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Havanna-Blues
Das mächtige Schiff schaukelt ein wenig, drängt sich an die Mauer, stößt sich rhythmisch ab, als könne es sich nicht entscheiden, ob es bleiben oder aufs Meer treiben soll. Stahlseile halten es fest. Signallichter blinken auf. Auf den Decks sehe ich die Schatten der Wachleute. Sonst ist keiner mehr da, kein Kapitän, keine Crew, keine Passagiere, keiner von denen, die gekommen waren, um einen fremden Kosmos anzuschauen und die Not der Kinder mit bunten Bonbons zu lindern. Als die ersten Warnungen ausgestoßen wurden, die Fieberkurve anstieg, flackerten ihre leblosen Augen, als hätte man eine Heizung aufgedreht. Angst breitete sich aus unter ihnen. Sie flohen und bestiegen Flugzeuge, die sie dorthin brachten, wo sie herkamen und sich auskannten.
Als ich die Stimmen der Stadt wahrnehme, Wortfetzen, Musik, Geräusche, die im Gurgeln des Meeres untergehen, kommen die Erinnerungen. Die Bilder reichen weit zurück, jagen mir dieselben Schauer über den Rücken, wie damals, als wäre nie vergangen, was ich einst gesehen habe. Es gibt kein Entrinnen. Am selben Kai saß ich vor Generationen, beobachtete das Meer und träumte von Wellen und Gischt. Dann bemerkte ich die Schiffe. Sie kamen näher, legten an. Menschen in Kleiderfarben, so schwarz, so rot, wie ich es nie gesehen hatte, ließen Boote zu Wasser und ruderten an Land. Ihr Anführer brüllte fremde Befehle, presste Luft durch den Mund, zwischen Lippen hindurch, die wie ein zarter Pinselstrich wirkten, wie die Kante eines Bergrückens, auf denen kaum ein einzelner Mensch gehen kann. Er roch nach Salz, Dreck, Erbrochenem, sein Blick war erfüllt von Hunger, als wolle er alles auffressen, was ihm unter die Augen kam, unser Brot, unser Gold, unsere Seelen. Ein Geistwesen mit gierigen Augen umflatterte ihn wie ein Schmetterling. Columbus hielt ein Lügenkreuz in der einen, ein Stück Tuch in der anderen Hand und rammte die Fahne in den Boden. Danach streckte er die Hände zum Himmel, schaute sich um, sank auf die Knie und murmelte mit gefalteten Händen Beschwörungen, die er Gebete nannte. So lange habe ich nicht mehr an ihn gedacht, so lange. Wir ließen ihn gewähren, bis er und seine Leute wieder verschwanden. Danach kamen andere, weitaus schlimmere, an die ich mich nicht erinnern will, deren weil ich ihre Taten tief in mir verstecke.
Ich werfe einen letzten Blick auf das Schiff. Wir sollten es entern, damit die schönen Menschen Havannas auf Federmatratzen schlafen und Palastluft atmen können. Aber dafür ist jetzt keine Zeit. Ich muss mich um Brot kümmern und nach den Geistern schauen. Deshalb wende ich mich ab, gehe ein Stück am Malećon entlang, wo sonst Menschen spazieren gehen, Liebende sich an den Händen halten. die Nacht genießen, mit der Meeresluft Sehnsucht einatmen und jeder während des Angelns oder Schwatzens zum Horizont schaut. Jetzt ist niemand zu sehen, keine Autos fahren vorbei, kein Hupen ist zu hören, alle bleiben zu Hause.
Auf der Placa de la Catedral treffe ich Pedro. Er sitzt auf dem Rollstuhl, den er nach seinem Unfall selbst konstruiert hat. Seit Jahren modifiziert er das Gefährt auf der Basis eines ganz gewöhnlichen gepolsterten Stuhles, je nachdem was er gerade auftreiben kann, damit er bequemer sitzen, schneller fahren oder Stöße besser abfedern kann. Vor ein paar Tagen hat er einen Korb angebracht, und eine Anhängerkupplung, um die Brote im Leiterwagen zu transportieren. Auf eigenen Beinen kann er nur ein paar Schritte gehen. Er schraubt und schweißt, hat die kräftigsten Oberarme, die ich kenne, tiefschwarze Augen, aus denen die Wärme zum Himmel emporsteigt. Pedro schließt sich mir an.
Wir gehen an der Catedral vorbei. Dahinter befindet sich ein Gärtchen, wo gelb und rot Hibiskus und Tagetes blühen, Oregano und Strauch-Basilikum wachsen. Ich öffne die Tür zu dem Anbau, der sich an die Kirchenmauer schmiegt. Pedro folgt mir. Drinnen begrüßen wir Gracia, Lydia und Raul. Der Steinofen strahlt Hitze ab. An der Wand sehe ich eine große Spinne mit behaarten Beinen. Sie schaut mich an und läuft mir in aller Ruhe entgegen, um sich zu dem Netz zu begeben, das sie nahe der Tür gespannt hat. Backstubengeruch durchzieht den Raum. Gracia trägt Kopftuch und knetet Teig.
Die fertigen Brote liegen auf dem Tisch bereit. Lydia nickt, als sie uns sieht und belädt den Wagen. Sie ist stumm, hat nie mehr gesprochen, seit sie ihren Mann verlassen hat. Sie wird von alleine wieder Laute formen, wenn es soweit ist. Ich muss mich vorbereiten, packe zusammen, was ich brauche, Emma vor allem, deren schwarzes Puppengesicht aufzuckt, wenn ich die Formeln murmle. Ich habe sie selbst genäht, den Bauch mit zerstoßenen Knochen, mit dem Mehl aus den Überresten der Haifischzähne, mit Kinderhaaren gefüllt, mein Blut aufgeträufelt, gesungen und Sprüche aufgesagt, während ich ihn zunähte. Ich packe Kerzen ein und duftendes Holz, mit dem ich die Luft vom Gestank, den Ort vom Tod befreien kann.
Wir ziehen los. Lydia hat eine Glocke dabei, damit sie denen ein Signal geben kann, die auf uns warten. Ich glaube, sie mag den Klang des Klöppels, der gegen das Metall stößt, mehr als Stimmen. Pedro grinst sie an. Er mag sie sehr. Menschen winken uns aus den Häusern zu und lassen Körbe von den Fenstern aus herabgleiten. Wir biegen von der Obispo in die Seitenstraßen ab, wo die Häuser düsterer und verfallener aussehen. Dann erreichen wir unser heutiges Ziel. Die Fassaden der ganzen Zeile lösen sich nach und nach auf, als wären sie Schattengebilde, zusammengehalten nur von den Geistern der Leute, die hier wohnen. Wo wir stehenbleiben, ist das Obergeschoss eingestürzt. Der Rest des Hauses ist intakt, ein bisschen wacklig, aber gut in Schuss. Einige Familien wohnen hier. Ich sehe die Köpfe der Leute an den Fenstern.
Heute Morgen ist Ernesto gestorben. Ich erinnere mich daran, dass er als junger Mann getanzt, die Beine geschwungen hat wie keiner: ein Salsa-Gott. Als er älter wurde, saß er gern vor dem Haus. Es muss hier in der Nähe gewesen sein. Während der Abenddämmerung habe ich einst Ernestos Großvater geküsst. Eine Zeit lang habe ich viele Männer geküsst, aber das ist lange her.
Ich fasse die Mauern an, spüre die Steine und nehme Verbindung auf. Die Energie muss das Haus bis tief innen erfassen, nur so kann es gelingen. Dann packe ich aus, was ich brauche, ziehe den Kreis, breite das Feuer aus, werfe die Zutaten in die Flammen, damit Rauch aufsteigen kann. Während Emma mitten im Kreis sitzt, den Rauch bewegt, bis er sich kräuselt und zirkuliert, berühre ich mit der Stirn den Boden, um Ernestos Geist zu finden. Das Haus muss gereinigt werden. So war es immer. Die Seuche muss verjagt werden. Ich gebe mich ganz hin, mit jeder Faser meines Wesens, mit dem, was ist und dem, was war.
Als ich wieder aufwache, liege ich in Lydias Schoss und höre ihrem Geflüster zu. Pedro streicht mir über die Haare, deutet auf die Überreste von Emma, Asche, Baumwollfetzen, verschmort von den Flammen. Ich fühle mich schwach, so schwach, spüre, dass es nicht vorbei ist, dass es mir nicht gelingt, die Geister zu besiegen und den Schmutz zu verjagen.
Ich schaue zum Himmel. Über die Silhouette des Mondes hinweg fliegt ein blasshäutiger Schatten, schaut mich mit Flammenaugen an und lacht.