, ohne den Kopf einzuziehen – aha – das muss man also gar nicht!
Manchmal stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn mit der Erdrotation etwas nicht stimmt – wenn das, was hinter dem Nebel liegt, einfach stehenbleibt wie ein einzelnes Ritzel, während sich alles andere weiterdreht – und wenn sich der Nebel lichtet, liegt dahinter die Skyline von Manhattan, das gigantische Panorama der Achttausender im Himalaya, oder einfach der Ozean und dann nur noch der Horizont – und wir alle hier fahren wie selbstverständlich dorthin, wohin wir plötzlich schon immer gehört haben.
Egal, was zum Vorschein kommt, wenn der Nebel sich verzieht – lasst bitte den Heini dahinter sein …
Robert meint es wirklich ernst mit uns. Irgendwie mag ich ihn auch. Aber ich will Heini.
Ich sehe den Heini jetzt fast jeden Tag in die andere Richtung fahren. Wenn ich ehrlich bin, dann glaube ich, er hat den Job gewechselt. Das kommt vor. Das ist schlimm.
Immerhin begegnen wir uns nun regelmäßig, aber ich vermute, er hat mich bisher nicht erkannt.
Ich habe es ja auch noch nicht fertiggebracht, rüber zu rufen: „Haaallo! Wir kennen uns! Ich bin die aus Zimmer 329, die Hammerfrau mit den Brötchenkrümeln in der Tastatur - nicht Frau Schmidt!“, - es muss elegantere Möglichkeiten geben, ein Unfall vielleicht: ich könnte auf einer imaginären Ölspur ausrutschen, quer über die Straße schlittern und ihm vors Vorderrad krachen – der Rest würde sich dann wohl von selbst ergeben, aber diesen Stunt traue ich mir noch nicht zu. Es könnte auch einfach ein 16-Tonnen-Gewicht vom Himmel auf die Straße fallen wie in diesen alten Sketchen von Monty Python - dann wäre alles ganz leicht: „Haben Sie das gesehen? Ein 16-Tonnen-Gewicht …“ „Ja, schlimm, man weiß nie, wann es einen erwischt – wollen wir den Rest unseres Lebens miteinander verbringen?“
Krähe – also, nur noch der Fleck – jemand hat den toten Vogel wohl weggeräumt.
Mir wird etwas einfallen.
Letzter Tag
Es gießt wie aus Kannen.
Ich bin in voller Regenmontur: schwarze Regenhose, graue Regenjacke und diese wasserdichten Überschuhe, mit denen man so watschelt wie eine Robbe.
Ratte
30
Ast
Regen
Außer den Autos mit ihren hektischen Scheibenwischern ist heute fast niemand zu sehen, aber zwischen den Sturzbächen, die über meine Augen geschossen kommen, erkenne ich am Horizont einen kleinen heinihaften Punkt, der immer größer wird. Nur er und ich und der Regen sind jetzt noch auf der Straße: die einzigen Überlebenden der Apokalypse, und es ist klar, dass uns das für immer zusammenschweißen wird, dass er mich gar nicht übersehen kann auf der anderen Straßenseite, dass wir uns Durchhalteparolen zurufen werden, an die wir morgen anknüpfen können und übermorgen an das von morgen, und ich fabriziere ein riesengroßes Grinsen in mein Gesicht, ich fahre langsam, ich drehe meinen Kopf in seine Richtung und ich hebe die rechte Hand, um ihm zu winken,
aber
er
schaut
einfach
geradeaus
und
fährt
vorbei.
Als wäre ich verdammt nochmal gar nicht da.
Wie in Slow Motion fahre auch ich weiter: eine gestrandete Robbe auf einem Fahrrad, mit eingefrorenem Grinsen, meine Vorderflosse sinkt wie tot herab auf den Lenker, und Regen und Tränen laufen mir über das glänzende Fell.
Fahr zur Hölle, denke ich, zu deiner bekackten Arbeit, deinen verrotzten Gören und deiner nervigen Frau, Elfriede mit ihrem verkochten Mittagessen, fahr zu deinem schwulen Lover und lass dich mit rosa Macarons füttern bis du platzt – FAHR ZUR HÖLLE, DU HEINI!
Und dann sehe ich, wie der Gedanke im Universum verschwindet, wo er auf Millionen andere Fahr zur Hölle, du Heini!-Gedanken trifft, die dort rumstehen mit geballten Fäusten und ernsten Gesichtern, gedacht von Prostituierten, Henkern, Galeerensklaven, schwarzen Witwen, Neandertalern, Klosterschülerinnen, Nacktschnecken, Schrödingers Katze, Axtmördern – und sie alle nehmen meinen neu eingetroffenen Gedanken stumm nickend und mit wissenden Blicken in Empfang, legen ihm einen Arm um die Schultern und sagen: „Komm her, Kumpel, gehen wir einen trinken …“
Nasses Laub matscht unter meinen Rädern wie Cornflakes in Milch – Krähe – und ich bin irgendwie langsam heute, und als ich ankomme und mein Rad am Fahrradständer befestige, weiß ich auch warum: Mir geht die Luft aus.
Ratte, denke ich.
Ich weiß gar nicht genau, warum ich hier jeden Tag Ratte denke.
Immer schon.
Es ist noch neblig, aber ich glaube, die Sonne kommt bald durch. Ich trete schneller, schalte hoch,
und der Tag kann beginnen. Die 30 ist total verblichen und abgeblättert – meinen letzten runden Geburtstag hat der Fritze auch vergessen, auf die Straße zu malen …
Gleich kommt Maus. Die Stelle, an der ich immer Maus! denke.
Ich blicke über die linke Schulter nach hinten und fahre über die Kreuzung. Wie immer sehe ich in Gedanken den grauen Honda vor mir, wie er unvermittelt nach rechts abbiegt, den Radweg kreuzt, und ich höre das dumpfe Geräusch, als er gegen das Fahrrad dieser Frau scheppert, sehe, wie sie über den Lenker fliegt und mitten in der Luft merkt, dass ich das bin, und wie ich beim Aufprall denke: Maus …
Wir hatten Glück. Mehr Glück geht nicht. Prellungen, Abschürfungen, Gehirnerschütterung – doch Kurt ist gesund und frech wie Rotz – noch nicht mal ganz neun und versucht schon, mit uns zu diskutieren, dass er keinen Fahrradhelm mehr aufsetzen will … Wenn ich damals keinen Helm getragen hätte, habe ich ihm gesagt, dann wärst du jetzt tot! Wärst du schon immer tot! – und er hat wieder so süß geguckt, wie er guckt, wenn er nicht ganz sicher ist, ob er verarscht wird.
Ein Rentner überholt mich. E-Bike. Ich muss meine Überholregeln ändern, es gibt jetzt einfach zu viele Elektrofahrräder. Robert fragt mich manchmal, ob ich mir ein E-Bike kaufen will, aber nö, das hat Zeit, noch genieße ich das Radfahren, so wie es ist. Und wann sonst hat man schon achtunddreißig Minuten Zeit, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen …
Der Nebel hat sich aufgelöst und die gleichen Hügel, der gleiche Fluss und die gleichen Häuser kommen zum Vorschein, die schon immer dort waren – aber wo sonst sollten sie auch hin.
Ein Mountainbike überholt mich – so ein junges Ding mit Herschel-Rucksack und schwarzen Strumpfhosen unter den abgeschnittenen Jeans. Mach nur, denke ich. Ich könnte ihr von meiner Langzeitstudie erzählen: jahrzehntelanges tägliches Radfahren führt dazu, dass die Haut an den Oberschenkeln schlapper wird. Aber das wird sie selbst noch herausfinden, außerdem ist sie längst weg.
Ich habe sowieso den Verdacht, auf diesem Radweg immer wieder einfach nur verschiedenen Versionen meiner jüngeren und älteren Ichs zu begegnen, die sich gegenseitig überholen: Mal bin ich die Mama mit dem Kindersitz, mal das Hipster-Girl mit den straffen Oberschenkeln, manchmal die Omi, die mit ihrem Obst aus dem Garten kommt, mal eine Robbe, verloren im Regen, mal fahre ich auf einem E-Bike grinsend an uns allen vorüber, und einmal bin ich vielleicht ein Gesicht hinter der Autoscheibe – zu schnell vorbei, um erkannt zu werden.
Ein blauer Sattelschlepper überholt mich und ich schließe Mund und Nase, um seine Abgase nicht einzuatmen. Robert Zimmerman – Logistics steht auf der Seite und hinten quer über der Tür.
Witzig, denke ich und schalte hoch.
Vor mir fährt eine Frau in mittlerem Alter, der Herbstwind bläst in Fahrtrichtung,
irgendwo klingelt ein Handy den Anfang von The Passenger,
eine Walnuss fällt vom Himmel, es riecht kurz nach frischem Brot,
jemand ruft Helmuuuut, ein paar Schulkinder bewerfen sich mit Kastanien,
am Straßenrand liegt eine Mütze, auf der Krähe liegt ein angebissener Apfel,
und weiter vorne hat der blaue LKW jetzt angehalten: Der Fahrer öffnet die Tür und ich denke, wie das wohl wäre, wenn da wirklich Bob Dylan aus dem Fahrerhaus steigen würde, um einen Reifen zu kontrollieren, und alle würden vorbeifahren und denken, das wäre nur einfach irgendein alter Sack – aber dann steigt wirklich nur irgendein alter Kerl aus,
und ich fahre weiter und weiter und weiter,
and I ride and I ride, I ride through the city's backside
und der Fahrtwind macht leise Wuuuhuuu-Geräusche in meinen Ohren
und ich denke: Robert heißt irgendwie wirklich jeder Zweite ...
Singing la la la la la la la la -
ich bin da.