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Gewitterfliegen
Vom Brand hatte ich in den Nachrichten gelesen. Natürlich hat es etwas Schockierendes, wenn sich ein Unglück vor der eigenen Haustür zuträgt. Plötzlich hat man das Gefühl, im Mittelpunkt eines größeren Zusammenhanges zu stehen. Genau genommen war es nicht meine Haustür, sondern die Haustür meiner Eltern, meines alten Zuhauses – immerhin stand mein Name an der Klingel. Als ich am Berliner Südkreuz aus dem Zug stieg, um die letzten Stationen mit der S-Bahn zu fahren, bemerkte ich die Gewitterfliegen, die zwischen den Haaren auf meinen Armen und Beinen krochen. Doch das Gewitter, das den Brand hätte löschen können, ließ seit Wochen auf sich warten.
Als ich die Haustür aufschloss, war zunächst alles wie früher. Meine Mutter machte mir eine Apfelsaftschorle mit zu viel Sprudel. Mein Vater faltete seine Zeitung zusammen und dann noch einmal und noch einmal und noch einmal und legte sie auf den lackierten Küchentisch und gab mir einen Kuss.
„Der Grunewald brennt“, sagte ich, als wäre das eine geeignete Gesprächseröffnung.
Meine Eltern bestätigten mir diese Tatsache.
„Furchtbar“, stellte ich fest.
Sie wiederholten das Wort wie Schauspieler in einer Komödie.
„Ich wollte bei euch sein, wenn es passiert“, sagte ich.
„Es ist in der Zeitung“, erwiderte mein Vater. „Plötzlich steht man im Mittelpunkt dieser Sache.“
„Der Klimakrise“, korrigierte ich, als hätte mein Vater das auszusprechen nicht über die Lippen gebracht.
„Willst du es sehen?“, fragte meine Mutter.
„Ich dachte“, sagte ich. „Aber jetzt, wo ich hier bin … weiß nicht.“
Mein Vater deutete auf seinen Unterarm, sah mich an und runzelte die Stirn.
„Ach, die stören mich nicht“, sagte ich. „Nur ein paar Gewitterfliegen.“
Als meine Eltern außer Haus waren, ich allein in unserer großen Küche saß, tat ich nichts, außer in den gut bewässerten Garten zu starren, den meine Mutter mit grünem Daumen pflegte. Alles wie immer: Die Wicken, der Oleander, die Rosen, der Apfelbaum, die Linde, die Kastanie, der Rhododendron, die Hortensien. Ich bemerkte nicht, wie sich etwas Kleines, Flinkes meiner Hand näherte. Erst als es auf ihr krabbelte, entdeckte ich das Insekt: Eine Kakerlake von der Größe einer Schreckschusspatrone. Kurzentschlossen schlug ich mit der flachen Hand drauf und tatsächlich zerplatzte der kleine Körper augenblicklich und mit einem Geräusch, das ungefähr so klingt: Krrk. Verwundert stellte ich fest, dass es sich um eine mir unbekannte, wenig widerständige Art handeln musste. Was mich am meisten ekelte, war nicht der Umstand, dass ihre Innereien an meiner Hand klebten, sondern, dass diese Szene sich hier im Haus meiner Eltern zutrug. Das war nicht wie früher. Kakerlaken hatte es hier nie gegeben, das wusste ich. Um den Schrecken zu verarbeiten, toastete ich mir ein Brot, wobei ich auf kleinste Bewegungen achtete. Doch das Brot blieb Brot: braun, ruhig, beständig. Und selbstverständlich wusch ich mir vor der Zubereitung gründlich die Hände.
Wenig später konfrontierte ich meine Eltern mit dem Vorfall.
„Die kommen aus dem Garten“, sagte meine Mutter.
„Aber die gab’s doch früher nicht.“
„Ja, früher“, meinte mein Vater. „Aber die Kakerlaken sind nicht das größte Problem.“
In den folgenden Stunden beobachtete ich, wie meine Eltern mit je einer Fliegenklatsche goldglänzende Fliegen erschlugen. Dass die Fliegen so zahlreich waren, musste ich übersehen haben. Ihre schmierigen Überreste wischten sie mit Taschentüchern von den Fensterscheiben. Wie Tennisspieler hielten sie sich jederzeit zum Schlag bereit. Klar schloss ich mich ihrer Sache an. Wo ich konnte, erschlug ich Fliegen – manchmal mehrere auf einen Streich – gelegentlich kam mir auch eine Kakerlake unter die Finger. Die Sache mit den Gewitterfliegen hatte sich ebenso wenig gegeben. Zunehmend ekelte ich mich auch vor ihnen. Wo ich sie bemerkte, zerquetschte ich sie auf der Haut oder streifte sie mir ganz einfach von Armen und Beinen.
Wie meine Eltern das Problem mit den Kakerlaken und Fliegen tolerieren konnten, war mir ein Rätsel, wahrscheinlich hatten sie sich bloß an diesen Zustand gewöhnt. Ihre Maßstäbe hatten sich verändert und das scheinbar auch über das Insektenproblem hinaus. Anderen mag es wie eine Kleinigkeit erscheinen, sie mögen sich fragen: was will er mit diesem Fleckchen Grün? Doch eben das war der springende Punkt. Der Rasen in unserem Vorgarten war – und das sah ich erst, als ich selbst darauf stand – völlig vertrocknet, braun und überhaupt unansehnlich. Ich rieb mir die Gewitterfliegen von den Armen, ohne mich zu vergewissern, ob überhaupt welche da waren. Als erwartete ich das Gewitter. Als läge da nicht umsonst eine Spannung in der Luft, die dazu führte, dass der ganze schwitzende Körper juckte und nach Erlösung schrie.
„Willst du nicht zum Abendessen kommen?“, fragte meine Mutter. Ich hatte mich in mein altes Zimmer zurückgezogen in der Hoffnung, Abstand von den unliebsamen Neuerungen zu gewinnen, die mich ereilt hatten. Noch war es zu früh, abzureisen.
„Vielleicht später“, sagte ich nur. Die Schritte entfernten sich von der Tür.
Bereits schaute ich nach einer Zugverbindung, die mich noch heute in mein neues Zuhause bringen konnte. Das war in Halle und hundertachtzig Kilometer entfernt und sicher gab es auch dort Kakerlaken, Fliegenplagen und Dürre. Halle aber war nicht meine Heimat und vielleicht schmerzte der Gedanke deshalb weniger. Doch wegen einer Zugstörung fiel die letzte Verbindung aus und außerdem kam ich mir einigermaßen lächerlich vor, so buchstäblich vor der Realität fliehen zu wollen.
Als ich endlich zur Ruhe gekommen war, bemerkte ich, dass zwei Fliegen im Zimmer kreisten. Wie konnte das sein? Die Tür war doch verschlossen. Wie waren sie also ins Zimmer gelangt? Oder hatten sie gar nicht erst hineinfinden müssen, waren hier womöglich erst geschlüpft oder auf andere Weise zum Leben erwacht? Ich hätte sie jagen, mit einer Zeitung meines Vaters erschlagen oder in einem Glas nach draußen geleiten können. Doch die Initiative fehlte. Unentschlossen beobachtete ich ihr Kreisen. Ein kaum vernehmbares sssss, das so in der Luft hing. Ich ließ sie fliegen.
In der Nacht wurde ich geweckt, ich spürte, wie sich etwas auf mir bewegte. Als ich das Licht einschaltete und die Decke lüftete, sah ich, wie sich darunter einige der fremdartigen Kakerlaken tummelten, wie sie auf meinen Pyjama krabbelten und über meinen Körper. Ich hätte schreien müssen, sie zumindest abschütteln oder zerquetschen, doch ich ließ sie gewähren. Sogar auf die Hand nahm ich eine von ihnen und besah sie mir genau. Bald verstand ich, dass sie es auf die Gewitterfliegen auf meinen Armen und Beinen abgesehen hatten. Ob sie sie fraßen, fiel mir schwer zu beurteilen. Jedenfalls gesellten sie sich zu ihnen. Auf einmal fühlte ich mich selbst wie eine Gewitterfliege, die in einem wohlwollenden, ja geradezu symbiotischen Verhältnis zu jenen Kakerlaken stand. Mit diesem versöhnlichen Gedanken endlich fiel ich in tiefen, erholsamen Schlaf.
Am nächsten Morgen fuhr ich noch vor dem Frühstück mit dem Auto meiner Eltern, einem ausgedienten VW Phaeton, in Richtung Grunewald. Nahe der Avus stellte ich den Wagen ab und gelangte über Betriebsgelände, Parkplätze und Absperrband in den Wald. Der Geruch ähnelte dem von Lagerfeuer und unweigerlich musste ich an Stockbrot und einen mit Federschmuck und Ledertracht verkleideten Mann aus einem beliebigen Freizeitpark denken. In der Ferne sah ich Rauchschwaden aufsteigen. Hier blieb ich stehen und schaute dem Spektakel zu. Dabei verspürte ich eine Mischung aus Trauer, Neugier und dem unbestimmten Gefühl, im Mittelpunkt eines größeren Zusammenhanges zu stehen. Etwas krabbelte an meinen Armen und Beinen. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass sie schwarz waren vor Gewitterfliegen. Was, wenn sie bloß immer mehr werden würden, das Gewitter aber nur ein leeres Versprechen war? In ebendiesem Moment brach der Himmel auf, es donnerte, blitzte, und in der Ferne brannte der Grunewald. Doch der Regen, der das Feuer hätte löschen können, blieb aus.