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Gottes Fliegenklatsche
Eine sternenklare Winternacht. Der Schnee knirschte unter Roberts Füßen. Sein Atem dampfte im Licht der Lampen. Von fern sahen die Siedlungen aus wie Versammlungen von Glühwürmchen in Momentaufnahmen zwischen Bergen, groß und still. Auf dem Dorfplatz blieb er stehen. Sollte er den nächsten Nachtbus nehmen, oder vorher noch einen trinken? An einem großen Gebäude schräg gegenüber verkündete ein Schriftzug: BAR. Dorthin lenkte er seine Schritte, spürte bei jeder Bewegung seine Oberschenkel und Knie. Und seine Blase drückte. Die Tür war aus altem Holz und hatte schmiedeeiserne Beschläge. Dunst aus Frittierfett und altem Rauch schlug ihm entgegen. Seine Schuhe hinterließen Wassertropfen auf den Fliesen. Hinter der Bar stand eine Frau Anfang Fünfzig, deren Schönheit sich langsam verabschiedete, wie bei einer Schnittblume, die schon ein wenig den Kopf hängen ließ. Er kannte sie flüchtig. Sie hieß Gabriele. Sie sog an einer Zigarette, schaute ihn die ganze Zeit an, während er näher kam.
„Grüß dich!“
Robert öffnete den Reißverschluss seines Anoraks. Dabei streifte die Innenseite seines Arms das Handy in der Tasche, immer noch eingeschaltet und auf Empfang, seine Verbindung zu Menschen, die längst in ihren Betten lagen.
„Kann ich einen Glühwein haben?“
An der Bar saß ein Mann mit grauem Bart, ein Bier vor sich. Sicher nicht das erste. Dieser Typ war seltsam. Es hieß, dass er so eine Art Hellseher sei. Er warf manchmal einen Blick auf den kleinen Fernseher, in dem ein Fußballspiel lief. Unten zogen an einem Laufband Quoten vorbei.
„Und? Gewinnt Real heuer die Champions League?“
„An deiner Stelle würde ich fragen, ob du die Frau, an die du vorhin gedacht hast, jemals wiedersehen wirst.“
„Wie bitte?“
„Das ist das, was ich an deiner Stelle fragen würde.“
Er schaute Robert von der Seite her an. Er hatte Tränensäcke. Und Haarbüschel in den Ohren. Auf seiner Schirmkappe stand Unser Lagerhaus.
Robert sagte: „Ich weiß nicht, was du für ein Problem hast.“
Gabriele stellte einen gläsernen Krug mit Glühwein vor ihn hin: „Keinen Ärger in meinem Haus!“
Die gebräunte Haut über ihren Brüsten warf Fältchen.
„Ich bin der Schorsch. Offenbar hast du ja schon von mir gehört“, sagte der Mann, „Nicht böse sein! Ich erfülle nur meine Aufgabe. Als Vermittler zwischen dir und der höheren Ordnung.“
Schorsch roch nach Rinde und Bier.
„Zwischen mir und Gott, oder wie?“
„Kann sein.“
Robert nahm einen Schluck von dem Glühwein: ein Geschmack nach Nelken, Wein und Zimt und eine Hitze, die sich die Speiseröhre hinunter bis in den Bauch ausbreitete! Dieser Typ war also ein Prophet. In ihm regte sich Ehrgeiz, das zu widerlegen. Mit Logik.
Gabriele griff nach der Fernbedienung und drückte den Aus-Knopf: „Schaut doch eh niemand mehr zu, oder?“
„Hör zu, Alter!“
Schorsch musterte ihn mit roten Tränensack-Augen.
„Diese Vorstellung von Gott aus dem Religionsunterricht, die ist Blödsinn. Die widerspricht den Gesetzen der Logik. Wie du vorhin gesagt hast: Ich werde meine Freundin niemals wiedersehen …“
Gegen seinen Willen durchlief ihn ein Schauer.
„… Das bedeutet doch, dass die Zukunft feststeht. Das heißt aber auch, dass wir Menschen nicht und nicht einmal Gott selbst freie Entscheidungen treffen können. Wenn aber Gott allmächtig ist, muss er Dinge tun können, die dieser vorgegebenen Zukunft widersprechen. In diesem Fall hätte er in seiner Prophezeiung gelogen. Dein Gott ist also entweder nicht allmächtig oder nicht allwissend oder er lügt.“
Gabriele sagte: „Ich möchte mal wissen, was der alte Schorsch darauf antworten kann.“
Schorsch nahm einen Schluck Bier, um sich zu stärken. Er deutete mit dem Kinn auf den Hund: „Schau dorthin!“
Der Golden Retriever, den jetzt alle drei beobachteten, trottete vor die Bar. Er setzte sich hin, blickte in die Runde und bellte einmal: Wuff!
Und siehe: Sein Fell verfärbte sich von semmelgelb zu strahlendem Weiß!
„Ja, und?“, fragte Gabriele.
Robert glotzte mit offenem Mund Schorsch an. Schorsch sagte: „Sie sieht es nicht.“
Der Hund, offenbar mit sich selbst zufrieden, trottete wieder zu den Spielautomaten mit ihren bunten Lichtern.
„Was sehe ich nicht? Naja, egal … Ich kenne alle Gottesbeweise. Zehn Semester Philosophie und Kunstgeschichte! Nicht, dass es mir bisher im Leben viel geholfen hätte ... Es läuft auf Gott als die Transzendenz hinaus, die jenseits des von Menschen Erfassbaren liegt. Auch jenseits der Logik.“
Schorsch grinste. Er gab Robert einen Stoß mit dem Ellenbogen: „Na, wer von uns beiden hat nun Recht?“
Erst mal in Ruhe aufs Klo! Länger konnte er wirklich nicht mehr warten: „Ich muss austreten. Und wenn ich zurückkomme, gebe ich euch die Antwort, die ihr verdient.“
Auf dem Weg die Treppe hinunter ging automatisch das Licht an. Anstelle guter Argumente kam die Angst, kroch ihm die Hosenbeine hinauf und packte ihn an den Eiern. Am Pissoir entleerte er sich mit viel Druck. Himmel, tat das gut! Das WC war geräumig, blaue Fliesen überall. Vor dem Fenster, das sich zu einem Lichtschacht öffnete, lagen tote Fliegen. Woher kamen die zu dieser Jahreszeit? Während er den Reißverschluss hochzog, hatte er einen absurden Gedanken: Gott hat sie getötet! Höchstpersönlich umgebracht, als hätte er sie mit der Fliegenklatsche totgehauen.
Vor dem Spiegel blieb für den Bruchteil einer Sekunde die Zeit stehen, als wäre die ganze Welt zu einem Eisblock schockgefroren. Mit großen Augen betrachtete er sich selbst: müde, Schatten unter den Augen. Die Hände lösten sich zuerst aus der Erstarrung. Er drehte den Hahn voll auf, spritzte sich Wasser übers Gesicht: Werd wieder klar im Kopf!
Er trocknete sich mit einem Papierhandtuch Gesicht und Hände ab. Klatschnass war es, als es in den Plastikbeutel plumpste. Er hielt es immerhin für möglich, dass diese Prophezeiung eintraf, späte Stunde hin oder her. Und was dann?
Seine Hand griff nervös nach dem Handy, drückte ein paar Tasten.
Er hörte viermal das Tüüüüt des Freizeichens, bis sie sich mit belegter Stimme meldete: „Hallo?“
Er sagte, dass er es war, dass er Angst hatte und dass er sie liebte, dass er sie vermisste und nicht wusste, was er tun sollte … (usw.)
„Robert, es ist halb drei Uhr morgens. Muss das jetzt wirklich sein?“
Sie hatte ja Recht. Er murmelte eine Entschuldigung und fügte vorsichtshalber noch einmal hinzu, dass er sie liebte.
Jetzt war ihm etwas wohler. Er ging die Treppe hinauf, kam um die Ecke, nahm Anlauf, klatschte beide Hände heftig auf den Barhocker, als wollte er einen Bocksprung machen, schwang tatsächlich links und rechts die Beine hoch, behielt sie in der Luft und ließ sich mit dem Hintern auf die Sitzfläche fallen. Fast wäre er umgekippt, wenn Schorsch ihn nicht am Kragen gepackt hätte. Ein Rucken des Erstaunens ging durch Gabrieles aufgemalte Augenbrauen. Schorsch stieß einen Luftschwall der Erleichterung aus. Er murmelte: „Ein bisschen verrückt kann man schon sein.“
Robert rief: „Scheiß drauf! Ich behaupte jetzt einfach mal, dass deine Prophezeiung falsch ist.“
Er trank den restlichen Glühwein in einem Zug leer.
Schorsch erklärte mit vollem Ernst: „Du siehst sie nicht wieder, weil du in wenigen Stunden tot bist. Aber das ist kein Grund, traurig zu sein. Weißt du: Gerade habe ich zu Gabriele gesagt, dass wir alle wie Puppen sind, in denen Gottes Hand steckt. Er zieht sie raus, die Hülle landet im Müll, und die Hand tut schon etwas anderes.“
„Vorhin hieß es noch, ich soll meine Freundin verlieren und jetzt sagst du, ich werde bald tot sein? Spinnst du? Das ist jetzt wirklich nicht mehr lustig! Und ich möchte schon meinen, dass ich selber bestimme, was ich tue.“
„Wie erklärst du dir dann diesen idiotischen Bocksprung?“
Robert schnappte nach Luft.
„Ich hatte eben Lust dazu! Wenn ich nur so eine willenlose Figur bin, wie ihr behauptet, hätte das immerhin den Vorteil, dass ich keine Verantwortung trage.“
Gabriele sagte: „Dein Karma holt dich trotzdem ein. Die Folgen deiner Taten werden dich ereilen.“
(Es klang wie ein endgültiger Urteilsspruch.)
Wie ein in die Enge getriebenes Tier prüfte sein Verstand alle Möglichkeiten, sich zu retten. Ging das denn, ein so hoffnungsvolles Leben zu verschwenden? All diese Pläne unerfüllt zu lassen? Sollten alle Anstrengungen der letzten dreißig Jahre vergeblich gewesen sein? Mal eben eine Saison lang in so einem Schiort arbeiten, um etwas Geld zu sparen. Na, von wegen!
Verstieß das nicht gegen jedes sinnvolle Konzept einer höheren Ordnung, wenn eine höhere Macht ihn willkürlich vernichten konnte, wie die Fliegen unten vor dem Fenster?
Er konnte einfach hier sitzen bleiben. Warten, was passierte. Bis Mittag nicht schlafen, nur wegen so einer lächerlichen Prophezeiung. Doch nicht wirklich, oder?
Er zahlte und ging hinaus an die frische Luft, wankte etwas auf dem Weg zur Bushaltestelle. Über ihm glitzerte der Sternenhimmel. Er schaute hoch und schrie: „Hier bin ich! Siehst du mich?“
Eine Gruppe junger Holländer schaute zu ihm herüber und lachte. Der Nachtbus zockelte mit beruhigendem Brummen heran. Robert rannte hin wie zu einem Fluchtfahrzeug. Er setzte sich ganz nach hinten und lehnte sich zurück. Du bist müde und überdreht. Schlaf dich erst mal aus!
(Eine Viertelstunde später brachte Glatteis auf einer Brücke den Bus ins Schleudern. Er prallte gegen die Leitplanke, durchschlug sie, stürzte zwanzig Meter in die Tiefe und explodierte im Bachbett. Die Feuerwehr konnte Stunden später nur mehr die verkohlten Leichen des Fahrers und der sechs Passagiere bergen.)