Gott und die Welt
Eine interessante Frage: Was passiert, wenn Gott, Herr über die Welt und die Menschen, die heilige Entität, der Allmächtige und Allwissende, wenn also dieser Gott Selbstmord begeht? Niemand weiß es.
Es war ein schöner, sonniger Sonntagmorgen. Ich saß alleine im Abteil des Zuges, der ruhig und zielstrebig in Richtung Harz rollte. Ich schaute aus dem Fenster hinaus, denn die Aussicht ist zu dieser Jahreszeit immer wunderschön. Die weiten, grünen Wiesen werden gelegentlich von Feldern unterbrochen, die mit Blumen gelb leuchten, und die sanften Hügelhänge erinnern an Bilder von fernen, schönen Orten, an denen man noch nie gewesen ist.
Ich drehte mich um, als ich die Tür aufgehen hörte. Ein älterer Mann in einem braunen Anzug schaute herein und fragte höflich: „Darf ich?“ - „Natürlich“, sagte ich. Der Fremde nahm Platz und richtete seinen Blick ebenfalls nach draußen, während ich ihn heimlich musterte. Meine erste Einschätzung war wohl falsch gewesen, er musste fünfundvierzig sein, vielleicht fünfzig. Er war glattrasiert, mit etwas unordentlicher Frisur, und der Anzug schien ebenfalls bessere Tage gesehen zu haben. Ein typischer Zugreisender, dachte ich. Bis auf die Langeweile, oder vielleicht sogar Trostlosigkeit, die von seiner Figur auszugehen schien. Was er wohl hat, dachte ich. Vielleicht – ich denke oft über so was nach – hat ihn seine Frau verlassen. Oder ein Todesfall? Plötzlich wandte er seinen Blick von der Szenerie ab, die draußen gemächlich vorbeizurollen schien, und sagte:
„Eine Zugfahrt ist auch ziemlich langweilig, finden Sie nicht?“
Ich wunderte mich über diese merkwürdige Feststellung, nickte aber trotzdem. Ich stelle ungern Fragen, die Leuten unangenehm sein könnten. „Aber man kann sich oft mit interessanten Menschen unterhalten.“, meinte ich. Das schien genau die richtige Antwort gewesen zu sein, denn ich sah plötzlich ein Aufflackern von Interesse.
„Worüber unterhalten Sie sich denn gerne?“, fragte er.
„Ach, wissen Sie...“ Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich rede über das, was die anderen sagen. Aber das sagt man den anderen natürlich nicht. „Über alles Mögliche. Über Könige und Kohlköpfe, über Gott und die Welt...“
Er lachte. Er lachte und lachte, er schien sein ganzes Leben in diese Minute zu stecken, in einem Bahnabteil in einem Zug nach Goslar, an einem Sonntagmorgen. Ich wartete beleidigt.
Endlich, nach Minuten, die wie Stunden angedauert hatten, schien er wieder zu sich zu kommen.
„Entschuldigen Sie“, sagte er, eine Träne wegwischend. „Aber Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Oh ja. Also hören Sie zu, ich erzähle Ihnen eine Geschichte!“
Und ich hörte zu, und er begann seine Geschichte.
„Gott war deprimiert. Der Grund war eigentlich der übliche: Jemand war unvernünftig. Nur dass die Frustration erheblich größer ist als sonst, wenn die Unvernunft von Milliarden von Menschen kommt. Es ist doch blöd, sagte Er sich immer wieder. Wie kann man erwarten, dass der Mensch, der bei all seiner Komplexität bloß Gottes Spucke auf dem heißen Pflaster der Zeit ist, göttliche Vernunft annimmt. Aber, verdammt noch mal, es war frustrierend.
Er war nicht der christliche Gott. Er war nicht allmächtig, denn auch ein Gott kann nicht mehr erschaffen, als es ihm seine Phantasie und seine Vorstellungskraft erlauben. Er könnte ein Olympionike sein, ein fühlender Gott, ein Gott, der mitdenkt, ein Gott, der den Menschen tatsächlich nach eigenem Vorbild erschaffen hat. Was? Oh ja, Er schuf die Welt tatsächlich. Und zwar aus genau demselben Grund, aus dem Kinder Puppen oder Soldaten zum Leben erwecken. Ihm war langweilig. Was nützt die Ewigkeit, wenn man jedes Problem im Bruchteil einer Sekunde lösen kann? Und so schuf er, wie gesagt, die Welt, und die Menschen auf ihr.“
„War es nicht seine moralische Pflicht, die Menschen perfekt zu machen?“, warf ich ein. Ich hatte mir oft genug Gedanken darüber gemacht. „Damit sie glücklich leben. Sonst ist auch dieser Gott nichts als ein Menschenquäler!“
„Was ist schon moralische Pflicht für ein ewiges, allmächtiges Wesen?“, erwiderte er mit einem ziemlich humorlosen Auflachen. Aber mein Einwand schien ihn ernster zu stimmen. „Und was Perfektion angeht: Er war selbst perfekt, und wusste nur allzu gut, dass Omnipotenz nicht glücklich macht. Allerdings schuf er auch einige Wesen, die ihre Tage glücklich und zufrieden verbrachten. Nun, die meiste Zeit jedenfalls. Sie aßen, und tranken, und waren völlig zufrieden. Allerdings guckten die unglücklichen Menschen auf sie herab, und nannten sie abfällig „Tiere“, und schlachteten und aßen sie. Glücklich wurden sie davon aber noch immer nicht. Denn Gott war sich sicher, dass simple Zufriedenheit einer so hohen Lebensform nicht zum Glück genügt. Es musste etwas höheres sein. Und genau deswegen war Er wieder verärgert.
Die Menschen beteten Ihn an. Und das deprimierte Ihn ebenfalls. Wenn man etwas gutes macht, will man Anerkennung. Was man am wenigsten braucht, sind Hinweise, dass die Arbeit nicht so toll ist, besonders wenn man genau weiß, dass es nicht stimmt. Und all die Bitten! Um Brot und Spiele, um Glück und Geld, um Erfolg und Liebe, um Männer und Frauen, um Leben und Tod. Er hat ihnen das Leben gegeben, und die Chance, es selbst zu gestalten. Statt dessen kamen sie an, wieder und wieder, und wollten gefüttert und gestreichelt werden.
Zuerst war Er voller Hoffnung. Die Menschheit kam rasch voran. Sie beschäftigten sich mit ihrer Umgebung, sie entwickelten sich. Zwar kamen immer wieder Kriege, aber Kinderkrankheiten sind immer unvermeidbar. Das erste mal horchte Er auf, als die großen Religionen kamen. Der Glaube von Millionen Menschen kann nicht übersehen werden. Er erschrak. Aber, so beruhigte Er sich, es ist wohl notwendig. Das wird schon vorbeigehen.
Die Menschheit ging weiter. Die Kunst kam, auch die Wissenschaft. Die Menschen verkehrten miteinander und entdeckten die Erde. Bald – so schnell! – reichten ihnen die anderen Menschen nicht mehr. Und als sie nach anderer Intelligenz suchten, da, dachte Er, müssen sie soweit sein.
Er ging auf die Erde. Natürlich als Mensch – Er wollte sichergehen, dass man ihn akzeptiert. Er kam und redete mit den Menschen, und sagte ihnen, was Sache ist. Er sagte ihnen, dass er sie erschaffen hatte, und er sagte auch, wozu. Aber... Sie kennen die Geschichte ja. Die einen glaubten an Ihn, die anderen lachten über Ihn, und die dritten wollten Ihm ab liebsten an die Gurgel. Er war deprimiert.“
„Moment, Moment. Sie sagten, ich kenne die Geschichte, aber ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie reden!“
„Nicht? Na ja, um so besser. Entschuldigen Sie mich, und auf Wiedersehen – hier muss ich raus.“
Er stand auf und bedachte mich mit einem kurzen, traurigen Blick. Dann schaute er aus dem Fenster. Ich drehte den Kopf und stellte fest, dass die Abteilwand fehlte, direkt neben mir leuchtete das Gras an der Böschung in einem frühsommerlichen Grün. Mit einem kurzen Nicken verabschiedete sich mein Weggefährte, dann sprang er.
Eine interessante Frage: Was passiert, wenn Gott, Herr über die Welt und die Menschen, die heilige Entität, der Allmächtige und Allwissende, wenn also dieser Gott Selbstmord begeht? Vielleicht gar nichts. Niemand weiß es.