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Hör auf zu flennen
„Maik ist tot. Hast du's schon gehört?“
Nein, habe ich nicht. Es ist Jahre her, dass ich ihn das letzte Mal sah.
„Was ist passiert?“, frage ich.
Milenas Stimme am anderen Ende der Leitung klingt auf unangenehme Weise erregt. Ich dachte schon, du fragst nie, scheint sie mich anblaffen zu wollen.
„Er ist im Hudson River ertrunken. Erst haben sie gedacht, er wäre nachts besoffen reingefallen oder so was. Aber jetzt sieht's wohl nach Selbstmord aus.“
Maik erscheint neben mir in der Küche, dunkler Anzug, Triumphzigarre zwischen den Zähnen, eine Uhr am Handgelenk, die er sich eigentlich noch gar nicht leisten kann. So habe ich ihn in Erinnerung, so hat er bei seiner Abschiedsfeier ausgesehen. Er hat sein Abitur, sein Diplom, seinen Junior-Berater-Vertrag bei Morris & Cain. Sprosse für Sprosse die Leiter rauf, allen voran, ein Alphatier. Selbstmord ist doch ein Stigma der Verlierer.
„Wieso hat er das denn gemacht?“, frage ich, so als hätte Maik sich eine Glatze rasiert. In meinem Hals und in meinen Eingeweiden hat sich diese besondere Art der Trauer festgebissen, die den Tod gleichaltriger Freunde begleitet. Die Panik, die sie von dem Kummer nach Omas Ableben unterscheidet. Der Junge, mit dem du dir an endlosen Skateboard-Nachmittagen zusammen Blessuren geholt hast, ist tot. Wirklich jeder ist einmal dran – und danach nie wieder. Maik und ich gingen getrennte Wege, als er anfing, seine Vorbilder nach Erwachsenen-Kriterien auszuwählen. Er wechselte also von Jello Biafra zu Michael Douglas in Wall Street. Der Film war für das BWL-Studium, was Top Gun für die Luftwaffe war. Zu behaupten, wir hätten uns nach diesem Sinneswandel auseinandergelebt, wäre so, als würde man Hitler exzentrisch nennen.
„Irgendwas lief da krumm in der Bank, so hab ich es gehört“, sagt Milena. „Dieser Investment-Quatsch ist ja ziemlich kompliziert, aber unterm Strich, so wie ich es verstanden habe … Ich glaube, er hat geklaut. Darauf scheint es hinauszulaufen.“
Geklaut. Für meine Erinnerung ist das wie ein Codewort, das einen Al-Quaida-Schläfer in zwei Silben von null auf Massenmord bringt. Wir übten Ollies bei der Laderampe hinter dem E-Center-Supermarkt. Der Ollie ist ein einfacher Sprung mit dem Skateboard, das Fundament, ohne das nichts anderes gelingt. Da diese Grundübung den Praktizierenden als Anfänger outet, gingen wir ihr da nach, wo uns niemand sehen konnte, mit Ausnahme einiger Lagerarbeiter, die sich nicht für uns interessierten. Nach einer Stunde hatten wir Durst und beschlossen, einen Sechserträger Cola im Markt zu kaufen. Wir trugen verwaschene Bundeswehrshorts, unter die Arme hatten wir die Boards geklemmt, auf deren Unterseite wir mit Filzstiften die Namen kalifornischer Punkbands gekritzelt hatten. Punkbands und das Slayer-Logo. Heavy Metal galt unter Skatern eigentlich als inakzeptabel, aber Slayer durfte man nicht nur, man musste sie sogar hören. Wenn man mit Slayer nichts anzufangen wusste, konnte es ganz schnell heißen, man interessiere sich auch nicht für Brüste und Vaginae. Auf Maiks T-Shirts stand „Skateboarders suck“, wir stanken nach Schweiß und unsere Ellenbogen hatte der Asphalt blutig aufgeschürft. Wir waren wie Götter.
Die CDs im E-Center klauten wir aus Prestigegründen und Abenteuerlust. Manchmal warfen wir sie hinterher einfach in den Müll. Keiner von uns interessierte sich für Snap, Londonbeat, Kris Kross und Dr. Alban. Aber an einem heißen Sommertag auf der Haut das kühle Plastik der Hüllen zu spüren, die wir uns vor dem Bauch in den Hosenbund geklemmt hatten, das war unbeschreiblich. Der ahnungslosen Kassiererin drei Mark für die Cola in die Hand zu drücken und dann einfach rauszuspazieren, löste einen herrlich benebelnden Adrenalinrausch aus. Der letzte Meter vor der automatisch öffnenden Tür ließ sich aufregend traumgleich zurücklegen, manchmal war ich sicher, ich würde jeden Moment in meinem Zimmer aufwachen, womöglich mit einem Ständer.
Ich erkannte den muskulösen Typen mit dem Bürstenschnitt und der Trainingsjacke sofort, als er seine Riesenpfoten auf unsere Schultern legte und fragte, ob wir mal kurz mitkommen könnten. Er war schon seit drei Wochen immer wieder in der Elektronik-Abteilung aufgetaucht, wenn wir gerade da waren. Was für ein Zufall. Auch an diesem unglücklichsten aller Tage war er da gewesen, und später, als ich während meines Hausarrestes ohne Fernsehen auf dem Bett saß und grübelte, kasteite ich mich für unseren Mangel an Vorsicht, indem ich mit einer Skateboardrolle einen schmerzhaften Rhythmus auf meiner Stirn trommelte. Berauscht von unseren Erfolgen waren wir überheblich geworden, so wie alle großen Gangster, Banditen und Piraten. Bürste verdiente seinen Lebensunterhalt so offensichtlich als Ladendetektiv, dass er sich seine Expertise gleich auf die Trainingsjacke hätte nähen können. Eigentlich hatten wir es also nicht besser verdient, aber als wir da im Büro des Marktleiters saßen und uns das Blut ins Gesicht schoss, um dann wieder bis zum letzten Tropfen zurück in die Beine zu fließen, immer im Wechsel, das war der GAU, so was hat eigentlich niemand verdient.
Unsere Beute lag auf dem Schreibtisch zwischen uns und Herrn Bornemann, wie der Chef einem Namensschild auf seinem grünen Kittel nach hieß. Die Cover gemahnten uns daran, wofür wir das Grauen in Kauf genommen hatten. Dance Revolution. Pump it up. Jump. Ich wollte nur nach Hause. Bürste saß neben uns und spielte mit seiner Armbanduhr. Es hatte schon etwas Surreales zuzusehen, wie sein Alltag weiterging, während Maik und ich uns der Apokalypse stellten. Wir waren wie die Leute in Afrika, die verhungerten, damit aber keinen so richtig interessierten, außer an Weihnachten.
Ich fand es zunächst beruhigend, dass Bornemann nicht viel älter war als die Referendare, die sie manchmal in der Schule auf uns losließen. Wir waren fast vierzehn und insgeheim überzeugt davon, Menschen unter dreißig bildeten altersbedingt in ihrem Kampf gegen das Establishment eine Familie.
„Tja, Jungs, jetzt seid ihr gefickt.“ Das hat er wirklich gesagt, der Herr Bornemann. Mehr hatten wir nicht davon, dass die Standpauke generationenintern geschlagen wurde. Da stauchte uns jemand zusammen, der dieselben Filme gesehen hatte wie wir, und er haute uns die Sprüche daraus um die Ohren, die wir auch cool fanden. Bürste lächelte gequält, wenn Bornemann ihn nach einem besonders gelungenen Bonmot auf Anerkennung bestehend ansah. So sehr meine Gedanken in diesem Moment auch um das eigene furchtbare Schicksal kreisten, ich musste mich doch fragen, wie es wohl war, Bornemann zum Chef zu haben. Um mich in Bürstes Lage zu versetzen, stellte ich mir vor, von jemandem herumkommandiert zu werden, der halb so alt war wie ich. Ein Hosenscheißer aus meiner Sicht, obendrein einer, der lässige Zeilen von Bruce Wills dreist als die eigenen verkaufte. Eben noch hatte ich Bürste Cholera gewünscht, während mein angsterfüllt rasendes Herz aus meiner Brust zu explodieren drohte wie ein Alien. In jenem Moment aber tat er mir fast leid.
Bornemann leitete sein Abschlussplädoyer mit einem gehässigen „Tjaha“ ein, das die eigene miese Situation wieder in den Vordergrund meiner Überlegungen rückte. In Anbetracht unseres Alters wollte er nicht die Polizei, sondern unsere Eltern anrufen. Eine 1A-Begnadigung, kreuzigen kopfüber statt auf herkömmlichem Wege.
Dann geschah das Undenkbare. Ich schaute nach rechts zu Maik, mit einem Grinsen, das ich meiner Gesichtsmuskulatur unter Schmerzen abringen musste. Ich dachte, er würde Schleim hochwürgen um auszuspucken, Bornemann auf den Schreibtisch. Bei diesem Akt der Rebellion wollte ich ihn unterstützen, so gut ich konnte. Nie zuvor hatte ich eine so tiefgehende Bewunderung für Maik verspürt. Mir selbst schien der Gedanke immer weniger abwegig, auf Knien vor Bornemann herumzurutschen und ihn anzuflehen, mich gehen zu lassen, ich würde es auch nie wieder tun. Tatsächlich aber durften sich meine Mundwinkel wieder entspannen. Maik schluchzte. Er versteckte seine Schmach so gut es ging hinter vorgehaltenen Händen. Trotzdem liefen Tränen sein Kinn herab und tropften auf den „Skateboarders-suck“-Schriftzug. Ich hatte in einem Bumsmagazin mal etwas über eine ménage à trois mit zwei befreundeten Typen und einer Frau gelesen. Diese Perversion hatte mich wochenlang verfolgt, denn wer, um Gottes Willen, will in der Nähe sein, wenn ein Kumpel abspritzt? In diese mentale Schublade all dessen, worauf ich definitiv verzichten konnte, steckte ich an jenem Tag einen weinenden Freund.
„Willst du zur Beerdigung?“ Milena, jetzt.
„Was? Natürlich. Wir waren mal so was wie beste Freunde.“
Das war zu ungeduldig, zu grantig, ich sehe ihr eingeschnapptes Gesicht vor mir, als sie sagt: „Meine Güte, entschuldigung. Ich meine ja nur. Bester Freund, das hast du nie erzählt.“
„War lange vorbei, bevor wir uns kennengelernt haben.“
Wir verabschieden uns bis zum Abend. Ich laufe die drei Stockwerke durchs Treppenhaus in den Keller. In dem einen mir laut Mietvertrag zustehenden Raum stapelt sich der Krimskrams fast bis zur Brust, weil ich in einem Anfall geistiger Umnachtung alles zu mir geholt habe, was ich seit dem Auszug bei meinen Eltern noch bei ihnen zwischengelagert hatte. Es sollte so eine Art Schlussstrich sein, glaube ich, Ende einer Ära. Ich muss den hüfthohen Karton mit Masters-of-the-Universe-Figuren ein Stück zur Seite schieben, um an mein Skateboard zu gelangen. Ich werde mal schauen, ob ich den Ollie noch kann.