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Heiß.
Es war der heißeste Tag des Jahres. Anfangs hatte man sie noch für das Wetter und den strahlenden Sonnenschein beglückwünscht, doch als die Braut vorm Altar stand und ihr die Schweißtropfen langsam die Schläfen hinunterliefen, ihr blondes Haar in dunklen Strähnen in ihrem Nacken klebte und sich der helle Stoff des Brautkleids zwischen den Schulterblättern verdunkelte, verstummten die Komplimente. Niemand war für diese Temperaturen angemessen gekleidet, vielleicht gab es für solche Temperaturen keine angemessene Kleidung, vor allem nicht, wenn man in dieser Kleidung eine Kirche betreten wollte; und so traf die Gäste kein besseres Schicksal. Alte Damen in fliederfarbenen Kostümen tupften sich hilflos mit ihren fein bestickten Seidentaschentüchern die Stirn, die jungen Männer wagten es, ihre Jacketts abzulegen, sodass sich unter den Achseln kreisrunde Flecken abzeichnen konnten, während die älteren Herren still in ihren schweren, grau karierten Sakkos litten und sich mit den von ihren Ehefrauen fein bestickten Seidentaschentüchern hin und wieder den Schweiß von ihren Glatzen und aus den Falten in ihrem Nacken wischten.
Sie trug ein zitronengelbes Chiffonkleid, dessen schmal geschnittenes Oberteil ihr bereits nach der Zeremonie wie eine zweite Haut am Körper klebte. Sie hatte nicht kommen wollen, sich viel zu lange um die Zusage herumgedrückt, doch schließlich stand sie dort, in der schwülen Hitze, fächelte sich mit der flachen Hand Luft zu und fand sich mit einem gezwungenen Lächeln auf den Lippen vor dem Brautpaar wieder, um ihnen ihre Glückwünsche auszusprechen. Die kurzen Haare des Bräutigams glänzten nass in der prallen Sonne, und sie konnte einen kleinen Schweißtropfen erkennen, der bis an die Spitze einer dunklen Strähne gerollt war und jeden Moment auf seine Stirn fallen würde. Ihn hatte es noch schlimmer getroffen als seine Frau. Er bemühte sich um Fassung, während ihm der Schweiß in kleinen Rinnsalen über Stirn und Schläfen strömte, um sich an seinem Kinn wieder zu einem großen Tropfen zu vereinen, der schließlich, sobald er eine gewisse Größe erreicht hatte, seinen Hals hinunter rollen und den Hemdkragen verfärben würde. Als sie ihm die Hand schüttelte, wich er ihrem Blick aus, doch sie spürte ihn auf sich, als sie sich der Braut zuwandte.
„Georgia“, sagte sie und streckte ihr die Hand entgegen, doch diese zog sie strahlend zu sich heran und umschloss sie mit ihren kräftigen Armen. Sie wurde unwillkürlich gegen die nackte, mit einem feuchten Schweißfilm bedeckte Schulter gedrückt, die sich nun eiskalt und klebrig gegen ihren Hals presste. Die Arme um den Rücken der Braut legend, bemühte sie sich darum, nicht in die nasse Grube zwischen ihren Schulterblättern zu fassen, überhaupt nirgendwo hin zu fassen, wo es nass war, was in Anbetracht der Umstände gänzlich unmöglich schien.
„Ich wünsche dir alles Gute. Euch.“ Sie war froh, als sie sich wieder aus der Umarmung lösen und flüchten konnte. Mit der Hand wischte sie sich über die feuchte Wange, konnte nicht ausmachen, ob es ihrer oder Georgias Schweiß war, den sie nun in den Stoff ihres Kleids rieb.
Im Vorbeigehen griff sie sich ein Glas Sekt vom Tablett eines Kellners und steuerte auf das Buffet zu. Sie nahm sich einen Teller und begann, ihn mit den kleinen, extravagant dekorierten Häppchen zu beladen. Manche waren mit üppigen Cremeschichten gefüllt, die der Sonne nicht standhielten und langsam, aber sicher zu kleinen, matschigen Häufchen zusammenschrumpften. Andere begannen auszutrocknen, die Ränder wellten sich nach oben, selbst die Tischdekoration begann bereits zu welken. Nur die wenigsten Häppchen wirkten noch wirklich appetitlich, und so beschränkte sie sich auf diese und trug ihren halbvollen Teller zu den Sitzgelegenheiten, die jemand in weiser Voraussicht in den Schatten der großen, hunderte Jahre alten Kastanienbäume gestellt hatte. Von ihrem Platz aus konnte sie das Brautpaar beobachten, die beiden nahmen noch immer vereinzelte Glückwünsche entgegen und Georgia unterhielt sich angeregt mit einer jungen Frau, die ihr wie aus dem Gesicht geschnitten schien. Mutter oder Schwester, dem Alter nach zu urteilen, eher letztere.
Sie hatte nicht gewusst, dass es eine Schwester gab. Vielleicht war es für ihre Freundschaft bezeichnend, dass sie zu ihrer Hochzeit eingeladen wurde, aber niemals von einer Schwester erfahren hatte. Sie wusste wenig über Georgias familiäre Verhältnisse, über ihre Vergangenheit, ihre alten Freunde. Eigentlich wusste sie fast nichts. Tatsächlich war sie erstaunt, als die Einladung eines Morgens in ihrem Briefkasten lag. Erstaunt, weil sie eingeladen war, oder weil Georgia ihn tatsächlich heiraten würde, sie war sich nicht sicher weshalb.
Völlig unscheinbar kam die Einladung daher, ein schlichter, weißer Briefumschlag mit einer fast noch schlichteren, weißen Karte darin.
So schlicht und weiß, dass sie beinahe absichtlich in Vergessenheit geraten wäre, hätte Georgia sie nicht nochmal angerufen und bedrängt, endlich ihre Zusage abzugeben.
„Wir würden uns so freuen, wenn du kommst“, hatte sie gesagt, und sie hatte zurückgefragt: „Ihr?“, und Georgia hatte beteuert, „Ja, wir, er auch“.
Sie hatte lachen müssen, „Lüg mich nicht an“, hatte sie gesagt und aufgelegt, doch am nächsten Tag warf sie die Postkarte mit der Zusage in den Briefkasten.
Sie hatten sich an der Universität kennen gelernt, Einführung in die Literaturgeschichte, zweites Semester. Eine Vorlesung, die für jeden Germanistikstudenten Pflicht war, und doch saßen mehr Senioren in den Reihen des Hörsaals als junge Studienanfänger. Sie kamen ins Gespräch, irgendwann im Laufe des Semesters, ein selbstverliebter Dozent ist ein guter Einstieg für eine Konversation unter gelangweilten Studentinnen. Es war vielleicht keine Seelenverwandtschaft, vermutlich hatten sie auch nie viel gemein, doch irgendwie waren sie zusammen geblieben, hatten sich in Seminaren getroffen und in Vorlesungen, später auf Semester- und WG-Partys. Georgia hielt ganz unwillkürlich Einzug in ihr Leben, ohne je ein richtiger Teil davon zu werden.
Während sie im Schatten saß und ihren Blick über die Köpfe der Gäste schweifen ließ, halbherzig auf der Suche nach jemandem oder etwas, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf einen kleinen Schweißtropfen, der sich an ihrem Haaransatz gebildet hatte. Sie spürte ihn, als er losrollte, eine hauchdünne Linie über ihren Nacken zog und für einen Moment am Schulteransatz verharrte, bis er zwischen ihre Schulterblätter glitt, die Wirbelsäule entlang und bis zum tiefsten Punkt ihres Kreuzes. Dort blieb er beinahe schwerfällig liegen und rutschte bei jedem Atemzug ein winziges Stückchen weiter nach unten, gerade weit genug, um die feinen Härchen in dieser Gegend zum Erzittern zu bringen und ihr trotz der Hitze einen unangenehmen Kälteschauer über den Körper zu jagen. Sie legte ihre Hand in den Rücken und strich über die Stelle, um den Tropfen in den bereits feuchten Stoff ihres Kleides zu reiben.
Es war an einem Tag wie diesem, unerträglich heiß und stickig, als sie Georgias Freund kennenlernte. Georgia hatte sie zu irgendeiner Geburtstagsfeier überredet, und bei kostenlosen Drinks und langen Nächten hatte es noch nie viel Überredungskunst gebraucht, um sie zum Mitkommen zu bewegen. Und so kam es, dass sie sich in der Wohnung eines Typen wiederfand, den sie nicht kannte, zwischen betrunkenen Studenten saß, die sie nicht kannte, und Georgia, die einzige Person, die sie kannte, schon vor Stunden aus den Augen verloren hatte.
Die Wohnung befand sich im sechsten Stock, direkt unterm Dach, und die Hitze des Tages hatte die wenigen Zimmer schon bis zu einem kaum aushaltbaren Grad aufgeheizt, noch bevor die unzähligen Menschen darin ihre Körperwärme abstrahlen konnten. So tauschte sie schon bald die Schwüle des Innenraums mit der wenig Kühlung verschaffenden Schwüle der Abendluft auf dem Balkon, und dort stand er. Das flüchtige Bekanntmachen durch Georgia zu Beginn des Abends hatte gerade ausgereicht, um ihn wiederzuerkennen. Er hatte ihr den Rücken zugekehrt, stützte sich mit beiden Unterarmen auf dem Balkongeländer ab und starrte auf die Dächer der Stadt. Seine lässige Ausstrahlung zog sie an, sie stellte sich zu ihm, mit dem Rücken zum Geländer, er hielt mit der linken Hand eine Bierflasche, mit der rechten führte er seine Kippe zum Mund, inhalierte den Rauch tief in seine Lungen und stieß ihn mit einem Seitenblick zu ihr wieder aus. Sie fragte sich, was jemand wie er mit jemandem wie Georgia wollte, als sie ihm wortlos die Zigarette aus der Hand nahm und daran zog, seinen erstaunten Blick mit ihren Augen festhielt und sie ihm zurück reichte. Ein Lächeln zuckte über seine Mundwinkel, als er sie ihr aus der Hand nahm und dabei über ihre Finger strich, viel zu deutlich, als dass es hätte zufällig sein können.
„Ich hab nichts mehr zu trinken.“ Große Augen, ein Wimpernschlag, die Lippen leicht geöffnet, und es brauchte keiner gesonderten Aufforderung, er stieß sich ohne ein weiteres Wort vom Geländer ab, drückte seine Zigarette aus und holte ihr etwas zu trinken.
Sie küsste ihn zum Dank auf die Wange, blieb einen Augenblick zu lang so stehen, die Hand auf seinen Oberarm gelegt, ihre Hüfte gegen seine geschmiegt. Sie spürte seinen Atem an ihrem Ohr schneller werden.
„Ich krieg Kopfschmerzen von dem ganzen Lärm. Wollen wir nicht irgendwo hingehen, wo es ruhiger ist?“, fragte sie leise und berührte mit ihren Lippen seinen Hals.
„Ich wohne nur zwei Straßen von hier“, flüsterte er und legte seine Hand in ihren Rücken.
Als sie schließlich erschöpft auf dem Bett lagen, schwer atmend und nackt, die verschwitzten Körper eng ineinander verschlungen und miteinander verklebt, gerade so, dass es unangenehm werden würde, sich wieder voneinander zu lösen, strich er ihr eine feuchte Strähne aus dem Gesicht und sagte: „Ich bin mit Georgia zusammen.“
„Ich weiß“, sagte sie, setzte sich auf und begann, sich anzuziehen.
„Hey – das bleibt unter uns, ne?“
„Klar. Ich verrate nichts.“
Er nickte stumm, und sie hatte, was sie wollte. Sie wollte nicht Georgias Beziehung kaputt machen, wollte ihn nicht für sich. Sie wollte nur wissen, ob sie ihn hätte haben können, wenn sie ihn gewollt hätte.
Vielleicht wäre es ihre Pflicht als Freundin gewesen, Georgia zu erzählen, was für einen Kerl sie sich da geangelt hatte. Und vielleicht hätte sie den Wunsch verspürt, ihr die Wahrheit zu sagen, wenn ihr Georgia mehr bedeutet hätte.
Sie wickelte das Stückchen Honigmelone auf ihrem Teller aus dem Schinkenmantel, schob ihn an den Tellerrand und trennte das Fruchtfleisch von dem letzten Rest der gelben Schale, die nur noch an einer schmalen Stelle miteinander verbunden waren. Sie hatte nie verstanden, warum man Früchte in Fleisch einwickeln musste. Einzeln schmeckte beides doch viel besser, und das Beste hob sie sich gerne bis zum Schluss auf.
„Bist du auch Vegetarier?“
Sie zuckte zusammen, wandte sich der Stimme entgegen und setzte an, den Kopf zu schütteln, doch dann traf ihr Blick zwei dunkle Augen, die ihr unter markanten Brauen entgegen blitzten, und sie spürte ihr eigenes Nicken, noch bevor sie bewusst den Entschluss dazu gefasst hatte.
„Ja. Ich könnte niemals ein Tier essen“, log sie und deutete auf den freien Platz neben sich. Der junge Mann folgte ihrer Einladung und setzte sich zu ihr. Er kam ihr bekannt vor. Sie hatte ihn an der Seite von Georgias Schwester gesehen, in der Kirche, als sie noch nicht wusste, dass es die Schwester war. Ihr Blick fiel auf seine rechte Hand, ein feiner, silberner Ring zierte seinen Ringfinger. Er schien ihren Blick zu bemerken, denn seine Hand glitt unter den Tisch, aus ihrer Sichtweite.
„Und woher kennst du das Brautpaar?“, fragte er
„Oh – Georgia ist eine alte Bekannte aus Studienzeiten. Und du?“
Er zögerte für den Bruchteil einer Sekunde. „Ich bin ein Arbeitskollege des Bräutigams.“
Sie schmunzelte. Ein flüchtiger Blick auf das Brautpaar, Georgia war noch immer ins Gespräch mit ihrer Schwester vertieft.
„Und du bist alleine hier?“, fragte sie, schenkte ihm ein Lächeln und schlug ihre Beine übereinander, drehte sich ihm mit dem Oberkörper zu und lehnte sich leicht nach vorne, gerade so, dass er vielleicht einen Blick in ihren Ausschnitt erhaschen konnte. Seine Augen rutschten ab, nur für einen kurzen Augenblick, dann sah er ihr wieder ins Gesicht. Er zögerte mit einer Antwort, zu lange.
„Es ist so heiß hier“, sie legte ihre Hand auf seinen Oberschenkel, „begleitest du mich in die Kirche?“ Große Augen, ein Wimpernschlag, die Lippen leicht geöffnet.