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Gottspieler
Die Sonne brannte unbarmherzig auf die etwa drei Dutzend Menschen herab, die sich schweigend auf den vertrockneten Überresten einer Wiese versammelt hatten. Auf den Getreidefeldern ringsumher neigten sich die verdorrten Halme dem staubigen Boden entgegen. Die kleinen Rinnsale von Schweiß auf den Gesichtern und Armen der Leute waren das einzige Anzeichen von Feuchtigkeit, soweit das Auge reichte.
Endlich hob der Priester, um den die anderen einen losen Kreis bildeten, die Arme zum Himmel.
„Mächtiger Hendrik, höre das Flehen deines Volkes!“
Nichts rührte sich; kein Windhauch deutete darauf hin, daß der allmächtige Gott dem in grobes Leder gekleideten Mann seine Aufmerksamkeit schenkte. Noch einmal war die tiefe, klangvolle Stimme zu vernehmen, der die darin mitschwingende Verzweiflung kaum anzumerken war. „Mächtiger Hendrik, dein Volk braucht dich in dieser Stunde der Not! Gib uns Regen! Rette unseren Weizen, oder das auserwählte Volk wird am Hunger sterben!“
Der angerufene Hendrik verfolgte das Geschehen aufmerksam. Während er auf seinen Bildschirm starrte, schwoll das Gefühl der Macht, das er von Tag zu Tag mehr zu brauchen schien, wieder in ihm an. Er sah, wie ein Kind auf den Armen seiner Mutter unruhig wurde, und dann klang das jämmerliche Weinen des Kindes aus dem Lautsprecher. Das Kind rührte Hendrik auf eigentümliche Weise, obwohl er sich im Moment nicht an den Namen des Kleinen erinnern konnte.
Natürlich würde er sein Volk nicht umkommen lassen. Aber sie waren eine Weile nachlässig gewesen, einige von ihnen gar aufmüpfig. Jetzt, wo sie ihre Lektion gelernt hatten, würde sich der allmächtige Hendrik als barmherziger Schöpfer erweisen, der seine Versprechen hielt.
Schon sprach er Worte, die erste Veränderungen auf dem Bildschirm auslösten. Am Horizont erschienen dünne Wölkchen. Sie würden bald zu den dunklen Regenwolken anschwellen, die das auserwählte Volk so sehr herbeisehnte. Doch noch sahen die Menschen in die andere Richtung, bemerkten auch nicht, daß ein aufkommender Lufthauch begann, den Staub um ihre Füße tanzen zu lassen. Ganz vertieft starrten sie empor, und die Stimme des Priesters wiederholte ein ums andere Mal ihre verzweifelte Botschaft.
„Nimmst du mich überhaupt wahr?“
Die wütende Stimme hinter ihm ließ Hendrik herumfahren. „Moni! Ich hab’ dich gar nicht reinkommen hören.“
„Hatte ich schon vermutet. Dieses verdammte Spiel ist wie eine Droge.“
Jetzt war es Hendrik, dessen Stimme wütend klang. „Zum ichweißnichtwievielten Mal: Hör’ auf, das Programm ein Spiel zu nennen!“
Moni zuckte mit den Schultern. „Nenn’ es, wie Du willst.“ Sie hob ein paar Briefe vom Tisch auf. „Nicht mal mehr für die Post bleibt Zeit, was?“ Nach einem flüchtigen Blick warf sie die Briefe zurück auf den Tisch, behielt lediglich einen weißen DIN-A4-Umschlag in der Hand. „Wann ist der gekommen? Heute? Gestern? Interessiert es Dich nicht, ob sie ein Vorstellungsgespräch wollen?“
„Zu dicker und großer Umschlag. Sind nur die Bewerbungsunterlagen zurück.“ Er schielte kurz hinüber zum Monitor. Das auserwählte Volk hatte die zunehmende Bewölkung am Himmel bemerkt. Das Flehen aus dem Lautsprecher klang jetzt hoffnungsvoll, der Priester mischte ersten Dank in das Gebet.
„Mach den Scheißlautsprecher aus!“ Moni schrie beinahe. Hendrik hielt es für besser, sie nicht weiter zu reizen. Er schaltete nicht nur den Ton, sondern auch die akustische Eingabe aus.
„Ich wette, die Unterlagen waren nicht mal vollständig. Aber wer sagt denn, daß du auf einen Job angewiesen wärst? Obwohl ich schwören könnte, die Briefe von Brügge und Stoll sind Mahnungen.“ Sie kam näher. Hendrik wollte ihr einen Kuß geben – ein bißchen mehr wäre auch mal wieder nicht schlecht, merkte er plötzlich -, aber sie wehrte ab.
„Vielleicht“, sagte er in vorwurfsvollem Ton, „würde ich weniger Zeit mit dem Programm verbringen, wenn du mich ab und zu ein wenig ablenken würdest.“ Er wußte, daß das gelogen war. Und er wußte auch, noch ehe die Worte ganz raus waren, daß es das falscheste war, was er im Augenblick sagen konnte.
„Jetzt reicht’s mir!“ Moni dachte gar nicht daran, sich in die Defensive drängen zu lassen. „Entscheide Dich: dieses verdammte Ding oder ich.“ Sie trat heftig gegen den Computer, und für einen irren Moment spürte Hendrik den Impuls, sie niederzuschlagen, die von ihm geschaffene Welt und das auserwählte Volk zu beschützen.
Er brauchte sich nicht lange zu beherrschen. Seine Freundin – möglicherweise seine Ex-Freundin – verließ die kleine Wohnung und schlug die Tür hinter sich zu.
Auf dem Bildschirm hatte der Regen eingesetzt. Die Menschen führten einen Freudentanz auf. Ihre Emotionen, ihr ganzes Verhalten waren vollkommen. Dieses war Hendriks dritter Versuch; die ersten beiden hatte er abgebrochen, weil er die ungeheuren Datenmengen nicht in den Griff gekriegt hatte. Aber er war immer ein großartiger Programmierer gewesen, und er hatte nicht aufgegeben. Dieses Mal lief es seit gut einem Jahr, und er fühlte sich wie Gott. Nein, das war spitzfindig. Auf eine gewisse Weise war er Gott.
Hätte es je einem Gott etwas ausgemacht, seinen Job zu verlieren? Oder selbst sein Mädchen? Sein ignorantes, engstirniges Mädchen? Obwohl Simones unverständiger Geist in einem Körper steckte, dem sogar Zeus hinterhergelaufen wäre.
Hendrik schaltete den Ton wieder ein. Aber er hörte keine Gebete. Die Menschen waren zu sehr damit beschäftigt, sich zu freuen. Ja, sie waren vollkommen, im Sinne von real... aber sie waren alles andere als moralisch vollkommen.
Wütend flogen Hendriks Finger über die altmodische Tastatur (er machte sich nicht die Mühe, die akustische Eingabe zu reaktivieren) und gaben Daten ein. Heute würde ein Stern mehr an ihrem virtuellen Himmel scheinen, sobald die Wolken den Blick darauf wieder freigeben würden. Der Komet, der auf sie zukam, würde sie hoffentlich länger beeindrucken als die alberne Dürre.
Er kontrollierte in einem eigenen Fenster die neuen Daten – Routine. Die Arbeit Gottes hatte auch ihre langweiligen Seiten.
Irgend etwas stimmte nicht. Der Komet kam viel zu schnell heran. Und aus irgendeinem Grund ließ sich sein Kurs nicht korrigieren. Jetzt aktivierte Hendrik doch den Sound-In. „Systemcheck – Ausgabe Fenster drei!“ Zwei Sekunden später starrte er wie gelähmt auf den Monitor.
Es mußte durch Monis Tritt passiert sein. Wenn er nicht in den nächsten paar Stunden eine neue Festplatte besorgte, würde ihm das ganze Programm abschmieren. Und selbst wenn nicht, würde der Komet die Sache beenden.
Weltuntergang.
Und dabei konnte er sich nicht einmal einen Ersatz für die Sicherung leisten, die er seit Tagen im Flur notdürftig und illegal überbrückt hatte.
Nicht nur wegen der fehlenden Sicherung dachte er zum wiederholten Male daran, den Computer auszuschalten, als er kurz darauf die Wohnung verließ, um einen Kreditgeber zu finden. Es wäre auch ein Weg gewesen, das Unheil wenigstens aufzuschieben. Doch es schien ihm nicht in Ordnung. Es war nicht einfach irgendein Programm, das man anhielt und später weiterlaufen ließ. Es war eine wirkliche Welt. Auf einer anderen Realitätsebene, aber wirklich.
Es wäre einfach nicht in Ordnung gewesen.
Der Häuptling trat erst in das Halbdunkel der Hütte, als der Priester ihn dazu aufforderte. Und er sprach nicht, bevor der Priester gesprochen hatte. Die Wolken hatten sich so schnell abgeregnet, wie sie gekommen waren. Es war genug Wasser gewesen, um den Brunnen etwas aufzufüllen und die Ernte für’s erste zu retten. Aber das war jetzt ohnehin ihre geringste Sorge. Als der Himmel aufgeklart war, hatten sie die zweite Sonne entdeckt. Zuerst war sie nicht viel mehr als ein heller Punkt gewesen, wie manchmal die beiden Morgensterne. Aber man konnte zusehen, wie sie wuchs.
Der Priester hatte sich zurückgezogen, um in Trance den Willen Hendriks zu erforschen. In der Welt ihres Gottes hätte man es vielleicht als Interaktion eines programmierten Objektes mit einer Datenbank bezeichnet, doch der Priester hatte es als Vision wahrgenommen. Er hatte das schon häufig erlebt, nur er war dazu fähig. Das war der Grund für seine gottähnliche Stellung in dieser Welt.
Diesmal war die Vision in Teilen beunruhigend undeutlich gewesen. In anderen Teilen – beunruhigend deutlich.
Er machte nicht viele Worte. Ein Komet würde, noch bevor die nächste Nacht vorüber wäre, das Ende von allem bringen. Hendriks Strafe dafür, daß das Freudenfest die Dankesfeiern verdrängt hatte. Es war noch aufzuhalten, aber der Priester hatte den richtigen Weg nur unklar sehen können.
Der Häuptling redete ein wenig um den Brei herum; dann rückte er damit heraus, was er und die Ältesten für das beste hielten. Eigentlich ging es diesmal nicht um den Rat des Priesters, sondern nur um sein Einverständnis.
In Ermangelung eines besseren Vorschlags stimmte der Priester zu. Als der Häuptling ihn verlassen hatte, um unter den Freiwilligen das Los zu werfen, betrachtete er voll Abscheu das heilige Messer. Seit er Priester geworden war, seit er aus den Weisen Geschichten die religiösen Lehren erlernt hatte, hatte er gehofft, es nie benutzen zu müssen.
Er tat etwas, was er sich außerhalb der Einsamkeit seiner Hütte niemals gestattet hätte: Er weinte.
Hendrik fragte sich kurz, ob Moni mit dem Wort Droge nicht recht gehabt hatte. Sie hatte es noch einmal wiederholt, bevor sie ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte. Ihre eigene Wohnungstür, kaum daß er begonnen hatte, sie um Geld anzubetteln. Und dieser Mistkerl Jürgen war nicht dagewesen, wie immer, wenn man ihn mal brauchte. Droge oder nicht, diese Frage brachte ihn nicht weiter, also schob er sie beiseite. Seine Eltern waren im Urlaub; mit dem Schlüssel für das Haus hätte er ungestört nach Geld suchen können, aber bis Hannover war es zu weit. Die Zeit würde nicht reichen, selbst wenn er ohne Fahrkarte in die Bahn gelangen könnte.
Es half nichts. Er mußte Herrn Meder bestehlen. Der alte Mann, der im selben Eingang im Erdgeschoß wohnte, mochte ihn aus unerklärlichen Gründen. Hendrik würde unter einem Vorwand in die Wohnung gelangen, und in einem günstigen Augenblick... Ein widerlicher Gedanke, aber es ging nicht anders.
Als er um die Straßenecke kam, wurde er jäh aus seinen Gedanken gerissen. Er hatte das Gefühl, dem schlimmsten Alptraum seines Lebens ausgesetzt zu sein, in dem alles immer nur noch grauenhafter wurde. Das Haus stand in Flammen, und die Feuerwehr rollte gerade Schläuche aus. Hendrik zweifelte nicht einen Moment daran, daß es die fehlende Sicherung gewesen war.
Einige Sekunden lang zögerte er, dann rannte er los, vorbei an den Feuerwehrleuten und Polizisten, die ihn aufzuhalten versuchten. Die Tür stand offen; das Treppenhaus war leer.
Er kam bis in den zweiten Stock, dann nahmen ihm die dichten Rauchschwaden die Sicht und den Atem. Er dachte noch einmal an das auserwählte Volk, das er retten mußte, dann brach er zusammen.
Die blutigen Opfer hatten den Kometen nicht aufgehalten. Das Volk hatte in Panik die Flucht ergriffen. Nur wenige Fromme standen um Häuptling und Priester und erwarteten das Ende. Bei manchen mochte es auch bloß Resignation sein, denn wohin genau hätten sie fliehen sollen, um dem Untergang der Welt zu entgehen?
Sturm war aufgekommen, flaute ab, lebte böig wieder auf. Der Priester brachte nicht mehr den Mut auf, zu dem Kometen (den die anderen die Böse Sonne getauft hatten) aufzublicken. Statt dessen sah er den Häuptling an, der die Augen geschlossen hielt.
Plötzlich erwachte neue Hoffnung in seinem Herzen, wie Feuer aus glühender Asche erwacht, wenn der Wind darauf steht. Der Häuptling flackerte. Flackerte nicht wie der Komet oder die Sonne, sondern auf eine Weise, wie der Priester es nie zuvor gesehen hatte. Er wurde durchsichtig, schien für einen Augenblick nicht richtig da zu sein; dann war es vorbei, doch gleich darauf wiederholte es sich.
Der Priester wußte nichts von Computern in brennenden Mietshäusern, doch er kannte die Weisen Geschichten. Wenn die Sterne vom Himmel fallen würden, würde Hendrik jene, die bis zuletzt gefolgt waren, zu sich entrücken. Würde sie einfach aus dieser Welt in die andere holen.
Er blickte auf seine Hand – noch blutverschmiert von den einzigen Menschenopfern seines Lebens -, und sie flackerte ebenfalls. Die Entrückung hatte begonnen.
Der Priester erlebte einen letzten Moment unbeschreiblichen Glücks, dann war einfach alles vorbei.