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Greta, der Phoenix
Im Briefkasten lag ein weißer Umschlag mit schwarzem Streifen und die Zeitung. Alles, was Arnaud tat, war, die Zähne ohne Knirschen zusammenzubeißen.
Nach zwei Sekunden nahm er die Morgenzeitung und den Brief, und ging zurück in die Wohnung. Es ging ihm gut, es konnte der Mann einer Tante sein, es konnte sogar der schlechte Scherz eines Freundes sein. Vielleicht schrieb ihm sein Philosophie studierender Freund aus Norddeutschland eine Karte, auf der stand „Gott ist tot.“ Passen würde es.
Als er vor seiner Wohnungstür stand, sah er auf den Umschlag, der auf der Zeitung wie auf einem Tablett lag. Er beschloss, ihn jetzt zu öffnen.
Mit ruhigen Fingern riss er den oberen Rand auf, und merkte schon jetzt, dass ein Brief, und keine Karte drin sein musste. Ein gefaltetes Din A5 Blatt, weiß und so dünn, dass es beinahe durchschimmernd war.
„Arnaud, dein Bruder ist gestorben. Ich kann dir nicht schreiben, was passiert ist. Bitte triff dich mit mir. Greta“
Im Umschlag war ein zweiter Zettel mit der Anschrift eines Lokals und einem Datum mit Uhrzeit.
Vier Stunden saß Arnaud im Auto, um eine Greta zu treffen, die er nicht kannte. Er hatte seinen Bruder zuletzt vor sechs Jahren gesehen. Arnaud hatte sich eine Wohnung mit Michael geteilt, der drei Jahre jünger war, und nach seinem Schulabschluss dem großen Bruder folgte, um dem Elternhaus und der unangenehmen Kleinstadt zu entkommen. Nicht, dass einer der beiden es je wirklich schwer gehabt hätte, aber es war eng und bedrückend, mit einer Atmosphäre wie im Traum gewesen.
Dann war Michael nach einem Jahr verschwunden. Es kamen Briefe, in denen er von Arbeit sprach, die ihm Spaß bereitete, Karten aus Urlaubsgebieten- nie mit Absender. Eine Greta hatte Michael jedoch nie erwähnt.
Diese Post hatte Arnaud an seine Eltern weitergeleitet, damit sie wussten, dass es ihrem Sohn gut ging, auch wenn er nicht erreichbar war. Aber diesmal hatte Arnaud es nicht geschafft, den Eltern mitzuteilen, was er erhalten hatte. Arnaud wusste, warum. Hätte er es ausgesprochen, wäre es real geworden- unausweichlich, unleugbar. Es war wie mit einem Zauberspruch, der, solange nicht angewandt, noch jede andere Verwandlung offen ließ.
Es war halb acht, als Arnaud im Anzug das Restaurant betrat und sich unsicher umsah. Es war ihm ein Rätsel wie er eine Frau finden sollte, die er noch nie gesehen hatte. Auf gut dünken setzte er sich und ließ sich eine Karte geben. Als er sie öffnete, und auf die verschiedenen Weinsorten starrte, war ihm plötzlich zum Heulen zumute. Sein Bruder war gestorben, und er musste heulen, weil er sich mit der Weinkarte in den Händen dumm vorkam. Arnaud wollte jetzt nicht anfangen zu denken. Er begriff nichts. Und deswegen konnte er auch nicht darüber nachdenken, was er tun sollte.
„Arnaud?“ „Michael!“, er fuhr vom Stuhl hoch, und sah die blonde Frau im roten Kleid an, als sei sie Michael.
Sie nickte mit einem traurigen Lächeln, und nahm seine Hand, „Ich habe dir geschrieben, ich bin Greta. Du siehst deinem Bruder so ähnlich. In echt noch mehr als auf den Fotos.“
Sie schloss kurz die Augen, und hatte Tränen in den Wimpern als sie sie wieder öffnete, dann setzte sie sich.
„Du… ich meine, du und Michael, ihr wart ein Paar, oder? Also, du bist seine…“
Arnaud stammelte, wusste sich nicht zu helfen. So ist das, wenn Menschen sterben, von denen man den Anschluss verpasst hat, dachte Arnaud. Man konnte sich nicht für ihren Tod interessieren, oder ihn überhaupt begreifen, bevor man nicht wusste, was in der Leerstelle passiert war, die sich über die Jahre ausgeweitet hatte.
Und nun sah er diese Frau vor sich, und eigentlich war sein Bruder nicht tot für ihn, er war irgendwo, dieser Hund, der einfach abgehauen war und sich dann diese Mordsfrau zu seiner gemacht hatte. Arnaud wollte ihm auf die Schulter boxen und ihm ein zweideutiges Grinsen zuwerfen.
Aber plötzlich kam es ihm morbide und pervers vor, diese Ahnung von Tod plötzlich mit einer außeralltäglich attraktiven Frau in Assoziation zu bringen. Er wusste nicht, was er tun sollte, und diesmal, so schien ihm, kamen ihm die Tränen aus ungefähr den richtigen Gründen.
„Es ist so absurd.“, sagte er, und wusste, das Scham jetzt nicht mehr schützte und fing zu weinen an. Mit einem Schluchzen brach er endgültig das Siegel der Befangenheit auf, „Was ist mit ihm passiert?“, fragte er. Es kam ihm alles unpassend vor. Jede seiner Reaktionen fühlte sich falsch an.
„Es ist so absurd.“, wiederholte er, als er Gretas Finger seine Handgelenke umschließen fühlte.
„Bevor wir weiterreden, muss ich dir noch etwas anderes… zeigen.“
Sie ließ Arnaud los und griff in ihre Handtasche, um dann ein Foto über den Tisch zu schieben. Einen Moment verweilte ihre Hand darauf, sodass er sie schon zur Seite schieben wollte, als er endlich einen Blick darauf werfen konnte: Greta und eine zweite Frau. Unter langen, braunen Haaren und dezentem Make-up erkannte er die verfremdeten Gesichtszüge seines Bruders.
Arnaud spürte ein taubes Kribbeln im Kopf.
In ihrem Auto erzählte Greta Arnaud vom Tod. Er unterbrach sie nicht, als sie von Meningitis und Krankenhäusern redete, aber hörte ihr auch nicht zu. Er sah aus dem Fenster und dachte darüber nach, dass er zwar nicht wusste, wie es ist, den Verstand zu verlieren, doch riet, dass es sich ein wenig so anfühlen müsse, wie er jetzt fühlte.
Als sie vor einem Haus anhielt, sah er sie zum ersten Mal seit sie eingestiegen waren an.
„Warum bin ich eigentlich mitgekommen? Fahr mich zurück.“
Greta zog den Autoschlüssel aus dem Schloss und zeigte mit ihm auf Arnaud, „Du wirst dir ansehen wie dein Bruder, der dich geliebt hat, gelebt hat.“
„Er war ja kein Bruder mehr, denkst du es wäre in seinem Sinne…“
Arnaud spürte wieder ein Kribbeln, nur diesmal im Gesicht. Greta zitterte leicht, ihre geöffneten Lippen glänzten- dann begann sie zu weinen, und legte flehend um Entschuldigung ihre Hand auf Arnauds Wange. Einige Momente später öffnete sie die Tür, und beugte sich nach vorne, als wolle sie sich übergeben. Gebeugt stieg sie aus und lief, gestützt erst am Auto, dann am Gartenzaun, zum Haus. Im Rückspiegel sah er eine rote Fläche auf seiner Wange, die nur langsam verschwand.
Arnaud hatte über den Sitz gegriffen und die Fahrertür zugezogen, nachdem Greta verschwunden war. Er lehnte sich im Beifahrersitz zurück und schloss die Augen. Gehirnhautentzündung also. Aber wie sollte er begreifen, dass ein Mensch, der sowieso seit langer Zeit nicht mehr an seinem Leben teilnahm nun an gar keinem Leben mehr teilnahm? Er war nicht die ganze Zeit dagewesen und plötzlich gestorben. Der Verlust war es, der schon vorher da war, und nicht vergrößert werden konnte. Das Fehlen einer Sache konnte nicht noch größer werden. Ja, die Briefe, die höchstens zwei Mal im Jahr kamen, das hatte er von Michael, oder, wie Greta ihn kannte, von Alexandra. Aber diese Briefe identifizierte er nicht mit der Person Michaels.
Er fragte sich, warum er nicht gewusst hatte, dass es eine Alexandra in seinem Bruder gab. Jetzt wälzte er sich in einem fremden Auto herum, bis es dunkel wurde, und wusste nichts.
Als die Autotür nach Stunden aufgerissen wurde, schreckte Arnaud aus dem Halbschlaf.
Greta stand auf dem Bürgersteig und reichte ihm ein Glas Wein ins Auto. Er sah an ihr hoch. Sie hatte ihr Kleid gegen einen schlichten, aber engen Rock und ein graues T-Shirt getauscht.
Er nahm das Glas und trank durstig, während sie sich vor dem Auto hinhockte, die Knie streng aneinander gedrückt.
„Ich habe ihn über die Arbeit kennengelernt. Noch als Michael.“
Arnaud hob, trinkend die Hand, doch statt die Geste als Abwehr anzuerkennen, verschränkte sie ihre Finger mit seinen.
„Er hatte sein Vorstellungsgespräch bei mir. Ich suchte eine Art rechte Hand. Ich bin Architektin und leite das Büro meines Vaters. Michael hat mir sofort gefallen. Am Anfang dachte ich, es sei einfach sein androgyner Look, und erst, als wir zusammen waren, sprach er über seinen Wunsch, eine Frau zu werden.“
Arnaud reichte ihr nun das geleerte Glas, und zog ihr seine Hand weg.
„Drinnen habe ich noch mehr Wein.“, sagte Greta mit einem Lächeln, das ihr für eine Sekunde entglitt, und verriet, wie viel sie selbst in den letzten Stunden getrunken haben musste. Ihr Blick wirkte bereits desorientiert, doch traf er auf Arnauds.
Etwas in ihm sehnte sich nach momentanem Vergessen. Er wusste, dass es auf die Dauer nichts ändern würde, natürlich, aber für diesen Tag, den Rest des Abends wollte er sich einer Art Narkose übergeben. Da nun Alkohol in Aussicht stand, nahm er ihn. Er machte Greta ein Zeichen, sie solle ihm Platz vor der Autotür machen, damit er beim Aussteigen nicht über sie stolpere, dann folgte er ihrem besoffenen Hintern ins Haus.
Außen und innen war alles nach Bauhausstil. Sachlich, nüchtern, geometrisch. Derartige Ordnung assoziierte Arnaud mit Autismus. Und in einer solchen Umgebung fühlte er sich unwohl. Aber Greta sorgte für Abhilfe. Sie füllte ihm gleich im Flur aus einer Glaskaraffe Wein nach.
„Wann ist er gestorben?“
Greta nahm einen gierigen Schluck, als sei sie ausgetrocknet, dann grinste sie, und wirkte fast bedrohlich in ihrer Fassungslosigkeit.
„Weißt du was? Schon vor zwei Monaten. Aber ich arbeite seit dem nicht mehr. Hab meinen Papa reaktiviert. Guter Papa, wie ein Hündchen.“, sie lachte gellend auf und knallte ihr Glas mit um den Stiel geballter Faust auf die Kommode. Es zerbrach nicht. Greta schüttete sich unter Arnauds teilnahmslosen Blicken nach, nicht ohne daneben zu gießen. Sie begann Chaos anzurichten. Greta rutschte rennend um die Ecke und es ertönte wenige Sekunden später laute Musik.
Arnaud begann sich wohlzufühlen. Ob wegen der einkehrenden Unordnung, oder dem Wein vermochte er nicht mehr zu unterscheiden. Das Überforderte Denken konnte endlich runtergefahren werden, das Hirn auf den absoluten Nullpunkt runtergekühlt, wo keine Bewegung mehr stattfand.
Die sinnlich schwüle Musik drang nicht mehr in ihn, als er sich aufs Sofa setzte, und Greta sich vor ihm auszuziehen begann. Im Gegensatz zu Arnaud spürte sie, wie ihr Hirn von den Schallwellen geformt wurde, sie sah es als weichen Ton der von starken Händen geknetet wurde.
Als sie vor dem sitzenden Arnaud kniete, zog sie ihn zu sich ran, und drückte ihre Brüste gegen seinen prallen Schritt.
Schweiß war in weißen, gestärkten Laken erst erkaltet, und dann getrocknet. Arnaud starrte mit offenen Augen an die Decke und machte jedes der wechselnden Lichtverhältnisse in der Ablöse von Nacht zum Morgen kommentarlos mit. Diese nackte Schöne lag neben ihm, und er konnte sie nicht ansehen. Er wollte sie nicht mal mehr. Aber jetzt hatte er sie gehabt.
Kleine Scherben in seiner zerbrochenen Erinnerung reflektierten Szenen, die durch Licht im Verstand sichtbar wurden, in denen Greta wie eine Wahnsinnige mit ihm schlief und dabei kraftlos stöhnte: „Du siehst ihm so ähnlich, du siehst ihm so ähnlich.“
Plötzlich hörte er sie neben sich in Lachen ausbrechen. Sie rollte sich im Bett und kicherte hysterisch.
„Oh Gott ist das gestört.“, schnaufte sie, „Ich habe ihn so geliebt, glaub mir das, aber dass er sich seinen Schwanz weg gemacht hat…“, sie rollte sich mit einem erneuten Auflachen weg.
Arnaud sah sie fassungslos an. Sie lachte weiter, wie die Wahnsinnige die sie offensichtlich war, selbst dann, als Arnaud begann, voller Wut auf sie einzuschlagen. Mit Gegenwehr hatte er nicht gerechnet, und sie war stark. Plötzlich lag sie über ihm und hatte seine Fäuste an den Handgelenken fest gepackt. Er sah in ihr Gesicht, weiß und so schön und ernst wie in Marmor gemeißelt.
„Was tun wir hier eigentlich? Michael ist tot. Michael ist tot. Und wir?“
Greta spürte die Kraft aus Arnauds Armen weichen und ließ ihn los. Sie sank neben ihn.
„Ich habe immer gesagt, dass er es dir sagen soll. Dass sie es dir sagen soll. Du hättest es ihr nicht übel genommen, oder?“
Arnaud konnte nicht sprechen. Greta setzte sich auf und streichelte seine Wange, nahm seinen Kopf in ihre Hände, als er eine Tatsache begriff, als wäre sie von der Schwierigkeit einer komplizierten Mathematikaufgabe.