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Höhenangst

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22.01.2013
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Höhenangst

„ … es ist das Kaninchen!“

(Die Ritter der Kokosnuss, Monty Python)


Nein, wahrlich kein schöner Anblick! Schon möglich, dass es irgendwann einmal angesagt sein würde, deutlich älter auszusehen als die Jahre es hergaben. Dass tiefe Falten und eine ungesunde Gesichtsfarbe vor allem männlich-markant wirken würden. Bis es soweit war, wollte Jan lieber nicht mehr in den Spiegel schauen. Die Tränensäcke unter seinen matten Augen rissen es auch nicht raus. Er seufzte. Seit ihn vor drei Jahren Freunde, Nachbarn, Kollegen und sogar seine Frau im Stich gelassen hatten, ging es abwärts – und das sah man ihm an.
In den ersten Monaten nach der Trennung hatte er sich noch an Gedichten versucht. Doch jeder Reim spuckte Blut, nichts als weinerliches Wimmern war dabei herausgekommen. Gesehen hatte Sabine keine dieser Verzweiflungstaten, zum Glück. Eine Peinlichkeit weniger.

Lilly und Louisa, seine Zwillinge, siebzehn und süß, waren seit Wochen nicht mehr da gewesen. Meist hatten sie Besseres vor, und wenn sie doch einmal vorbeischauten, waren Stöpsel in ihren Ohren oder sie tippten Worttorsos in ihre Smartphones. Ihm war so gut wie nichts von seinem alten Leben geblieben, und nichts von seinem neuen war besser. Nichts außer Sandy. Bei ihr zu sein tat gut und war etwas anderes, als Fernseher, Radio und Computer gleichzeitig laufen zu lassen, um die bösartigen Stimmen in seinem Kopf zu übertönen. Jan gab sich einen Ruck, nahm den Haustürschlüssel, zog die Tür hinter sich zu und machte sich auf den Weg zu ihr. Die Vorfreude jetzt war das erste gute Gefühl heute!

Bei seinem Anblick wenig später hüpfte Sandy an ihm hoch wie ein Gummiball, alles an ihr verströmte Freude und Zuneigung, die ihn wie eine weiche, tröstliche Wolke umgab. „Ach, Kleine!“ Zart strich er ihr über das hellbraune Fell und einen Moment später waren sie unterwegs. Jammerschade, dass er sie nicht immer bei sich haben konnte, doch seit der Trennung lebte er in einer Mietwohnung, und dort waren Lebensretter wie sie nicht erlaubt. Waldspaziergänge zu den Öffnungszeiten des Tierheims waren das, was das Leben ihnen zugestand.

Beide genossen die laue Frühlingsluft, den Duft feuchter Erde, den Hauch von Frische durch das junge Grün ringsum. Was den Hund anging, sicher noch ein paar Wohlgerüche mehr. Jan entspannte sich. Seine Schritte wurden leichter, während sie unbemerkt von ihrer üblichen Runde abkamen. Sandy hatte diese aufregende Witterung eines Kaninchens aufgenommen und gab die Richtung vor, Jan folgte ihr. Nach und nach verirrte er sich dabei wieder in seinen Gedanken: Warum nur hatte er in kurzer Zeit so viel verloren? Wie hatte Sabine ihn nach den ganzen gemeinsamen Jahren so problemlos abstreifen können? Wieso trauerte er ihr immer noch an jedem einzelnen Tag hinterher? Er verstand sie nicht, sich nicht, er verstand im Grunde dieses ganze beschissene Leben nicht mehr.
Gerade als seine Stimmung wieder zu kippen begann, berührte ihn Sandys Schnauze leicht. Erst jetzt bemerkte er, dass er die Gegend hier gar nicht kannte. Es dämmerte inzwischen, aber ein Stück weiter wurde der Wald lichter. Wenig später sah er zögernd in einen Steinbruch hinunter, dessen gelbe Felswände steil vor ihm abfielen. Jetzt war ihm klar, wo sie waren. Vom Steinbruch hatte er gehört, ein paar Jugendliche nutzten ihn abends regelmäßig für Schießübungen und Saufgelage. Nun, da er wusste, in welche Richtung sie sich zu halten hatten, wollte er keine Zeit verlieren. Der Hund sollte in einer Stunde zurück sein, außerdem verursachte der Abgrund vor seinen Füßen ihm Übelkeit und Schwindelgefühle.
Vorsichtig ging er rückwärts, während er Sandy zu sich rief. Nicht, dass die Kleine noch zu einer Zielscheibe für orientierungslose Teens wurde! Aber obwohl sie einen Moment zuvor noch bei ihm gewesen war, hatte das umliegende Gebüsch sie verschluckt.

„Glaub‘ ich ja nicht, der Seidler!“, rief da eine Stimme hinter ihm. So spurlos, wie Sandy verschwunden war, so plötzlich war eine Gruppe von zehn oder zwölf älteren Jugendlichen aufgetaucht. Sie kamen näher, zwangen ihn, in der Nähe des Abgrunds zu bleiben. Eine Dunstwolke aus Alkohol, Rauch und Schweiß schlug ihm entgegen.
„Hey Alter, was machst denn du hier? Wartest auf uns, was?“, sagte ein großgewachsener, kräftiger Typ mit Tattoos auf seinem kahlrasierten Schädel, die bis in sein Gesicht hinein wucherten.
Jan kannte niemanden wie ihn, und doch kam er ihm bekannt vor. War es möglich … ja, das musste Dennis sein. Dennis, dem er vor Jahren in Geschichte eine Fünf gegeben hatte – und die war geschmeichelt gewesen. Nie hatte der seine Hausaufgaben gemacht, dafür die Stunden geschwänzt wie kein Zweiter. Sein einziger Beitrag zum Thema Nationalsozialismus waren ein paar brandneue Judenwitze gewesen.
„So sieht man sich wieder, Alter!“ Dennis drehte sich zu den anderen um.
„Leute, wegen dem Sack bin ich mal sitzengeblieben. Hey, seht mal, der zittert ja!“, stellte er erfreut fest.
Jan zitterte tatsächlich. Die Nähe zur Kante hinter ihm, der Mob vor ihm, von Sandy keine Spur - ihm wurde endgültig schlecht. Da bemerkte er in der Gruppe ein bekanntes, kaum verändertes Gesicht. Die großen braunen Augen, umrahmt von langen Wimpern, gaben ihm ein Aussehen, das Mädchen wohl als ‚niedlich‘ bezeichnen würden. Er schien nicht so ganz zu den Anderen zu passen. Weiche, fast mädchenhafte Züge, lockige braune Haare, ein etwas ängstlicher Blick. Jan ging einen Schritt nach vorne: „Hallo Sandro!“, sagte er mit der ruhigsten Stimme, die er zustande bringen konnte.
„Wie geht’s dir denn?“
Der Junge zuckte leicht zusammen: “Geht Sie nichts an, Mann!“

So vor ungefähr fünf Jahren, da hatten Sandros Augen noch geleuchtet, wenn sie sich trafen. Jan hatte ihm bei den Schularbeiten geholfen, ihm nebenher noch ein paar Selbstverteidigungsgriffe gezeigt, damit er von den Schlägertypen der Schule in Ruhe gelassen wurde. Erst als wegen ihrer häufigen Treffen Gerede aufkam, hatten sie damit aufgehört. Die Verabredungen waren auch überflüssig geworden, Sandros Schulleistungen hatten sich ausreichend verbessert. Und jetzt stand er hier bei den Typen, vor denen er sich damals gefürchtet hatte. Jan erkannte inzwischen auch ein paar der anderen Jungs, mittlerweile eher Männer.

Betont lässig kam Dennis auf ihn zu. „Mach mal Platz, alter Mann“, sagte er und berührte ihn dabei leicht mit seinem Zeigefinger an der Brust. Die einzige Richtung, in die Jan sich hätte wegbewegen können, waren so etwa acht Meter abwärts. Dennis grinste: „Spaß, Alter, Spaß, schließlich kannst du nicht fliegen, oder? Du verstehst doch Spaß?“ Die Anderen lachten, kamen näher, bildeten wie zufällig einen Kreis um ihn und fingen an, Jan ein wenig hin und her zu schubsen. Nicht angenehm, aber zumindest ein Stück weiter weg vom Abgrund.
"Ey, das macht dem echt Spaß, merkt ihr das? Hat's halt gern mit so netten Jungs wie uns zu tun."
"Total gern, oder Sandro? War überhaupt krass drauf, wisst ihr das noch? War ein Kinderschläger, der Typ!"
"Und jetzt schlagen wir zurück, Bruder!" Einer begann zu treten.
"Das ist für den, den der verprügelt hat. “
„Eine Lüge!“, versuchte Jan zu sagen, es kam nur eine Art Flüstern heraus. Der Kleine damals hatte Nachsitzen bei ihm gehabt, wollte abhauen, war an eine Tischkante gestürzt und hatte sich mit heftig blutender Platzwunde geistesgegenwärtig im Sekretariat gemeldet: „Herr Seidler hat mich geschlagen!“ Zuhause hatte Sabine ihn zweifelnd angeschaut, so, als ob sie ihm das tatsächlich zutrauen würde.

Die Tritte wurden heftiger, die Kante kam näher.
„Warum haben die dich denn rausgeschmissen, wenn du so’n Unschuldslamm bist?“
Wie sollte er erklären, dass seine Verträge immer wieder auf ein Jahr befristet gewesen waren? Und nach diesem Vorfall, ‚ungeklärt‘ nannten die das, gab es einfach keinen neuen mehr. Gar kein Problem, zumindest nicht für das Schulamt. Die Sache wurde bekannt, auch seine Arbeitslosigkeit, andere Gerüchte um ihn kamen auf, schließlich lebten sie in einer Kleinstadt. Selbst Sabines blaue Flecken und die bald darauf folgende Trennung wurden zum Gesprächsstoff. Seither hatte sich für ihn alles geändert.
Aus dem Kreis war inzwischen ein Halbkreis geworden, direkt hinter seinem Rücken befand sich der Felsabsturz. Jans Knie wurden wieder weich, das Schwindelgefühl stärker.
„Sandro, sag mal was! Warst du nicht sein Liebling?“
„Halts Maul, du Spinner! Der war echt zum Kotzen, mir wird jetzt noch schlecht bei seiner Visage!“
Noch während er sprach, ging Sandro plötzlich nach vorne und stieß Jan so heftig, dass er den Halt verlor.

Wieso eigentlich hatte er so eine unglaublich große Angst vor dieser Höhe, vor jeder Höhe gehabt? Das Fallen, das Anschlagen seiner Schulter, seiner Beine an der Felswand, Vorsprünge, die seinen Fall leicht bremsten, das jähe Ende des Sturzes auf dem fast weichen Boden - das alles passierte so unglaublich schnell, war nur von einem kurzen, heftigen Erschrecken begleitet und fast im selben Moment wieder vorbei. Jan sah sich dort unten liegen, das rechte Bein verdreht, in die zunächst noch offenen Augen fiel ein wenig von der nachrutschenden, aufgewirbelten Erde. Er hatte keine Schmerzen, da war auch keine Panik und keine Traurigkeit. Nichts, außer einer wunderbaren Leichtigkeit. Es ging ihm gut, so gut wie niemals zuvor - und es würde noch besser werden. Sein Körper blieb nicht allein, nur das hielt ihn noch. Sandy schnupperte an seinem Hals und legte sich dicht zu ihm. Das war lieb von der Kleinen, ganz bestimmt. Aber er wollte nicht bleiben. Könnte sein Körper schnell genug auskühlen, dann wäre er bald völlig frei.

Am Felsabbruch standen die Jugendlichen. „Du Vollidiot, was hast du gemacht?“, brüllte Dennis. „Mann, der ist vielleicht tot!“
„Na und?“ Sandros Stimme klang kühl. „Lass uns hier verschwinden!“
„Nein, ich ruf Hilfe, vielleicht ist noch was zu machen!“
„Spinnst du?“

Es wurde dunkel, Sandy blieb und er mit ihr. Später kam ein Krankenwagen, schon von weitem sah er das Blaulicht, fast gleichzeitig tauchten Polizisten auf, die eine widerstrebende Sandy mit sich nahmen. Er wurde verarztet, zurückgezwungen, und jetzt erst spürte er Schmerzen. Heftige Schmerzen, die kaum auszuhalten waren, bis ihn eine sanfte Dunkelheit auffing. Sein letzter Gedanke war, dass er es nicht geschafft hatte zu gehen.

„Ich muss gehen, kann ja nicht ewig hier sitzen, kommt ihr mit?“
„Wir bleiben lieber noch, vielleicht wacht er auf.“
„Macht euch keine zu großen Hoffnungen, seit Tagen …“
„Schon gut, Mama. Wir bleiben, nur noch ein bisschen.“
„Gut, aber zum Abendessen seid ihr zuhause!“
„Schon klar.“
Vorsichtig blinzelte Jan in grelles Licht, um ihn herum piepste es, der Geruch von Desinfektionsmitteln mischte sich mit einem Rest von Sabines Parfüm.
Mühsam drehte er seinen Kopf und schaute in verweinte Augen.
„Schau mal, Papa wacht auf, ich wusste es!“, flüsterte Louisa.
„Ja.“ Lilly drückte ihm fast im selben Moment einen leichten Kuss auf eine der wenigen freien Stellen in seinem Gesicht.
„Ruf Mama zurück!“
„Ach, lass. Dafür ist später noch Zeit.“

In den nächsten Stunden gelangten mehr Sätze in sein Bewusstsein, nicht alle verstand er ganz.
„Wenn die Operationen gut verlaufen, bleibt Ihnen höchsten ein weniger bewegliches Knie.“
„Mama will mit diesem Holger nach München ziehen, aber wir wollen hier bleiben!“
„Auf eine längere Reha müssen Sie sich allerdings einstellen.“
„Bitte, Papa, dürfen wir bei dir bleiben? Das wär dir doch auch lieber, oder?“

Seine Welt drehte sich wieder einmal. Komplett. Wenn sie ein Zimmer untervermieteten, vielleicht könnte er dann zurück ins Haus? Vielleicht sogar Sandy zu sich holen?
Wie auch immer, er hatte keinen Grund mehr, sich vor irgendetwas zu fürchten.

 

Lieber @Woltochinon ,

10 years after, interessant, sich so eine alte Geschichte erneut anzuschauen. Vielen Dank für deine Beschäftigung mit ihr und für deine Anregungen!

Ja, wenigstens eine Prise Happy End brauche ich meist, auch auf die Gefahr hin, dass es schmalzig wird. Selbst erfundenen Menschen wünsche ich halt eine Perspektive :-).

Nochmals vielen Dank und auch für dich weiterhin Freude am Geschichten schreiben!

Sonnige Grüße
Eva

 

Liebe Eva,

eine tollte Geschichte, die zeigt wie schnell es mit einem bergab gehen kann.
Ich hätte nur zwei Anmerkungen.

1. Warum bellt der Hund nicht, als Jan angegriffen wird? Ein paar Reaktionen mehr hätte ich mir schon gewünscht.
2. Das Ende ist mir persönlich ein bisschen zu abrupt. Er denkt direkt an die Zukunft und nicht an das schlimme Vergangene? Mir kommt das zu schnell, gerade weil er eben erst aufgewacht ist. Sollten einige Gedanken nicht um Sandro und Dennis kreisen?

VG
Jizzle

 

Liebe/r Jizzle,

danke für deinen Kommentar! Zu 1.: Der Hund bellt nicht, weil er in dem Moment gar nicht in der Nähe, sondern hinter einem Kaninchen her ist. Er kommt erst wieder unten im Steinbruch dazu. Zu 2., da hast du vermutlich recht. Da liegt noch einiges an Aufarbeitung vor ihm, aber für eine Kurzgeschichte fand ich die Ausarbeitung dieser Prozesse zu tiefgründig. vielleicht gehe ich da nochmals ran. Wenn ich es bei Andeutungen beließe, vielleicht ... Werde nochmals drüber schlafen :-).

Vielen Dank und viele Grüße
Eva

 

Hej @Eva Luise Groh

Der Text ist schon paar Tage alt, klingt aber doch noch recht frisch. Der Plot entwickelt sich stringent von innen nach außen und Sprache Matches mit dem Inhalt.
Trotzdem verrliert sich der Protagonist etwas in Selbstmitleid. Klar, das Schicksal hat ihn recht schwer getroffen, aber immerhin bleibt ihm noch den Hund und ein unsicherer Kontakt zu seinen Kindern. Ob es das ganz Erinnerungsgefüge braucht, weiß ich nicht. Der wird schon greifbar.

Paar Stellen:

und wenn sie doch einmal vorbeischauten, waren Stöpsel in ihren Ohren oder sie tippten Worttorsos in ihre Smartphones.
gefällt mir, das mit den Worttorsos

Da bemerkte er in der Gruppe ein bekanntes, kaum verändertes Gesicht. Die großen braunen Augen, umrahmt von langen Wimpern, gaben ihm ein Aussehen, das Mädchen wohl als ‚niedlich‘ bezeichnen würden. Er schien nicht so ganz zu den Anderen zu passen. Weiche, fast mädchenhafte Züge, lockige braune Haare, ein etwas ängstlicher Blick.
Beschreibungen machen ja nur noch wenige AutorInnen, hier passt es, aber wenn schon, würde ich gerne wissen, wie sich mädchenhafte Züge konstituieren.

"Ey, das macht dem echt Spaß, merkt ihr das? Hat's halt gern mit so netten Jungs wie uns zu tun."
"Total gern, oder Sandro? War überhaupt krass drauf, wisst ihr das noch? War ein Kinderschläger, der Typ!"
Ok, du erklärst das mit dem Kinderschläger etwas später, verwirrt mich aber zunächst

Es ging ihm gut, so gut wie niemals zuvor - und es würde noch besser werden. Sein Körper blieb nicht allein, nur das hielt ihn noch. Sandy schnupperte an seinem Hals und legte sich dicht zu ihm. Das war lieb von der Kleinen, ganz bestimmt. Aber er wollte nicht bleiben. Könnte sein Körper schnell genug auskühlen, dann wäre er bald völlig frei.
Wie der Hund zu ihm kommt, kann ich nur vermuten und von der Außentemperatur war bisher nicht die Rede, wenn ich nicht was übersehen habe. Ich dachte an Sommer, na ja, vielleicht weil gerade Sommer ist. :D

Danke für die Geschichte und der Stimme, der ich folgen durfte


Viele Grüße sendet und einen feinen Sommerabend wünscht dir
Isegrims

 

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