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Gretchens Kuss
Dämonen tobten und hämmerten in ihr, tanzten in ihren Gedanken und klopften gegen die Gehirnwände. Alle Tränen waren aufgebraucht, als sie durch den Park irrte, den Teppichrasen, die Vögel, die Kinderwagenfamilien kaum wahrnahm, die an ihr vorbeijagten. Sie setzte sich auf eine Bank und sah den Blättern zu, die im Wind tanzten, zog Mantel und Schal enger an sich, um die Wärme in ihr zu hüten, spürte, wie Kälte die Härchen auf ihrer Haut aufrichtete. Eine Weile atmete sie die Winterluft im Takt ihres Herzens ein. Dann roch sie Fäulnis, Weihnachtsbaumnadeln, Zimtsterne, fröstelte und beobachtete die Bäume, die ihre Nebelfinger zum Himmel schickten. Sie schloss die Augen, wiegte sich im Takt eines Stille-Nacht-Traums und wollte warten, bis sie von der Dunkelheit ergriffen wurde.
Da spürte sie einen Windhauch, öffnete die Augen und sah ein Mädchen, das neben ihr saß, ohne dass sie gewusst hätte, woher es kam, so nah, dass die Schenkel sich berührten. Die Sommersprossen auf ihrem Gesicht bewegten sich im Takt ihres Lächelns wie ein Sog, in den man nur einzutauchen brauchte.
„Bist du traurig?“, fragte das Mädchen.
„Ach, mir ist das Glück abhandengekommen“, antwortete die Frau. „Nichts gelingt mir und ich weiß nicht, wie es weitergehen soll.“
„Hm“, sagte das Mädchen, streckte das Milchhändchen aus, zeigte auf ein rosa Säckchen, öffnete es und sagte: „Ich heiße Gretchen und möchte dir etwas zeigen. Schau mal, Ulla!“
„Was hast du in dem Säckchen?“-
„Hauptsächlich Erinnerungen.“
Sie hielt ihr einen schwarzen Stein hin, der wie eine Zwiebel aussah, aus der im Frühjahr Blumen wachsen.
„Das ist ein Mondstein, der vom Himmel gefallen und auf einem Berg gelandet ist.“
Mehr von den Wunderschätzen kamen zum Vorschein, während die Hände flatterten, die Worte sprudelten, sich in Ullas Bauch herumtrieben, sie wärmten und sich wie ein Sturmwind anfühlten, der die Verwirrung mitnahm. Sie lernte die Nadel kennen, mit der Gretchen die Knöpfe an den Kleidern ihrer Lieblingspuppen annähte, die Strähne blonden Flachshaars, die eine Fee verloren hatte, das Fläschchen mit Wasser aus einem Zauberteich, das jeden Kopfschmerz besiegte, die Samtfeder eines Vogels, der in Regenbogenfarben schimmerte und manches, über das man nicht reden darf.
Als Gretchen den Saum ihres Sternenmantels zurückschlug, sich vorbeugte, kam ein schwarzes Säckchen zum Vorschein.
„Was machst du damit?“, fragte Ulla.
„Da stecke ich alles rein, was ich vergessen will. Tränen, Wut und Angst und wenn ich an einem Meer, einem See oder einem Fluss vorbeikomme, werfe ich es rein.“