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Hallo Reeperbahn!
Bin wieder mal da, total hippelig.
Ist wohl eine Macke, die mich auf diesem Pflaster überkommt. Dieses Aufgedrehte, Flattrige – wie zu Knabenzeiten, wenn man was Verbotenes tat. Oder in den Jahren vor der Scheidung. Aber jetzt? Vertraut mit dem Leben und allem, was dazugehört – und immer noch so eine Art schlechtes Gewissen, als ob’s der Herrgott nicht sehen dürfte? Ziemlich verrückt.
Rosi, Jennie, Gerti, Babette winken schon. Das tun die seit dreißig Jahren. Ich bin mittlerweile grau geworden, sie haben sich für andere Farben entschieden. Macht mir nichts, dass sie jedem winken.
Bei Gerti liefert der Chinese gerade Nasi mit Spiegelei – wer arbeitet, muss auch essen.
Ich muss erst was trinken.
Stunden später hab’ ich keine Lust auf die alten Freundinnen. Ehen erkalten, Eintopf erkaltet.
Lieber was Dunkles, Schokolade.
Heaven, was für ein Weib! Kommt direkt von Jamaika. Touristin, sozusagen im Gegenzug zu den vielen blonden Frauen besten Alters, die Jamaika wunderschön finden und am liebsten bei ihrem Rastalehrer am Strand wohnen, einfach und mit persönlichem Bezug.
Meine Jamaikanerin ist sehr freundlich zu mir – mütterlich, wie eine Bäckersfrau, beugt sie sich über mich und ich ersticke fast in ihren Brüsten.
Ich geh’ dann noch ein bisschen weiter, um auch die kleineren Gassen zu besuchen,
mit hundert Kneipen, stimmungsvoll und heiter, bunt wie ein Geburtstagskuchen.
Ich woge und ich dränge in der triebgetrieb’nen Menge.
Diese Nacht muss es bringen – jetzt oder nie. Da sind wir uns alle einig; denn morgen sind wir wieder zurück an den Orten unserer Qual: auf dem Eisenschiff, in der Fabrik, im dröhnenden Maschinensaal.
Dann schmerzt der Kopf – und das verprasste Geld. Da ist keiner, der uns tröstet und zu uns hält, der seine Hand auf die Schulter legt und sagt: Schiet drupp, kann doch passieren, dass man sich ungeliebt und unverstanden fühlt, dass man das eigene Grübelgesicht satt hat und sich mal was gönnen will.
Kann doch passieren, dass man nach all der Alltagskacke mal so richtig auf den Putz hauen will, wie es die Chefs tun; dass man eine Bestellung auf Großmannsweise über die Theke schmettert, bei jeder Runde mehr ausgeschmückt mit Brocken, die man bei der Seefahrt aufgeschnappt hat. Da weht die große Welt herein und lässt die eigene Person wachsen und immer origineller und interessanter erscheinen, bis der Schankkellner dieses Sprachgehäcksel nicht mehr versteht und in bestem Englisch zurückfragt, was denn nun wirklich gewünscht werde.
Das kann ich nicht wechseln, werde schadenfroh angeschaut und verliere augenblicklich Überschwang, Gönnertum und Sektlaune. Ernüchtert bin ich wieder einer in der Menge.
Für einen zweiten Besuch bei einer der Schönen aus Altona oder Afrika reicht es weder finanziell noch konditionell, wiewohl es nur zum Schmusen und Trösten gedacht wäre. Es ist schon spät – oder früh, doch hier auf der Wallstreet des Lebens sind die Nächte dehnbar.
Zwar ist die Luft raus – alles ging wieder mal viel zu schnell – doch die Antenne ist noch ausgefahren. Nach Spielerart will ich der Nacht noch etwas abgewinnen, irgendwas, um noch nicht zurückzumüssen zu all dem, was ich wenigstens für dieses Wochenende hinter mir lassen wollte.
Zu dieser Stunde ist „Ludowig“ die beste Adresse.
Wie ein gutes amerikanisches Frühstückslokal öffnet das Etablissement 4.00 Uhr, allerdings wird nur flüssiges Frühstück serviert. Die klassenlose Gesellschaft drängt und knubbelt sich am Tresen, wähnt sich noch am Leben. Die anderen am Rande, an den Tischen, könnten ebenso auf dem Mond sitzen, auf dem Mars, oder als tiefgefrorene Kügelchen durchs Weltall schweben – es wäre ihnen egal. Sie sind gekentert und ersaufen.
Ich kratze noch etwas Klimpergeld für ein großes Bier zusammen; diejenigen aber, die weniger oder gar nichts mehr haben, erspüren wie ein Trüffelhund den scheinbar Wohlhabenden und werfen sich ihm zu Füßen. Geschminkt wie ein Clown umfasst mich eine Vettel, fährt mit vibrierender Zungenspitze über ihre roten Gummientenlippen und verspricht mir den Himmel auf Erden, wenn ich ihr doch nur einen ausgeben würde, und ein Stiefbruder des Herrn Jesus Christus versucht, mich in die psychologische Mangel zu nehmen, indem er an Edelmut und Christenpflicht appelliert.
Das Gedränge nimmt zu und es wogt ein Meer von Leuten, die kein Rettungsboot aufnehmen möchte oder könnte. Ein quadratischer Kerl schwingt sich auf die Theke und will „Oh Shenandoah“ anstimmen, kracht stattdessen auf die Dielen, weil Schankkellner und Schwerkraft das so wollen.
Irgendwann schimmert zartes Hellgrau durch die Fensterscheiben – ein mysteriöses Licht wie die Ankündigung des Weltuntergangs, bedrohlich und einschüchternd. Die Gäste fühlen sich unbehaglich. Auch dieser letzte, sicher geglaubte Winkel wird sie verraten, preisgeben der immer heller werdenden Wirklichkeit. Ein Blick in den Spiegel wird sie vernichten.
Sie haben dem Leben nichts mehr zu sagen, und dem Tod wahrscheinlich auch nicht.
Einer aber begehrt auf. „Was ist das nur für ein Leben!“, sagt der Mann neben mir. Ein magerer Mensch um die Fünfzig; Tonsur und fettige Klamotten. Seine Brillengläser sind stark wie Teleskope, riesige Augen blicken mich an.
Er streckt die Hand aus und sagt „Ich bin Josef aus Tirol.“ Nein, er sei kein Schmarotzer, habe immer hart gearbeitet, bevor das mit den Augen passierte. Sein Beruf war Heizer.
Unter der Flagge Panamas sei er gefahren, als das mit der Kesselexplosion passierte und ihn fast das Augenlicht kostete. Die Reederei habe vergessen, für ihre Mannschaft die Krankenversicherungsbeiträge zu überweisen, also musste er den Notarzt von seinem Geld bezahlen, die Medizin, andere Ärzte – bis es eben nicht mehr ging. Und jetzt steht er hier, nimmt seine dicke Brille von der Nase, poliert sie noch einmal, hält sie hoch und sagt: „Für fünf Mark gehört sie dir. Ich will noch nicht nach Hause gehen müssen. Bitte!“
Ich bin betrunken, schaue ihn verständnislos an.
Wenn er mir seine Schuhe angeboten hätte, seine Jacke, sein Hemd – aber das eigene Augenlicht?! Will er die Welt nicht mehr sehen wie ein kriegsmüder Soldat, der sein Gewehr ablegt, das Bajonett, die Schulterklappen – in Erwartung des Erschießungskommandos? Wirft er sich nach einem letzten Schnaps vor den Zug?
Mir steigen Tränen in die Augen und die Welt wird unscharf und verschwommen. Ich weiß nicht mehr, ob ich ihn wirklich umarmt habe in plötzlich aufflammender Brüderlichkeit, oder eher aus Mitleid, oder ob ich das nur wollte.