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Giftmord
Als Herr Möhne das Haus verließ, um Konserven zu kaufen, ahnte er noch nicht, welch einscheidende Veränderungen dieser Dienstag auf sein Leben haben würde. Die unangenehme, den Winter ankündigende Kühle eines späten Herbstnachmittages empfing ihn auf der Straße und ließ ihn den Kragen seines schwarzen Trenchcoats höher ins Gesicht ziehen.
Er beeilte sich, das Geschäft zu erreichen, während der schneidende Wind das Laub zwischen seinen Schritten tanzen ließ. Als er gerade eine Baustelle passierte, kam ihm plötzlich der Gedanke, an diesem Tag fünf oder sechs Konserven einzukaufen, den in seiner Tasche liegenden Jutebeutel einfach ganz aufzufüllen, anstatt nur jeweils eine Dose Karotten und Erbsen zu erwerben. Wenn er das täte würde er den nächsten Dienstag nicht in diese unangenehme Kälte hinaus müssen. Allerdings würde sich dann auch ein hässliches Zeitloch zwischen dem Putz des Badezimmers und der Vorbereitung des Abendessens auftun, weshalb Herr Möhne diesen Gedanken schnell wieder verwarf. Stattdessen wäre er auch nächste Woche wieder froh über seinen wärmenden Trenchcoat, würde nach dem bescheidenen Einkauf zufrieden und hungrig sein Abendessen vorbereiten und sich seines Lebens freuen.
Jemand hinter ihm rief etwas.
Dann sprang ein Presslufthammer an, dessen schrilles Kreischen ihn zusammenfahren ließ. Der Fünf-Uhr-Bus entleerte sich mit Pendlern, als Herr Möhne gerade die Haltestelle passierte, und er hörte, während die Menschen sich aus dem Bus heraus an ihm vorbei drängten, abermals dieses Rufen.
„Bleiben Sie stehen!“, forderte eine Stimme in seinem Rücken.
Er zuckte unwillkürlich die Schultern, dachte sich, er werde schon nicht gemeint sein; doch als er gerade in die Blücherstraße abbiegen wollte, spürte er eine Berührung an seiner linken Schulter und drehte sich verwundert um.
Ein angestrengtes Keuchen schlug ihm entgegen und brachte eine mächtige Alkoholfahne mit sich, so dass Herr Möhne trotz aller höflichen Zurückhaltung, die er sein eigen nannte, das Gesicht verziehen und die Nase rümpfen musste.
„Sie werden gesucht!“, hechelte der Fremde, noch völlig außer Atem. Sein gerötetes rundes Gesicht trug die Spuren einer hässlichen Akne, und er war einen Kopf kleiner als Herr Möhne selbst, außerdem merklich schlechter gekleidet, wie dieser zugleich feststellte.
Zudem stimmte etwas nicht mit der Art, wie er ihn anblickte. Hätte er es nicht besser gewusst, so wäre er der Meinung gewesen, dass dieser Mann zwei Glasaugen habe.
„Sie werden mich verwechselt haben“, antwortete er dem seltsamen Unbekannten nach einem Augenblick der Überraschung. „Entschuldigen Sie mich jetzt bitte.“
Doch er kam nicht dazu, sich umzudrehen, denn keuchend stammelte der Fremde:
„Nein, ich meine Sie! Sie sind doch Walter Möhne?“
Selbiger verharrte regungslos. „Woher wissen Sie das?“
„Hören Sie mir einfach nur zu!“, befahl der mysteriöse Betrunkene.
„Sie werden gesucht. Wir haben nicht viel Zeit. Verstecken Sie sich, sonst ist es zu spät! Ich weiß nicht genau, wohin man Sie bringen wird, aber...“, er starrte ihm verschwörerisch in die Augen, und Herr Möhne gelang es, in seinem Atem Spuren von Exportbier und Kräuterschnaps zu entdecken. „...ich vermute, man betoniert Sie einfach ein, unter den Straßen, verstehen Sie?“
Der Fremde grinste und nickte ihm ermutigend zu, doch er verstand nicht.
„Woher kennen Sie meinen Namen? Hören Sie, sollten Sie ein Problem haben, dann...“
„Sie haben das Problem!“ stieß der Fremde aus. „Die werden Sie holen, und dann ist es zu Ende mit ihnen!“
Herr Möhne wusste sich nicht mehr zu helfen. Er griff in die Innentasche seines Trenchcoats und durchsuchte seine Brieftasche.
„Hier ist eine Mark fünfzig. Bitte belästigen Sie mich nicht weiter.“
Doch sein Gegenüber ignorierte die Münzen in der ausgestreckten Hand, stieß ein paar unschöne Verwünschungen aus, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand, nicht ohne einen paranoiden Rundumblick, hinter einer Straßenecke.
Ein kalter Schauer lief Walter Möhne über den Rücken. Er schüttelte hastig den Kopf, drehte sich um und beeilte sich, das Geschäft zu erreichen und schnellstmöglich nach Hause zu kommen. Sollte er Anzeige erstatten? Nein, dass wäre lächerlich. Sie würden ihn abholen, hatte der Fremde gesagt, und etwas von Leichen unter dem Asphalt gefaselt – konnte ein Mensch sich derart betrinken?
Ein süßlicher Geruch stieg ihm in die Nase. Für einen Moment schauderte er, dann wurde ihm bewusst, dass es sich nur um das vom Wind herangetragene Parfüm zweier junger Frauen auf der anderen Straßenseite handelte.
In Gedanken schalt er sich einen Narren, auch wenn er sich nicht erklären konnte, wie die seltsame Gestalt an seinen Namen gekommen war. Dieser Umstand bereitete ihm auch merklich größere Sorgen als wildes Phantasieren von Verschwörungen und Möhne- Verfolgern.
Er öffnete die Ladentür von „Schmidts feine Lebensmittel“ und trat herein. Die Wärme des Geschäfts tat ihm gut, und er eilte schnurstracks zum Regal mit den Konserven, füllte mit zitternden Händen – die Kälte, dachte er, die Kälte – seinen Beutel mit jeweils einmal eingekochten Karotten und grünen Erbsen, atmete tief durch und ging zur Klasse.
„Guten Tag“, sagte der dort sitzende Angestellte. An den Rändern seines kahlen Schädels hielt sich ein mönchischer Haarkranz, und er trug eine runde Nickelbrille auf der spitzen Nase, dazu einen adretten schwarzen Anzug.
„Guten Tag“, lächelte Herr Möhne, der eigentlich die redselige, rundliche Frau Schmidt erwartet hatte. „Sie sind neu hier, nicht wahr?“
„Ich arbeite hier nicht als Kassierer“, sprach der Mann an der Kasse bedächtig und spielte mit seinen Fingerspitzen wie ein James-Bond-Bösewicht.
„Sind Sie etwa der neue Eigentümer?“, fragte Herr Möhne erschrocken. Davon hatte doch Frau Schmidt gar nichts...
„Nein“, erwiderte der Mann im Anzug energisch, aber trotzdem das Wort in die Länge ziehend, als bereite ihm diese Antwort Befriedigung.
Dann verzogen sich seine dünnen Lippen zu einem Lächeln.
„Ich bin wegen Ihnen hier, Herr Möhne!“
Einen Moment lang trennte sie Schweigen; erwartungsvoll auf der einen, fassungslos auf der anderen Seite.
Unwillkürlich blickte Herr Möhne an sich herab, aber er konnte kein zufällig auf seinem Trenchcoat angebrachtes Namensschild entdecken.
„Wegen mir?“, brachte er schließlich heraus.
„Ganz genau. Sie sind doch Walter Möhne, nicht wahr?“
Plötzlich zuckten beide erschrocken zusammen, als eine hinter ihnen stehende Hausfrau sie unterbrach:
„Hey, geht´s da vorn´ nomma weiter? Ich hab nich´ den ganz´n Tag Zeit.“
Demonstrativ machte sie ein genervtes Gesicht und schwenkte einen Beutel Tomaten am ausgestreckten Arm hin und her.
„Ah, äh... einen Moment...“, stammelte der Mann an der Kasse, dem die Situation recht ungelegen zu sein schien. Dann schien er einen Entschluss gefasst zu haben. „Gehen Sie einfach.“
„Was?“
„Gehen Sie durch. Tomaten sind heute umsonst.“
„Wollen Se mich auf´s Kreuz legen oda was?“
„Nein, ehrlich. Heute ist Welttomatentag“, beteuerte der Mann im Anzug. „Gehen Sie jetzt bitte, ich habe zu arbeiten.“
Herr Möhne ließ den Mund offen.
Die Frau zuckte die Schultern und zwängte sich an ihm vorbei. An der Ladentür warf den beiden noch einen argwöhnischen Blick zu, murmelte ein „Schön´n Tag noch“, und verließ dann eilig das Geschäft.
Der Mann an der Kasse drehte sein bleiches Gesicht wieder Möhne zu und produzierte ein bemühtes Lächeln.
„Woher kennen Sie meinen Namen, und was haben Sie mit Frau Schmidt gemacht?“, dieser hatte zumindest einen Teil seiner Fassung wiedergewonnen und wollte diese unseligen Vorfälle – ein übler Scherz, vielleicht? – um jeden Preis aufklären.
„Mein Name?“, fragte der Mann im Anzug gedehnt und überbetont, als begreife er die Frage nicht.
„Mein Gott, was wollen Sie?“, brach es aus Herrn Möhne hervor.
Sein Gegenüber deutete ob dieser Frage abermals ein humorloses Lächeln an.
„Ich weiß, dass das schwer begreiflich für Sie sein wird,“ sagte er, als halte er einen Vortrag,
„Ich bin hier, um Sie zu löschen.“
Ein Schauer überlief Herrn Möhne. „Sie sind was?“, fragte er leise, und mit einem Male lauter werdend: „Sie sind ja verrückt!“
Er blickte sich zustimmungsheischend um, aber der Laden war leer. Der Mann an der Kasse saß immer noch da und schaute ihn an.
„Ich bitte Sie, bewahren Sie Ruhe“, sagte er bloß. „Ich will Ihnen alles erklären. Sehen Sie, ich bin eine Art Beamter, verstehen Sie.“
Mit Blick auf den Anzug und das bleiche, bebrillte Gesicht bestätigte Herr Möhne nickend.
„Und ich bin hier, um Sie zu entfernen.“
„Mich... zu entfernen?“ wiederholte Möhne ungläubig.
„Können Sie sich an Frau Schmidt erinnern?“, fragte der merkwürdige Beamte und faltete die Hände.
„Aber selbstverständlich. Ich kaufe hier jeden Dienstag ein.“
„Nun, dann wird es Ihnen nicht schwer fallen, sie zu beschreiben?“
„Natürlich nicht, sie ist etwas rundlicher und eine recht redselige Person.“
„Und... welche Haarfarbe hat sie?“
„Was soll das? Sie... ähm... nun ja...“
„Ich höre?“
„Ich... erinnere mich nicht“, musste Herr Möhne mit gerunzelter Stirn zugeben. „Was hat das zu bedeuten?“
Der Mann an der Kasse seufzte zufrieden.
„Dass Sie eine literarische Figur sind, das hat es zu bedeuten. Frau Schmidt wurde auf Seite zwei als dick und geschwätzig bezeichnet. Da aber bisher nichts über Frau Schmidts Haarfarbe geschrieben wurde, können Sie sich auch nicht an diese erinnern. Sagen Sie, welche Farbe hat Ihre Tapete eigentlich?“
„Ich... ich weiß es nicht“, musste Möhne zugeben und blickte den Mann im Anzug hilfesuchend an. Dieser rückte seine Brille ein wenig weiter Richtung Nasenspitze und referierte:
„Sehen Sie, wenn immer sich ein Autor hinsetzt und etwas schreibt, erschafft er literarische Figuren wie Sie eine sind. Aber nicht immer schreibt er seine Texte zu Ende, sondern verwirft Sie, da Sie ihm bereits nach ein paar Zeilen oder Seiten nicht mehr gefallen, er das Interesse verloren hat. Zurück bleiben seine halbfertigen Charaktere. Verständlich?
Der Autor mag den Text dann in den Müll schmeißen oder seine kleine Nichte Papierflieger daraus falten, völlig egal, es existieren trotzdem noch diese angefangenen Protagonisten. Und ohne meine Behörde – können Sie sich ausmalen, was das für ein Zustand wäre! – würden diese Figuren in ihrer unfertigen Welt herumgeistern, ohne weitere Handlung, ohne Sinn. Nicht auszudenken! Und deshalb ist es meine Aufgabe, Sie zu löschen – können Sie mir folgen?“
„Ich... ich bin eine Figur?“
„Ja!“, stieß der Beamte erleichtert aus. „Richtig. Und eine langweilige dazu!“
Herr Möhne machte ein betroffenes Gesicht.
„Schauen Sie sich doch mal an. Trenchcoat, Dienstagnachmittag, Möhrchen in Dosen. Nichts Außergewöhnliches, kein Spannungsbogen, nichts! Kein Wunder, dass ich hier bin. Ach, ich habe schon viel interessantere Fälle als den Ihren gehabt, mit Verlaub. Einen Richter, der Herrn K. wegen Sodomie anklagte, einen Werwolf, der seine feminine Seite entdeckte – Ha! So kannten Sie Lovecraft noch nicht, was? – suizidgefährdete Ich-Erzähler, Auftragsmörder, homosexuelle Frauenärzte, alleinerziehende Mutter, die eines Tages entdecken, dass...“
„Ehrlich gesagt, kenne ich diesen Lovecraft überhaupt nicht.“
Der Beamte machte eine abfällige Handbewegung. „Nicht so wichtig. Wollen wir anfangen?“
„Sie... bringen mich zu einer Baustelle, oder nicht?“, fragte Möhne resigniert.
„Hä? Ach so, hm, Schwachsinn, keine Ahnung, was der Autor damit sagen wollte. So, wenn ich Sie bitten dürfte.“
Mit diesen Worten stand der Mann im Anzug auf und holte aus seiner Tasche einen beinahe backsteingroßen Gegenstand hervor, der an einen gigantischen Radiergummi erinnerte.
Im Angesicht des Todes raffte sich Herr Möhne noch einmal auf.
„Aber was ist mit den anderen?“, fragte er, „Warum nehmen Sie nicht zuerst die? Warum gerade ich?“
„Gute Frage. Nun, Ihr Pech ist es, Protagonist zu sein. Die anderen sind nur Statisten, bestehend aus einem Nebensatz oder zwei, und eigentlich nur existent, weil Sie sie jetzt grade wieder erwähnen – komplizierte Sache.
Wenn Sie mir bitte Ihren linken Arm reichen könnten?“
Sein Leben war zusammengebrochen. Karotten, Erbsen, kalte Herbstnachmittage, all das zählte nicht mehr. Kraftlos reichte Walter Möhne dem Beamten seinen Arm, den dieser sogleich mit geübten Griff festhielt und mit der anderen Hand anfing, Ihn auszuradieren.
Es kitzelte leicht, aber da er sich über den Ernst der Stunde bewusst war, unterdrückte Herr Möhne ein Kichern. Wenig später war sein linker Arm verschwunden, dann folgte der rechte, die Beine, der Oberkörper. Peinliches Erröten löste die Löschung des Unterleibs aus. Zuletzt nahm der Mann im Anzug den Kopf.
„Noch ein letztes Wort?“, fragte er feierlich.
Herr Möhne überlegte einen Moment lang. Aus den Augenwinkeln konnte er sehen, wie sich die Ladentür öffnete, ein älterer Herr eintrat, entgeistert zu ihnen hinüberstarrte und hastig wieder verschwand.
„Gibt es ein Leben nach dem Tod?“, fragte er dann.
„Woher soll ich das denn wissen?“, der Mann im Anzug zuckte die Schultern, „ich bin Beamter und kein Religionsgründer. Leben Sie wohl, und vielen Dank für Ihre Kooperation.“
Daraufhin rieb das Radiergummi über Herr Möhnes Gesicht, über seinen Hinterkopf, über Nacken und Kehle, bis er gänzlich verschwunden war.
Der Beamte nickte zufrieden, steckte den Radiergummi ein, wischte sich dessen Fussel vom Anzug und öffnete nach einem verstohlenen Seitenblick Frau Schmidts Registrierkasse.
„Mist“, fluchte er, nachdem diese mit einem hohen „Kling“ aufgesprungen war. „D-Mark. Was soll das denn?“
Damit rückte er seine Krawatte zurecht, schloss die Kasse wieder und verließ das Geschäft.
Herr Möhne schaute ihm lange nach, bevor er realisierte, dass es ihn noch gab.
„Wie seltsam“, dachte er, schaute an sich herab und sah nichts, genauer: sah durch sich hindurch auf den dunkelgrauen PVC-Fußboden.
Dann beobachtete er ein junges, gutaussehendes Mädchen, welches den Laden betrat, mit zwei Flaschen Milch zur Kasse ging und niemanden entdecken konnte.
„Hallo?“, rief sie zaghaft, während Möhne etwas verschämt in ihren Ausschnitt gaffte. Nach einer Weile ließ sie die Milch an der Kasse stehen und verließ „Schmidts feine Lebensmittel“ wieder.
Herr Möhne schlenderte nun ein paar Schritte zum Obststand. „Pah, Statisten“, dachte er verächtlich, nahm sich einen Apfel und biss hinein, woraufhin das abgebissene Stück zu Boden fiel.
„Meine Güte, was für ein Scheiß“, rutscht es mir heraus und ich schüttle den Kopf.
Ich lege die Lektüre beiseite, stehe auf und greife nach meiner Kaffeetasse. Am Fenster stehend, beobachte ich die Bauarbeiter, die draußen vor dem Haus eine neue Leitung verlegen oder so etwas. Der Kaffee ist nur noch lauwarm und schmeckt etwas bitterer als sonst. „Schatz, ist das ´ne neue Sorte?“, rufe ich in die Wohnung hinein, erhalte aber keine Antwort.
Was für eine unlogische Geschichte. Und schon allein der unpassende Titel. Warum überhaupt „Giftmord“?