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Hauptbahnhof, bitte wecken

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20.10.2002
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Hauptbahnhof, bitte wecken

Die Rolltreppe befördert mich langsam und quietschend hinunter in den Schacht. Das ungleichmäßige Flackern der Lichter, die abgestandene Luft, gleich einer Wand, wenn man von der warmen Mailuft hinunter kommt…
Zwei ältere Männer stehen nahe den Gleisen und rauchen. Das Verbotschild an der Mauer gegenüber ist halb überschmiert von Graffitis.
Auf den Schienen schwärmen Mäuse, knabbern an alten Kippen und den Resten einer Wurstsemmel.
Ich setze mich auf eine der Bänke aus blau lackiertem Metall. Eine alte Zeitung liegt da, das Bild einer halbnackten Frau ist aufgeschlagen.

Quietschen, Stahl auf Stahl kündigt die U-Bahn an.
„U 2 Richtung Messegelände.“ Die Stimme klingt uralt, hallt mechanisch durch den Schacht. Wie lange der Fahrer noch Schicht hat?
Die beiden Männer öffnen die Schiebetüren, gehen zu den hintersten Bänken im Wagon, ohne sich umzublicken.
Ich betrete den Wagen und setze mich auf die nächste Bank. Fettige Bezüge mit Flecken. Eine Bierflasche rollt auf mich zu, als die U-Bahn wieder anfährt. Der letzte Rest der Flüssigkeit hinterlässt eine schmale Spur mitten auf dem Gang.
Gedankenverloren blicke ich aus dem Fenster ins Dunkel, grau, nichts als grau, Leitungen, eine Notbeleuchtung. Ich sehe mein eigenes Spiegelbild in der verschmierten Scheibe.

Auf der Bank mir schräg gegenüber liegt jemand auf den Sitzen. Die schwarzen Turnschuhe ragen auf den Gang hinaus. Darüber eine enge Schlaghose und eine Lederjacke.
Es ist eine junge Frau. Ihre Augen sind geschlossen, der Lidschatten verwischt. Die langen Haare liegen weich über ihren Schultern, das Blond ist am Scheitel dunkel.
Im Arm hält sie ein Schild. Fast nachlässig sieht es aus, mit Edding schnell auf den Pappkarton geschrieben: Bitte am Hbf wecken, steht da.
Ich versuche, sie zu schätzen, aber es ist nicht einfach. Schminke überdeckt ihr Gesicht, sie ist ein bisschen verwischt, an den Augen. Vielleicht ist sie etwas jünger als ich? Nicht viel, aber ein, zwei Jahre…

Die Bahn hält, die Bremsen schreien wieder. Sie wacht nicht auf. „U 2, zum Messegelände“. Der Fahrer muss auch müde sein, es ist schon so spät. Zu spät für Kontrolleure, hoffe ich.
Der Bahnsteig ist leer.

Der Mund der jungen Frau steht leicht offen. Bitte am Hbf wecken. Der Bahnhof… die nächste Station. Auch ich werde dort aussteigen, und dann mit dem Bus weiter nach Hause, endlich.

Sie sieht so müde aus. Sie schläft in der U-Bahn, U 2, Richtung Messe. In der stickigen Luft, auf filzigen Bänken, mit Bierflaschen und Zeitungen mit nackten Frauen und roten Schlagzeilen.
Kleine Fältchen hat sie um die Augen. Das wenige Licht lässt sie sehr blass erscheinen.
Bitte am Hbf wecken.
Der Zug verlangsamt, die Bremsen greifen. Aber sie sieht so müde aus, so blass mit der schwarzen Lederjacke und der verlaufenen Schminke…

Leise stehe ich auf, um sie nicht zu wecken. Sie regt sich nicht. Als ich die Türen öffne, kommen mir ein paar Jugendliche entgegen.
Bitte am Hbf wecken.
Bitte weckt sie nicht, denke ich, bevor ich mich auf die Stufen der Rolltreppe stelle, und in die Nacht fahre.

Sie sieht so müde aus.

 

Deine Gedanken haben mich da auch zum Grübeln gebracht, Maus. Allerdings liegt es ja auch in meiner Verantwortung, welche Wünsche ich erfülle. ;)

 

Hallo Susi, hallo sim!

ins lächerliche ziehen wollte ich das sicher nicht. Ich habe mir nur den krassesten Fall rausgesucht, den sich ein grundsätzliches Prinzip auch immer gefallen lassen muss... Dein Beispiel ist sicher gut und vergleichbarer, Susi :)
sim: danke, dass Du Dich auch nochmla gemeldet hast. Diesen Punkt der Verantwortung wollte ich ansprechen.

schöne Grüße an Euch beide-
Anne

 

Hei Mäuschen, ich finde die Darstellung gelungen, das sehe ich immer daran, ob ich viele Bilder im Kopf habe. Du kannst echt gut beschreiben. Ich frag mich allerdings, ob die Frau schon tot ist, und es noch niemand gemerkt hat.

liebe grüsse stefan

 

hallo Stefan,

danke fürs kommentieren. Auf den Gedanken, dass die Frau tot sein könnte, bin ich selbst noch garnicht gekommen. Aber Du hast recht, das wäre ebenfalls ein Ansatzpunkt. Ich freu mich, dass Du Dich so mit der Geschichte beschäftigt hast. :)

liebe Grüße
Anne

 

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