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Gier Version 1.0

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30.05.2002
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Gier Version 1.0

Gier

Sie war gierig bis zur Unerträglichkeit. Im Laufe ihres fast vierzigjährigen Lebens war sie - ihrer Meinung nach - immer wieder zu kurz gekommen. Nun wollte sie auch was abhaben, vom großen gesellschaftlichen Kuchen. Sie wollte haben, war aber nur selten bereit, auch dementsprechend, im gleichen Maße, zu geben.

So wurde sie immer wieder enttäuscht, ärgerte sich, war aggressiv, sarkastisch (welch widerliche Charaktereigenschaft!), lehnte sich auf gegen Gott und die Welt und wollte immerzu nur haben, haben, haben!!! Warum eigentlich? Mit welchem Recht?!?

Wenn sie das Recht nicht auf ihrer Seite wusste, dann versuchte sie sehr geschickt, die DInge zu verdrehen, die Tatsachen anders darzustellen, als sie in Wirklichkeit waren.

Von ihrem ersten Mann, einem Franzosen, hatte sie sich scheiden lassen, aber sie hasste ihn noch immer.

Sie hasste auch die Politikerinnen und die Politiker, die ihrer Meinung nach grundsätzlich unfähig waren, die falschen Entscheidungen trafen, ansonsten aber vor allem sich an ihren reichlichen Diäten überfraßen. Die aktuelle Rechtsprechung - einfach lächerlich in ihren Augen! Viel zu mild! Da musst man mal mit harter Hand durchgreifen, das Jugendstrafrecht revidieren, das Alter der Strafmündigkeit drastisch herabsetzen. Dann würden die das vielleicht endlich mal lernen. Todesstrafe - klar war sie für die Todesstrafe.

Religionen, Weltanschauungen: der Buddhismus erschien ihr noch recht akzeptabel, aber ansonsten lehnte sie alles ab, hasste sie alles, verachtete alles. Vor allem diese Kopftuchträgerinnen. Die waren ihr ein Dorn im Auge.

So mancher Zeitgenosse, bloß, weil er einen bestimmten Namen trug wie die Firma Bauermann beispielsweise, wurde schnell, vorschnell der Zugehörigkeit zu bestimmten umstrittenen, gefährlichen Sekten verdächtigt, ohne zu prüfen, ob es sich vielleicht nur um bloße Namensduplizität handelte. Wieviele Bauermanns gab es alleine in Baden-Württemberg!...

Überall und in allem sah sie nur das Böse lauern, den Feind, hinter jedem Busch einen Räuber.

Und alle wollten ihr was! Im Straßenverkehr: wie oft geriet sie dort in brenzlige, teilweise sogar lebensgefährliche Situationen, tausendmal öfter als Menschen wie du und ich. Merkwürdig, sehr merkwürdig. Aber ihr selbst fiel nichts auf. Das war eben so. Punkt.

Und dann die Vorgesetzten. Sie arbeitete in dieser kleinen Holzfirma im Westerwald, schon seit einigen Jahren. Diese Vorgesetzten, die nie dazu bereit waren, sich auf ihre so großartigen, nie dagewesenen Ideen einzulassen. Die sie einfach nicht gebührend würdigten. Das empfand sie immer als Herabsetzung ihrer Person.

Sie reagierte auf das, was sie als Herabsetzung ihrer Person empfand, extrem aggressiv, verteufelte die anderen insgeheim und manchmal auch lautstark gegenüber Kolleginnen. Sie hatte im Grunde genommen vor nichts und niemand Respekt, hatte das auch nie so richtig gelernt in ihrer Familie und auch später nicht.

Sie war intolerant bis zur zwischenmenschlichen Schmerzgrenze. Ihr Vater hatte es ihr jahrzehntelang so vorgelebt. Dieses exzessiv kleinkarierte Denken und Sichverhalten.

Die Mutter. Mit der hatte sie es auch nicht leicht gehabt. Immerzu hatte sie die jüngere Tochter ihr vorgezogen.

Da wuchs die Eifersucht in ihr und konnte wunderbar gedeihen, die Eifersucht und der Neid, dieser durch nichts und niemand zu zähmende soziale Neid.

Dieser unsägliche Neid auf alle, die mehr hatten als sie und ihr Mann. Ja, sie war wieder verheiratet, hatte nach dieser großen Enttäuschung mit ihrem ersten Mann doch wieder einen Menschen gefunden, mit dem sie auf Dauer zusammen leben wollte. Und er mit ihr.

Er war jünger, einige Jahre jünger, war sehr geduldig, hatte diese Lammsgeduld, all ihre aggressiven Ausbrüche auszuhalten oder sie von noch Schlimmerem zurückzuhalten. Wie oft schon hatte sie angedroht, im halben Ernst, eine bestimmte Person, die ihr einfach nicht passte, umzubringen.

Sie wurde manchmal, für sie völlig unerwartet und überraschend, beschimpft von wildfremden Leuten, aber sie konnte derartigen Angriffen nur mit exzessiver Aggressivität begegnen.

Die Anderen, das waren immer "die Bösen"! O du böse Welt.

Ihr Leben war ein wüstes Chaos von cholerischer Getriebenheit, Ungeduld, mimosenhafter Empfindlichkeit, ätzender Spottsucht, stiller Verzweiflung, geheimer Hoffnung darauf, dass sich irgendetwas irgendwann entscheidend ändern würde für sie, ohne bis ins kleinste zu begreifen, wie sehr sie für derartig tiefgreifende Veränderungen doch selbst verantwortlich war.

Dann die vielen Krankheiten. Schon früh war ihr das Leben im wahrsten Sinne des Wortes an die Nieren gegangen. Später kamen ander Probleme dazu: das mit dem Kind, das sie dann doch nicht gewollt hatte, dass sie einfach nicht wollen konnte, von dem sie aber ihren Eltern auch nicht hatte erzählen wollen. Vielleicht hätte es da ja noch Auswege gegeben. Aber nun war es passiert, nun ließ es sich nicht mehr rückgängig machen.

Sie hatte sich "Ersatz" gesucht und gefunden: Katzen. Sie liebte Tiere über alles: Hunde, Katzen, Kühe, Schafe, Pferde... Ihre Verwandtschaft kam aus dem Ländlichen, dort hatte sie als Kind Umgang mit vielen Tieren gehabt. Tiere waren die "besseren Menschen". Was alles sicherlich nicht leichter machte. Eher im Gegenteil.

Dann durch die schwere Arbeit. Im Buchhandel mussten sie oft diese schweren Kartons tragen, das hatte ihr Rücken auf Dauer nicht verkraftet. Einige Wirbel im oberen Halsbereich waren stark verschlissen.

Das verbitterte sie noch mehr. Das machte sie noch viel bitterer, als sie es sowieso schon war. Diese Verbitterung war auch ihrem Gesichtsausdruck zu entnehmen, er hatte immer Züge von Gehetztheit und Aggressivität. Immerzu war sie kampfbereit. Die meisten zwischenmenschlichen Begegnungen waren für sie von vorneherein Situationen, in denen sie sich herausgefordert fühlte. Da hatte sie nun für fremde Leute so viel geschuftet, die anderen hatten das Geld, und sie selbst hatte den kaputten Rücken.

Da kamen dann diese Deutschrussen ins Land, meist sogar illegal, lebten verborgen in den großen Städten, kauften sich für einige Euro illegal gefälschte oder gestohlene Chipkarten von irgendeiner Krankenversicherung, gingen damit zu bestimmten, einschlägig bekannten Ärzten und ließen sich beispielsweise rundum die Zähne sanieren. Wenn sie Glück hatten, wurden diese Kosten dann noch von der Sozialhilfe übernommen. Sozialleistungen, die Normalbürgerinnen und Normalbürgern wie ihr überhaupt nicht gewährt wurden.

Eine Ungerechtigkeit sondermaßen, ein Schmarotzertum, das ihr das Blut zu Eis gerinnen ließ vor lauter unbändiger Wut. Natürlich hatte dies alles einen bemerkenswerten Kern von Wahrheit, aber sie konnte sich so da hineinsteigen, dass es ihr unentwegt die Freude am Leben vergällte.

Die Justiz. Wenn sie das Sagen hätte, an der richtigen, der entscheidenden Stelle, dann würde sie vieles ganz, ganz anders machen. Wenn sie das Sagen hätte...

Weihnachten 1987 nahm sie sich das Leben. Niemand konnte es so recht verstehen, und alle konnten es wiederum doch verstehen. Sogar ihr Mann.

 

Hallo Murmeltier.

Also, das liest sich wie eine Hausarbeit mit der Aufgabe: "Fassen sie den Charakter dieser Person zusammen".
Weitaus interessanter, und in einer Geschichte üblicher, wäre es gewesen, die Charaktereigenschaften der Protagonistin durch Handlung und Dialoge hervortreten zu lassen. Die fehlen hier leider völlig. Auf diese Weise kann nämlich der Leser selbst zu einer Schlussfolgerung kommen.
Beim Lesen dieser Aufzählung von Merkmalen und Ansichten fühlte ich mich als Leser "belehrt", besonders wenn dann noch Ausdrücke wie "sozialer Neid" verwendet werden. Stell den sozialen Neid dar, aber um Himmels willen schreib nicht einfach nur "sie war neidisch".

Noch dazu hat der Text durchgehend eine klar negative Einstellung gegenüber der Protagonistin, was sich in überdeutlichen Formulierungen wie "O du böse Welt" oder "welch widerliche Charaktereigenschaft" zeigt. Manch ein Leser möchte sich aber selbst eine Meinung bilden, ohne "bevormundet" zu werden. Deshalb wäre eine "wertfreie" Darstellung der Charaktereigenschaften besser gewesen, beziehungsweise die Erzählung aus der Perspektive der Protagonistin selbst.
Die Aufzählung ist dann auch einfach irgendwann zuende, und die Protagonistin bringt sich um.
Soll der Leser jetzt Mitleid haben, oder sich freuen, oder erschüttert sein? Da man die Protagonistin durch den Text leider nicht "persönlich" kennengelernt hat, sondern nur eine Art Bericht über Sie gelesen hat, hat der Text keinen solchen Effekt, auf mich jedenfalls nicht.

Und mehrere Ausrufezeichen kommen niemals gut, gleiches gilt für Ausrufezeichen-Fragezeichen-Combos (!?!?!).
Versuche, die Sätze so zu formulieren, dass dem Leser auch ohne mehrere Ausrufezeichen klar wird, wie der Satz in dem Kontext betont wird.

Über diese Person könnte man einen interessanten Text schreiben, aber "Gier Version 1.0" ist es leider nicht.
Ich warte auf "Gier Version 1.1" oder gleich "Gier Version 2.0".

Gruß

Ben

 

Hallo Ben,

danke für diese konstruktive und sehr ausführliche Textkritik. Ich werde es mir zu Herzen nehmen, den Text unter dieser Prämisse noch einmal intensiv überarbeiten und dann später mal eine (hoffentlich!) bessere Version ins Netz stellen.

Vielleicht ist es dann aber auch erst "Gier Version 3.0"... oder sogar "Gier Version 7.0".

Ich wollte jetzt aber einfach mal anfangen, ins kalte Wasser springen, nachdem ich schon einige Monate lang hier Mitglied bin und bislang nur diesen kleinen, nichtssagenden Text über das Bali-Attentat veröffentlich hatte.

Also: Man liest sich. Danke Ben!

Vorweihnachtliche Grüße vom Murmeltier

 

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