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Guten Appetit
Menschenpulks sind mir ein Gräuel – aber ein Reporter kann es sich nicht aussuchen.
Ein Kollege recherchiert in Minenfeldern, ein anderer in irgendwelchen Favelas. So betrachtet ist mein heutiger Auftrag ein Klacks. Ich mische mich unter die schiebenden und drängenden Massen.
Meine Nase hat schneller als meine Augen den Gegenstand meiner Reportage wahrgenommen:
Fleisch in jeder vorstellbaren Art, in unvorstellbaren Mengen.
In Butterschmalz schön langsam bratende Frikadellen, innen herrlich saftig und außen kross, glänzender Leberkäs mit hypnotischer Wirkung, Krustenbraten wie aus dem Bilderbuch.
Und Grills, groß wie Tanzflächen, vollgepackt mit den verführerischsten Würsten. Die echten Thüringer über Holzkohleglut, fränkische Bratwürste, armenisches Schaschlik, daneben die Barbecue-Deftigkeiten mit Hähnchenkeulen, glasierten Spare Ribs und doppelten Hamburgern.
Ich muss mich konzentrieren. Hier schlägt kein Pfau ein Wunderrad, das ich in allen Einzelheiten mit Muße beschreiben soll – hier wogen gierige Kohorten, die sich gebärden, als sei es die letzte Mahlzeit vor dem Jüngsten Gericht.
Dampfende Riesenkessel mit Siedefleisch, Blauen Zipfeln, Weißwürsten und Krakauern. Die Menge quirlt, nimmt und nimmt. Königsberger Klopse in einer unnachahmlichen Sauce, Kesselgulasch nach Art der Pußtahirten und Curryfrikassee verströmen betörenden Duft. Gleich daneben mit Eiern gefüllter Hackbraten, Berge von Schweinemett und leuchtendrotes Tatar mit allem Zubehör. Gartenzwerge in roten Stiefelchen häufen gehackte Zwiebeln und Gürkchen auf die Fleischberge, der größte von ihnen bedient die Pfeffermühle. Ich bin leicht narkotisiert.
„Welch ein Platz für alle, die diese köstlichen Sachen zu schätzen wissen!“, will ich schreiben, aber sogleich zweifle ich, ob ‚schätzen’ das richtige Wort ist.
‚Raffen’ wäre treffender. Ich empfinde keine Genussatmosphäre, sondern eine ungute Anspannung, eine Nervosität – zum Greifen deutlich ist die Angst, nicht die allerschönsten Bissen abzubekommen. Ein Wahnsinn, ein Widersinn in dieser unermesslichen Fülle, bei diesen überbordenden Angeboten.
Rosige Eisbeine und zarte Rippchen, verlockend angerichtet mit glänzenden Blut- und Leberwürsten auf dem besten Sauerkraut aller Zeiten (mit Gänsegrieben und herben Äpfeln).
Meine Selbstbeherrschung bricht zusammen, obwohl ich zuvor an der Tankstelle eine Currywurst gegessen habe, um den befürchteten Anfechtungen nicht zu erliegen. Meine Sinne werden attackiert, ein leichter Schwindel macht mich benommen. Ich stecke die Kamera ins Etui und nehme statt der Rippchen etwas von den Salaten. Alle zwölf Sorten werde ich nicht schaffen, aber was ich probiere, ist erste Qualität. Der Fleischsalat nach Hausrezept ist unschlagbar delikat, der Geflügelsalat mit Früchten sensationell; auch der Schweizer Wurstsalat mit echtem Emmentaler und der Eiersalat mit Kassler und hausgemachter Mayonnaise sind Meisterklasse. Ich verstehe jeden, der das rechte Maß nicht findet.
Jetzt stehe ich bei den Drehspießen mit Spanferkeln, prallen Hähnchen und Schweinshaxen im appetitlichsten Goldbraun – in der Höhle sehe ich Feuer lodern, alle tragen Lendenschurz und Keule, passend zum grimmig-gierigen Gesichtsausdruck; in den Pupillen der Widerschein der Flammen. Ja, Leute, ich verstehe euch.
Nebenan wird geräuchert. Eine kolossale Aufschnittmaschine sorgt laufend für Nachschub, um die großen Schinkenplatten wieder und wieder aufzufüllen. Prager Schinken und Coburger, Holsteiner, westfälischer und spanischer - Schinken über Schinken. Und erst die Wurstparade! Mehr als hundertdreißig Sorten – einladend präsentiert mit langen Fleischgabeln. Doch zur Hausmacher Leberwurst sollte man einen Löffel nehmen – einfach unwiderstehlich!
Riesiger Andrang überall. Alles glänzt, nicht nur die verschwenderisch aufgetürmten Fleischwaren - auch der Schweiß auf der Stirn, die fettigen Lippen und Finger. Zufriedene und glückliche Gesichter würde ich erwarten, sehe aber Mienen, in denen Anspannung liegt. Mit Raubvogelblick tastet jeder das Gelände ab. Wo lohnt es sich, zuzugreifen, vielleicht auch ein zweites Mal; wo sollte man die Offerte ignorieren, der beschränkten Aufnahmefähigkeit wegen?
Die ist ein großes Ärgernis, denn die Augen verschlingen das Mehrfache.
Unmengen könnte man essen und müsste dennoch nicht mehr bezahlen. Kein Wunder, dass sich viele beim herzhaften Zugreifen übernehmen.
Einmal im Leben muss man hier gewesen sein. Dagegen hätte das Schlaraffenland mit den armseligen gebratenen Tauben keine Chance!
All you can eat. Gigantisch.
Die Jungen kommen bei der dritten Portion schon ans Prusten, Kegelvereine kapitulieren, Männer wie Eichen winken ab. Nichts geht mehr. Diese unabwendbare Einsicht verhagelt die Stimmung.
Schnaufende alte Herren, verschwitzt, mit hochrotem Kopf, legen das Besteck nieder und versuchen mit letzter Energie, die Serviette mit dem aufgedruckten Schweinskopf zum Munde zu führen, um überschüssiges Fett abzutupfen.
Schwer atmend verharren sie, sammeln sich irgendwann wieder, versuchen auf die Beine zu kommen, die nach stundenlanger Anfahrt und dieser Tortur eingeschlafen oder schon thrombotisch sind.
Sie peilen den Ausgang an, ächzen vorbei an den nicht enden wollenden Versuchungen. Sie überwinden sich, noch ein letztes Häppchen im Vorbeigehen zu sich zu nehmen - eine winzige Portion vom saftigen Roastbeef, eine ganz kleine, man möchte ja nur probieren. Das köstliche Sauerfleisch vielleicht noch, eine Gänseleberpraline, einen Hauch Bündnerfleisch. Eine letzte Riesenscheibe Mortadella mit den herrlichen Pistazien muss noch hinein und dann sind sie schon in der Nähe der Waschräume.
Viele drehen sich noch einmal um, sind versucht, noch irgendwo zuzugreifen, vielleicht haben sie etwas übersehen – nein, sie packen es nicht mehr, beim besten Willen nicht. Aber der Geist des Raffens verfolgt sie immer noch. Irgendetwas müssen sie noch mitgehen lassen – eine vergessene Gabel, einen Salzstreuer, ein Pressglas fürs nächste Gartenfest.
Ihre Gereiztheit verspüre ich, ihre Unzufriedenheit. Die Gier ließ sich nicht völlig stillen.
Hunger kann den Menschen quälen und zu Tode drangsalieren. Aber es geht auch umgekehrt, hier im Lande des Überflusses.
Die Opfer beklagen ein massives Betongefühl in ihrem Innern. Beton, der in ihnen quillt. Er presst die Lungenflügel zusammen, drückt gegen das Herz. Atemlosigkeit, Erstickungsanfälle, Panik und Todesangst sind die Folgen. Ich kann ihnen nicht helfen, fände noch nicht einmal ein paar tröstende Worte.
Die geschundenen Organe schmerzen grässlich, wie bei schlimmsten Koliken. Die Betroffenen überkommt das dringende Bedürfnis, ihr Inneres nach außen zu stülpen, um so dieser Pein zu entkommen. Doch alles bleibt drinnen: ein oder zwei Leberknödel in einer umwerfenden Metzelsuppe, Lammspießchen, göttliche Zungenwurst, ein gemischter Barbecueteller, der exzellente Wildschweinschinken, etwas Geflügelleberpastete, ein kleines Schnitzel mit Rahmpilzen.
Ich vernehme ein schreckliches Rasseln. Die Unglücklichen bekommen keine Luft mehr, Klagelaute aller Art belasten die Atmosphäre. Schwüre, nie wieder so viel zu essen, Beschuldigungen der Maßlosigkeit und Vorwürfe der krankhaften Verfressenheit vermischen sich mit furchtbaren Geräuschen, die aus den Toilettenräumen dringen. Grauenhaft.
Längst habe ich die Kamera unter meinem Parka verborgen. Nie würde ich Menschen in höchster Not fotografieren.
Viele der Unglücklichen lehnen sich in Endzeitstimmung gegen die Wände, rutschen langsam herunter, von Krämpfen durchwalkt. Die schärfsten Schnäpse der Welt können hier keine Wunder mehr vollbringen. Der Kollaps ist unvermeidlich. Sie schaffen den Weg zum eigenen Auto oder zum Bus nicht mehr. Sie straucheln mit hervorgetretenen Augäpfeln und aufgerissenen Mündern – diesmal, um nach Luft zu schnappen. Ein letztes Aufbäumen, dann kippen sie in die Büsche hinter dem Schlemmerparadies. Die Erde ist weich und locker, vor ihnen verendete Wurstfreunde haben sie im Todeskampf aufgewühlt. Ich trete pietätvoll zur Seite.
Die Seelen entfleuchen in den Bratwursthimmel.
In der Dämmerung nähert sich ein gebückter Herr, unauffällig gekleidet. Er sammelt die Brillen der höheren Preisklasse ein. Keine Ahnung, auf welchem Flohmarkt er die verscherbelt oder ob er Lieferant ist für den Fachverband transsylvanischer Optiker.