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Heimweh
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»Mama, darf ich in den Hof spielen gehen?«
»Na klar, Gisi! Aber nimm dir deine Uhr mit, und komm um halb sieben wieder.«
»Ist gut, Mama!«
Kaum gesagt, entwischt er wie der Blitz zur Tür hinaus. Die so gewonnene freie Zeit kann ich gut nützen, denke ich, denn es wartet jede Menge Arbeit darauf, erledigt zu werden. Ich war während der letzten Tage krank, konnte daher nur das Notwendigste erledigen und um sechs kommen Freunde zu Besuch. Meine arbeitseifrigen Überlegungen werden jäh unterbrochen, als sich dieses unglaublich melodiöse „Täääät-täääät-täääät“ der Sprechanlage in meine Gehörgänge schneidet. Fast immer, wenn Gisi im Hof ist, läutet er in einem fort an, was mir eines Tages noch den letzten Nerv rauben wird. Ich rege mich innerlich kurz darüber auf und schicke dann ein freundliches »Ja?« durch die Leitung.
»Mama, ich bins, ich hol mir nur was.«
Mit einem Knopfdruck lasse ich ihn herein und warte, bis er aus dem Aufzug steigt. Mit einem Flummi, einer Frisbee-Scheibe und den Worten »Ich bin bei Harald im Hof« verlässt er die Wohnung kurz darauf wieder.
Ich stelle das Bügelbrett auf und verbinde das Bügeleisen mit der Steckdose. Dann schalte ich den Fernseher ein. Kurz sehe ich eine Konsumentensendung, in der über ein neues Spiel gesprochen wird, bei dem es offensichtlich »… durch einen Produktionsfehler des Herstellers bedingt …« irgendwelche Probleme gibt, über die sich gerade ein scheinbar dadurch geschädigter Vater kräftig mokiert: »Hören Sie, wenn ich in einem renommierten Geschäft etwas kaufe, dann vertraue ich darauf, dass es nicht zu derartig peinlichen Pannen kommen kann! …«
Ich schalte weiter – was interessiert mich das Geschwafel und Gejammer, wir kaufen ohnehin nur Qualität, da passiert uns sowas nicht; selbst Schuld, wer so ein Klumpert kauft – und lande in einem alten Hans Moser-Film. Gerade richtig zum Bügeln, da reicht es, wenn man zuhört und nur zwischendurch hinschaut. Ich lege gerade meinen Wickelrock über den Bügeltisch, als Hans Mosers Stimme plötzlich mitten in der schönsten Melancholie versagt.
Ich wende meinen Blick dem Fernseher zu und traue meinen Augen kaum, schließe sie kurz und mache sie wieder auf – der Apparat ist weg. Hab ich Halluzinationen? An seiner Stelle stehen Heiligenfiguren aufgereiht, die auch den Platz bevölkern, den vorher die Stereoanlage eingenommen hat. Darüber hängt ein Kruzifix – um Gottes Willen, was ist denn da los?! Die Wände des Zimmers sind nicht mehr gelb und orange, sondern mit weißem Kalkanstrich versehen. Kann man sich tatsächlich etwas so perfekt einbilden oder bin ich in einem schlechten Film? Versteckte Kamera? Nein, sowas können die nicht machen. Von einem Moment auf den anderen können selbst die nicht meine Wohnung verändern. Das muss eine perfekte Halluzination sein – besser als LSD, viel echter. Meine Möbel sind auf einmal alle aus rohem Vollholz, was mir zwar ganz gut gefällt, aber irgendwie wirken sie klobig und überhaupt will ich meine Möbel wieder! Kann es sein, dass ich auf die Tropfen, die mir der Arzt verschrieben hat, derart halluziniere? Vielleicht durch den Alkohol, der drin ist? Schließlich trinke ich seit über zwölf Jahren nicht mehr, da können sich ja dann geringste Mengen schon mal auswirken – aber so? Bin ich jetzt völlig übergeschnappt? Es wirkt alles so verdammt real und ich fühle mich zudem auch ganz nüchtern. Keine Spur von einem Alkoholrausch, und wie LSD fühlt es sich auch nicht an, ich kann ganz klar denken und fühle mich nicht, als hätte ich die Kontrolle über mich verloren. Aber ich bin mir doch ziemlich sicher, dass ich mir das hier nur einbilde. Ich sollte vielleicht einfach so tun, als wäre alles ganz normal. Sicher steht in Wirklichkeit auch noch immer der Fernseher da und es ist alles wie immer. Das wird wohl doch mit den Tropfen zu tun haben.
Verloren in den Gedanken, was ich mit dieser Situation nun anfange, ergreife ich ohne zu schauen mein Bügeleisen, das nun aufgeheizt sein müsste. Aber sogar hier haben die Veränderungen zugeschlagen: Mein eingesetzter Kraftaufwand reicht nicht aus, um dieses schwere Eisengerät anzuheben, dessen Griff ich festhalte. Es sieht nicht nur nicht aus wie mein Bügeleisen, es fühlt sich auch nicht so an. Was soll ich damit bloß anfangen? Würde ich mir das alles nur einbilden, dann wäre es doch wenigstens heiß, schließlich hatte ich es zuvor schon angesteckt. Das ist es aber nicht … Soll ich jetzt etwa heiße Kohlen einfüllen? Ich erschrecke beim Blick unters Fenster, wo sich sonst meine bequeme Fernwärme-Heizung befindet und jetzt nichts ist. Stattdessen steht an der Wand rechts von mir ein Kohleofen – ja hat mich denn der Teufel geritten – muss ich etwa in Zukunft Kohlen schleppen und mein Bügeleisen damit beheizen? Ich hoffe, dass ich das alles nur träume …
Ich staune auch nicht schlecht, als ich endlich bemerke, dass anstelle meines Bügelbrettes nun ein robuster Holztisch dasteht. Weißer Leinenstoff liegt ausgebreitet als Unterlage darauf und statt meinem geblümten Wickelrock, den ich vorhin gerade bügeln wollte, habe ich nun einen weißen Spitzenunterrock aus unheimlich viel Stoff vor mir.
Aber wer sagt eigentlich, dass ich unbedingt alles bügeln muss? Ist es eben ein bisschen verknittert, wen stört das denn schon? Ich heize bestimmt nicht jetzt, mitten im Sommer, ein – und mit glühenden Kohlen zu hantieren habe ich eigentlich auch keine große Lust. Wenn ich mir dann doch alles nur einbilde, zünde ich womöglich noch die Wohnung an, davon lass ich jetzt lieber die Finger. Besser räume ich alles ins Nebenzimmer.
Auch hier haben seltsame Veränderungen stattgefunden, der Computer ist weg, ebenso Schallplatten und Plattenspieler. Die Bücher und CDs sind samt den Regalen verschwunden. Um genau zu sein, stehen in dem Zimmer nur mehr zwei Sessel, auf denen ich nun die Bügelwäsche ablege. Worüber sollte ich mich noch wundern?
Diese komischen Heiligenfiguren – es kann doch keine Einbildung sein, wenn ich sie nehmen und in eine Schublade legen kann, oder? Stehenlassen will ich sie jedenfalls nicht, das wäre ja richtig peinlich, wenn abends Norbert und Grete kommen und es sich um keine Halluzination handeln sollte … Was die dann von mir denken würden, möchte ich gar nicht wissen. Die Veränderungen in meiner Wohnung weiß ich ohnehin schon nicht zu erklären, wie sollten die beiden dann zusätzlich auch noch einen derartigen Sinneswandel von mir verkraften, dass ich plötzlich Heilige hier ausstelle? Gespannt bin ich aber schon, ob sie die Veränderungen ebenso sehen wie ich. Dann wäre es mit Sicherheit keine Einbildung. Was davon allerdings beruhigender wäre, Halluzination oder Realität, weiß ich nicht so genau.
Um das Kruzifix von der Wand zu nehmen, brauche ich wohl die Leiter – ist bloß die Frage, ob die noch existiert … Ich gehe raus um sie zu holen und tatsächlich steht sie, wie immer, an ihrem Platz. Ich freue mich, dass wenigstens hier draußen noch alles beim Alten ist. Auch in der Küche ist scheinbar alles so wie sonst. Dann muss ich mir wenigstens ums Kochen keine Gedanken machen. Wenn ich plötzlich so einen alten Herd hätte, wüsste ich ja gar nicht damit umzugehen.
Mit der Leiter kehre ich ins Wohnzimmer zurück – und meine Ohren nehmen den Klang von Hans Mosers Stimme wieder auf, wie beruhigend! Fernseher, Möbel, Bügelbrett und Heizung – alles ist wieder wie immer! Diesmal bin ich es selbst, die dem alten Hans die Stimme raubt, denn ich schalte jetzt den Fernseher aus, mache Musik und tanze vor Freude eine Runde durchs Wohnzimmer und dann ins Zimmer nebenan: Da passt auch wieder alles – sogar mein PC steht wieder da, damit ich das alles später mal aufschreiben kann …
Die Lust aufs Bügeln ist mir aber trotzdem vergangen. Außerdem wird es Zeit, den Braten zu würzen und ins Rohr zu stellen, damit er zum Abendessen fertig wird. Beschwingt gehe ich in die Küche, hole das Fleisch aus dem Kühlschrank, wasche es, spicke es mit Speckstreifen und reibe es mit Salz, Pfeffer, Paprika und Knoblauch ein. Bis das Rohr vorgeheizt ist, können die Gewürze ein bisschen einziehen. Ich stelle mir die große Bratenpfanne zurecht, nehme das Stück Schwein und hebe es … Verdammt nochmal! Was ist denn das jetzt wieder?! Was soll das, wo bin ich denn da? Anscheinend mitten in der Wildnis? Ich drehe mich um, sehe ein paar Lehmhütten und sieben relativ kleine, leicht gebückte Menschen mit langen Haaren und Lederschurzen. Sie starren mich drei, vier Minuten lang an, als wäre ich der erste Mensch, den sie sehen – und ich sie ebenfalls. Ich bin nun sicher, dass die Veränderungen in meinem Wohnzimmer keine Einbildung waren, irgendetwas spielt da verrückt. Ich muß jetzt überlegt handeln, damit die mich nicht für einen Angreifer halten und sich zu verteidigen beginnen – sie müssen wissen, dass ich ein friedlicher Mensch bin. Vermutlich schauen sie ja wegen meiner Kleidung so verwundert, aber da ist ja auch noch der Braten in meiner Hand. Dass mir der erst jetzt auffällt, den wollte ich ja eben noch ins Backrohr geben … Nun, ich habe ja bereits die Erfahrung gemacht, dass sich alles ganz schnell wieder zurückverwandeln kann und deshalb sollte ich zusehen, dass ich wenigstens ein Feuer zustande bringe, damit das Essen um sechs fertig ist, wenn meine Gäste kommen und ich hoffentlich wieder in meiner Wohnung bin. Der Gedanke, dass Gisi womöglich die ganze Zeit an der Sprechanlage läutet, während ich hier bin, macht mich traurig. Er würde sich verlassen fühlen … Aber jetzt kann ich mich ohnehin erstmal nur mit der Frage befassen: Wie komme ich hier zu einem Feuer?
Die Leute starren mich immer noch an – vielleicht halten sie mich für eine Göttin? Es sind nur wenige Schritte, die ich langsam und vorsichtig auf sie zu gehe, als sie mir ihre Nasen entgegenstrecken – oder vielmehr dem Braten … Aufgeregt tuscheln sie miteinander und schon geht ein Mann in eine der Lehmhütten und holt seine Feuersteine, während die anderen Holz zusammentragen. Ich bin einigermaßen erleichtert. Sowie alles beisammen ist, was man für ein Lagerfeuer braucht, bitte ich sie mit einer Handbewegung, Platz zu nehmen, da ich das Feuer gerne selbst machen möchte. Daraufhin setzen sie sich im Halbkreis mir gegenüber und begutachten fachmännisch, wie ich die abgebrochenen Äste zu einem Haufen schlichte. Der Mann, der die Feuersteine gebracht hat, bietet mir seine Hilfe an, nachdem ich mich damit wohl reichlich ungeschickt angestellt habe, und ich bedanke mich mit einem Lächeln.
In der Zeit vom Feuer bis zur Glut zeigen sie mir erst ihre Hütten, bevor wir wieder ums Feuer sitzen und nicht so recht etwas miteinander anzufangen wissen. Da habe ich die Idee, ihnen ein paar Lieder vorzusingen. Sie „stimmen mit ein“, doch ihre Stimmen sind nicht gerade auf reine Töne getrimmt. Es ergibt sich ein höchst seltsamer Chor und verdammt schade ist, dass das keiner aufgenommen hat – wir würden damit garantiert in alle Hitparaden kommen.
Sie starren mich jetzt anders an als zuvor. Erst stand Angst in ihren Augen, jetzt ist es Bewunderung. Beides ist mir ein bisschen unangenehm, aber wirklich nur ein bisschen. Eigentlich ist es unmoralisch, sie womöglich im Glauben zu lassen, ich sei sowas wie eine Göttin. Ich sollte sie aufklären – aber das erscheint mir echt zu kompliziert, sie verstehen ja meine Sprache nicht und ich die ihre auch um keinen Deut besser.
Ich schiebe die Glut immer wieder zusammen, bis sich eine schöne Fläche ergibt, und stecke zwei verzweigte kurze Äste links und rechts davon in die Erde, während daneben noch das Feuer prasselt. Meinen Braten stecke ich auf einen dünnen Ast und lege diesen über die Verzweigungen der beiden anderen, sodass ich ihn über der Glut drehen kann. Statt gebraten wird er nun eben gegrillt. Die mir gegenüber Sitzenden fächern sich den Bratenduft zu ihrer Nase. Ach, jetzt wird mir erst bewusst, dass die ja wahrscheinlich gar keine Gewürze kennen! Deshalb sind sie so angetan … Mir fällt ein, dass ich mich immer wieder an einen Geruch erinnere, den ich nur im Kindergarten gerochen habe und dass das etwas war, was mir sehr geschmeckt hat. Bis heute bin ich nicht draufgekommen, um welches Gericht es sich damals gehandelt hat – aber ich schätze mal, so ähnlich wird es den Leuten hier auch bald gehen, sie werden das Tier vergeblich suchen, das so gut gerochen hat …
Während ich wieder mal zu dem Ast greife, auf dem mein Braten feststeckt, um ihn zu drehen, kommt mir plötzlich der Gedanke, dass ich ihn vielleicht gar nicht los lassen sollte. Er ist ja vermutlich nur deshalb mit mir mitgekommen, weil ich ihn zuvor in der Hand hatte. Eigentlich warte ich schon sehr darauf, wieder in meiner Küche zu stehen – vielleicht funktioniert das aber nicht, wenn ich es mir wünsche? Also versuche ich, nicht dran zu denken, konzentriere mich auf das Drehen des Fleisches und die „Konversation“ mit den Einheimischen, die mir Geschichten erzählen, von denen ich kein Wort verstehe. Vielleicht sind es auch gar keine Geschichten, sondern Klagen – ich bin mir nicht sicher, wie ich den Klang der Worte deuten soll.
Dem Stand der Sonne nach müsste es auf siebzehn Uhr zugehen, verdammt, und ich bin immer noch hier. Ich habe noch nicht einmal ordentlich zusammengeräumt …
Das Fleisch ist nun auch fertig gegrillt und mir bleibt nichts anderes übrig, als jedem von ihnen ein Stück herunterzureißen – Messer gibt es hier ja keins. Erst gebe ich den beiden mageren Frauen etwas – und stehe plötzlich wieder in meiner Küche. Den restlichen Braten samt Ast halte ich in der linken Hand, das zuletzt heruntergerissene, dritte Stück in der rechten … Ich lege ihn nun, wie ich es vor hatte, in die Bratenpfanne und stelle alles zum Warmhalten ins Backrohr. Wenn diese Leute von eben sehen könnten, womit man heute kocht, würden sie vor Neid erblassen. Nein, es wäre ihnen unheimlich und Neid kennen sie wahrscheinlich gar nicht. Noch genau eine dreiviertel Stunde, bis meine Freunde kommen, weshalb ich hektisch durch die Wohnung eile und wenigstens ein bisschen Ordnung mache. Inzwischen kochen die Erdäpfel für die Knödel.
Norbert und Grete kommen fröhlich gelaunt und setzen sich ins Wohnzimmer. Was bin ich froh, dass es so aussieht, wie es soll und nicht … ich lass das Denken an meine Erlebnisse von eben lieber bleiben, womöglich beeinflusse ich dann doch etwas und wir sitzen plötzlich in einem Weltraumhotel mit nichts als Flüssignahrung und Tabletten an Bord. Ich sollte den Braten vielleicht sicherheitshalber stets festhalten, damit ich ihn auch dann noch mit habe? Quatsch, jetzt passiert nichts mehr. Wir sitzen hier und es ist alles ganz normal.
Um halb sieben läutet Gisi und kommt aufgeregt zur Tür herein.
»Mama, Mama! Der Harald hat heute ein Spiel mit im Hof gehabt, das ist ur-super! Wir sind richtig in den Zeiten herumgereist und es war gar nicht gefährlich. Kaufst du mir auch sowas?«
Es fällt mir nicht schwer, meine Erlebnisse, die Meldung im Fernsehen, und Gisis Zeitreise zu kombinieren.
»Ich glaube, darüber reden wir besser, wenn wir allein sind, Gisi. Es soll da einen schlimmen Produktionsfehler geben …«
»Ja, das weiß ich, Mama, das ist nur, wenn jemand Heimweh hat. Dann können nämlich die Eltern auch in die andere Zeit versetzt werden. Aber ich hab ja sowieso kein Heimweh, also kann das ja gar nicht passieren«, behauptet Gisi und ich kann mein Schmunzeln nicht verbergen.
Ich mache die Knödel fertig und teile das Fleisch gleich in der Küche gerecht auf, damit niemand sieht, dass hier schon Teile fehlen. Es ist aber trotzdem noch genug für jeden da. Norbert und Grete wundern sich etwas, dass der Braten wie am Lagerfeuer gegrillt schmeckt, halten es aber für einen Scherz, als ich sage: »Das ist er auch …«