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Grüner Staub

Beitritt
24.07.2002
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Grüner Staub

Ganz langsam drehte er den Kopf zu Seite.
Ihm war bewusst, was ihn erwartete und trotzdem fürchtete er sich vor dem Moment, in dem die Realität alle Träume und Hoffnungen verschlingen würde.
Die Realität. Nur wenige Menschen wussten noch etwas mit ihr anzufangen. Den meisten bedeutete sie nichts mehr, sie vegetierten apathisch vor sich hin, verbannten ihr Bewusstsein in fest verschlossene Gedankentresore und scherten sich nicht länger um ihre Existenz. In ihren Köpfen fanden Begriffe wie ‚Sorgen‘, ‚Freude‘ und ‚Hoffnung‘ keinen Platz mehr.
Seit der grüne Staub vor etwa zwei Jahren zum ersten Mal auftauchte, hatte sich die Welt grundlegend verändert. Nur selten hörte man von vereinzelten Gruppen von Menschen, die scheinbar unempfindlich gegen den grünen Staub waren. Sigfrid wusste zwar von diesen Gruppen, war ihnen aber soweit wie möglich aus dem Weg gegangen.

Die einsetzende Dämmerung erschwerte ihm die Sicht. Es war möglich, dass sie ihn längst aufgespürt hatten, allerdings eher unwahrscheinlich, denn dann hätten sie ihn wohl kaum so lange am Leben gelassen. Sie sichteten ihre Beute und töteten sie gnadenlos, verschwendeten keine Gedanken an mühsames Selektieren und Abwägen. Sobald sie ein Opfer im Visier hatten, stürzten sie sich wie eine Meute ausgehungerter Bluthunde darauf und zerfetzten es gierig. Mehr als einmal hatte Sigfrid aus der Ferne das grauenvolle Geräusch ihrer Fressgelage vernommen, er konnte hören, wie sie sich um die erlegten Körper rissen, von denen anschließend nichts mehr übrig blieb als ein dunkelroter Fleck in der Landschaft.

Sie kamen zeitgleich mit dem grünen Staub in die Welt.
Niemand konnte sagen, woher oder weswegen sie kamen. Sie waren einfach da.
Anfangs geschah es relativ selten, dass sie Menschen rissen. Gegenüber Siedlungen und Menschenansammlungen waren sie zu Beginn vermutlich misstrauisch. Wilde Tiere dienten als Nahrungsquelle, aber bereits nach wenigen Wochen konnte man sich nirgends mehr sicher fühlen. Sie waren intelligent, verschlagen und kannten keine Gefühle. Wie Haie schienen sie allein dem Instinkt des Fressens zu folgen.
Der Staub war es auch, der bewirkt hatte, dass immer mehr Menschen jeden Sinn für Gefahr und Furcht verloren. Selbst in größeren Gruppen ließen sie sich wie Schlachtschafe reißen, ohne auch nur die geringste Gegenwehr zu leisten. Lethargisch sahen sie das Unglück auf sich zukommen und ergaben sich ihm. Selbst im Angesicht eines grausamen Todes schrien sie nicht, riefen nicht um Hilfe, bettelten nicht um Gnade, gaben keinen Laut von sich, wenn die mächtigen Kiefer der Bestien ihre Körper zerrissen und ihre Gesichter in blutige Fleischklumpen verwandelten.

Irgend etwas bewegte sich. Ungefähr fünfzig Meter entfernt, auf einem umgestürzten Baumstamm, zeichnete sich der Umriss eines Lebewesens gegen den grauen Himmel ab. Obwohl er sich sicher war, dass es sich nicht um eine der Bestien handelte, hütete er sich davor, sich bemerkbar zu machen. Er konnte niemandem trauen. Wer auch immer dort war, durfte nichts von seiner Existenz erfahren. Automatisch griff er nach dem kalten Knauf, der gegen seine Hüfte drückte.
Mit Sicherheit gab es noch mehr Wanderer wie ihn. Menschen, denen der grüne Staub nichts anhaben konnte, deren Angst jedoch zu groß war, um sich einer Gruppe anzuschließen. Genau wie er streiften sie einsam durch ein ödes Land, mieden die Nähe der neuen Spezies ebenso wie die anderer Menschen. Der einzige verbliebene Lebensinhalt, überleben um jeden Preis. Genau wie er irrten sie umher, bis sie irgendwann vor Erschöpfung und Hunger den Bestien zum Opfer fielen.

Hunger...

Wer geschickt genug war, den Ungeheuern auszuweichen, stand vor einem ebenso großen Problem: seit geraumer Zeit waren die letzten genießbaren Lebensmittel verbraucht. Alles war von dem grünen Staub bedeckt, er war in jede noch so kleine Ritze und Spalte eingedrungen. Die Ernten auf den Feldern waren längst verdorrt, der Großteil der Vegetation existierte nicht mehr. Bis auf vereinzelte, knorrige Bäumchen war alles abgestorben.

Seit Tagen hatte er keine Nahrung mehr zu sich genommen, nun gab es die Chance, das zu ändern. Die Gestalt hatte ihn bisher nicht bemerkt. Noch einmal sah er sich um, lauschte, zog langsam die Waffe aus der Hose, nahm das Magazin heraus und zählte die Patronen. Zwei Schuss. Mit düsterer Miene schob er es vorsichtig wieder in die Pistole. Er konnte es sich nicht leisten, sein Ziel zu verfehlen, aber er hatte keine Wahl. Er zielte und drückte ab. Das Wesen huschte fort, ein Schemen, dessen wahre Gestalt nicht zu erkennen war.

Der grüne Staub verschwand nicht. Anfangs hofften die Menschen noch, dass es sich lediglich um eine Laune der Natur handelte, die der nächste Regen wegwusch. Aber je mehr Zeit verging, desto hartnäckiger behauptete er sich. Schlimmer noch! Der Regen brachte den Staub nun auch dorthin, wo er auch den letzten Menschen erreichte: ins Grundwasser, in Seen, Flüsse und Meere. Er kontaminierte sämtliche Wasserreservoirs. Mit jedem Schluck Wasser der getrunken wurde, verwandelten die Menschen mehr und mehr in seelenlose Körperhüllen, die nur noch als Nahrung dienten.
Parallel dazu wuchs die Zahl der Bestien rapide. Sie waren schnell und intelligent, brauchten Nahrung und holten sie sich schließlich überall dort, wo es nach Mensch roch. Hatten sie erst einmal Witterung aufgenommen, war es äußerst schwierig, ihnen zu entkommen. Die Jagd auf die letzten Überlebenden begann und er war einer davon. Nur noch ein Schuss im Magazin.

Zweimal war es ihm bereits gelungen, seine Verfolger abzuschütteln.
Diesen Umstand hatte er hauptsächlich der Tatsache zu verdanken, dass er die Gesellschaft anderer Menschen mied. Erblickte er welche, marschierte er lieber tagelang in die entgegengesetzte Richtung. Ungefähr zwei Monate war es her, dass ihm auch diese Vorsichtsmaßnahme nichts mehr nutzte. Der Wind musste seinen Geruch in die Nasenlöcher der Bestien geweht haben, vielleicht waren auch andere Menschen in seiner Nähe. Plötzlich war er von ihnen umringt, sie belauerten ihn. Von seinem Leben hatte er sich bereits verabschiedet und die Pistole an seine Schläfe gesetzt, da geschah etwas Sonderbares.
Es wirkte, als sei eine Art Machtkampf unter ihnen ausgebrochen. Die zwei größten Untiere schienen den schmackhaften Menschen als ihre persönliche Beute anzusehen. Sie umschlichen sich langsam und misstrauisch. Die anderen Mitglieder der Meute hielten respektvoll Abstand. Mit ohrenbetäubendem Kreischen und Fauchen gingen die Rivalen aufeinander los. Ihre Beute war ihnen offenbar so sicher, dass sie keinerlei Anstalten machten, sie sofort zu töten. Eine Verhaltensweise, die so zuvor noch niemand beobachtet hatte, zumindest niemand, der davon berichten konnte. Der Kreis der Bestien löste sich und formierte sich erneut um die beiden Kämpfer.
Was Sigfrid nun sah, würde er nie vergessen.
Mit furchterregendem Grunzen kämpften die beiden Kontrahenten. Der größere von beiden, der der Anführer der Gruppe zu sein schien, schlug mit seinen Pranken erbarmungslos auf seinen Gegner ein.
Die zwei Ungetüme demonstrierten ihre ganze Kraft. Sie verbissen sich ineinander, rissen sich gegenseitig mit ihren langen Krallen furchtbare Wunden und wälzten sich in einem Knäuel aus Zähnen und Pranken auf dem lehmigen Boden. Der kleinere der beiden schaffte es schließlich, seinem Gegenspieler den Arm auszureißen. Doch statt eines Blutstrahls rann lediglich eine dicke, grüne Substanz aus der Wunde. Auch ohne seinen Arm gab der Anführer nicht auf. In diesem Machtkampf würde es keinen lebenden Unterlegenen geben. Wer von den beiden auch immer als Sieger hervorging, würde den anderen ebenso zerfleischen, wie die Bestien es mit den Menschen taten.
Sigfrid beschloss zu fliehen, bevor dieses grausige Schauspiel vorüber war und die Ungeheuer sich wieder ihrer Beute zuwandten. Er sah noch, wie eins der Monster seine gewaltigen Hauer tief in den Kopf seines Gegenübers schlug und ihm fast die Hälfte des Gesichts wegriss, doch er musste sich von dem furchtbaren Bild des Kampfes lösen. Immer wieder wandte er sich auf seiner Flucht nach Verfolgern um. Zwei Stunden lang lief er so schnell, wie er nur konnte - stets mit dem Gefühl, dass sie ihn jeden Moment einholen würden.
Vollkommen außer Atem erreichte er einen toten Fluss, der einen fauligen, modrigen Geruch verströmte, ihm aber eine Chance zur Rettung bot. Er stürzte sich in die stinkende, grüne Brühe und schwamm eine weitere Stunde, um jedes Risiko auszuschließen. Die Bestien würden unmöglich seiner Fährte folgen können, wenn er nur lange genug im Wasser durchhielt.
Seit damals erfüllte ihn allein der Gedanke an die Untiere mit unvorstellbarer Furcht.

So wie jetzt. Als er den Kopf langsam zur Seite drehte, wusste er bereits Bescheid. Seine Augen waren trotzdem oder gerade deshalb geschlossen. Er versuchte zu schätzen. Mindestens acht waren es auf jeden Fall. Er öffnete seine Lider mit einer Ruhe, die eigentlich nur die Infizierten besaßen. Er hatte gut geschätzt. Neun grüne Augenpaare blitzen ihn an. Trotz seiner Angst rührte er sich nicht, stand da, fest entschlossen, sich dieser blutrünstigen Horde nicht kampflos zu ergeben. Das größte Exemplar der Gruppe starrte ihm direkt in die Augen. Seine Jagdgefährten traten einen Schritt zurück.
Der Anführer kam auf ihn zu, die grünen Sehschlitze noch immer auf ihn fixiert. Bei diesem Exemplar von Mensch handelte es sich offenbar um eine interessantere Beute als die apathisch dahinvegetierenden Opferlämmer, die den Rest der Menschheit bildeten. Instinktiv griff Sigfrid nach dem Knauf an seiner Hüfte und umschloss ihn mit zittrigen Händen.
Das Untier setzte zum Sprung an, die kräftigen Hinterbeine spannten sich. Der widerliche Geruch aus dem Maul des Angreifers betäubte seine Sinne. Spitze Krallen bohrten sich in seinen Oberkörper. Plötzlich ein stechender Schmerz in seinem rechten Bein. Er schrie. Laut, hoch, markerschütternd. Verwundert hob das Biest den Kopf, neigte ihn leicht zur Seite. Der Lauf der Waffe traf es direkt an der Schläfe. Ein weiterer Schlag in die Seite, um die Verwunderung des Monsters zur Flucht zu nutzen. Schwerfällig erhob sich Sigfrid und blickte nieder auf den massiven Körper, der langsam wieder zu sich zu kommen schien. Seine Mitstreiter rührten sich nicht. Grüne Masse quoll aus einer Wunde am Auge des Biests. Nur ein Schuss. ‘Konzentrier’ dich!’
Sigfrid drückte ab.

Staub, Staub, Staub.
Ein Staubkorn. Dann ein weiteres. Grün. Sieht genauso aus wie das erste. Oha. Grün, grün. Da bin ich, da ist jemand anderes, noch jemand anderes. Wir sitzen. Sitzen auf der Ebene, dort hinten sind Felsen, Büsche, Felsen, Himmel, Schatten, noch ein Schatten, bewegen sich, kommen näher, noch mehr Schatten. Der, der voran geht, sieht aus, wie einer von uns. Die anderen sind viel größer und dunkler. Es sind viele. Der eine Große bewegt sich schneller als die anderen. Der Kleine ruft ihn zurück und richtet etwas Silbernes auf ihn. Der Schwarze kriecht zurück in die Reihe. Bald sind sie bei uns. Da hinten springen sie auf einen, der so dasitzt wie ich. Und auf noch einen. Da ist viel Rotes. Rot und grün, rot und grün. Da hinten ist ein weiterer interessanter Felsen. Jetzt sind sie neben mir und rennen und springen ganz wild. Der mit dem silbernen Etwas in der Hand hat einen ganz roten Mund. Rot, rot.. Jetzt kommen sie auf mich zu. Noch ein Staubkorn.

© Katja Bieker & Ben Jockisch, 2002

 

Nein, hoffentlich nicht, Pan. :cool:

Ich bin mit dem Ergebnis unserer ersten Zusammenarbeit eigentlich auch sehr zufrieden. Nicht jeder Versteht es auf Anhieb, aber das machen wir bei unserem nächsten Projekt besser. Schon irgendwelche Ideen, Partner? ;)

 

Hallöle...
Ich war mit der Story ganz zufrieden :)
Die Idee mit dem grünen Staub und den Untieren (ich fühle mich ein wenig an "Jurassic Park" erinnert)und einem möglichen Zusammenhang zwischen beiden (die untiere haben grünes Blut) ist recht interessant - und man grübelt darüber nach.
Tjaa, doch eine Auflösung enthaltet ihr uns vor - habt aber trotzdem zu eine interessante und gelungene Idee für das Ende :thumbsup:
Naja, gut - obwohl man sich da wiederum ein bißchen in einen Disneyfilm versetzt fühlt, a la "Dumbo ist betrunken". Sorry, aber ich musste ein bißchen schmunzel, als ich mir die dümmlich grinsenden Gesichter der vom Staub betäubten Leute vorstellte.
*KQs*

 

Hallo Pan und Ben (Jockisch) ;)

die Geschichte hat mir gut gefallen, sie war flüssig zu Lesen. Der Schluss ist ein echter Hammer und wiegt das Fehlen von Erklärungen so ziemlich auf. Nur, würde mir das ganze noch einen Tick besser gefallen, wenn ich den Schluss auf Anhieb verstanden hätte, und mir nicht die Einzelheiten aus den Kritiken heraussuchen müsste :D

Porcupine

 

Moin

Ich fand die Geschichte so wie sie ist gut so. Jede Erklärung der Situation hätte meiner Meinung nach die Stimmung gestört.
Den Schluß fand ich eigendlich sehr verständlich.

Codovan

 

Hallo,

mir hat Eure Geschichte ausgesprochen gut gefallen. Sie ist gut geschrieben, spannend und es machte einfach viel Spass sie zu lesen.
Das Ende hätte ich ohne Erklärung auch nicht verstanden; hinterher ist man ja immer schlauer.
Aber wieso hat dieser Siegfried auf einmal gegen! seine Mitmenschen gekämpft?
WEgen dem grünen Staub? Aber wenn ja, warum? Dann hätten doch auch andere Menschen gegeneinander kämpfen müssen?!
alexa333

 

Hi Alexa, danke fürs Lesen & den Kommentar.

Aber wieso hat dieser Siegfried auf einmal gegen! seine Mitmenschen gekämpft?
Die Erklärung kann man der Geschichte entnehmen, wenn man genau liest.
Ein Tipp: Lies mal Absatz nr. 5 & 6...

Gruß

Ben

 

hallo

Na was findet man den da wenn man mal ein paar links folgt.
Die Geschichte hat mir echt gut gefallen :thumbsup:

Na gut die Pointe hab ich auch erst beim dritten versuch verstanden :Pfeif:

Ich frag mich gibts davon noch mehr?
Oder habt doch nicht zusammen weiter geschrieben?

Zitat Pandora

Die Zusammenarbeit mit Ben hat wirklich Spaß gemacht, hat super geklappt (ohne Baseballschläger und blaue Augen ), und ich hoffe mal, das war nicht unser letztes Projekt. Oder, Ben?

Zitat Ben
Ich bin mit dem Ergebnis unserer ersten Zusammenarbeit eigentlich auch sehr zufrieden. Nicht jeder Versteht es auf Anhieb, aber das machen wir bei unserem nächsten Projekt besser. Schon irgendwelche Ideen, Partner?

also gibst noch was würd gern mehr davon lesen :read:


mfg chris

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo zusammen,

yo liest sich ja runter wie Öl, sauberer Stil, gute Geschichte, spannend erzählt. Nach dem ersten Machtkampf zwischen den Wesen war das Ende für mich deutlich genug. Sonst noch was? Weiter so! :)

Eine Anmerkung:


Selbst im Angesicht eines grausamen Todes schrien sie nicht, riefen nicht um Hilfe, bettelten nicht um Gnade, gaben keinen Laut von sich ...

Das fand ich dann doch zu viel des Guten. :)


Liebe Grüße

Dante_1

 

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