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- 26.10.2001
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Gestohlene Jugend/Die "Jugend eines Vaters"
Gestohlene Jugend
Endlich ging es los.
Aufrecht stand er an der Brückennock, eine Hand am Brückengeländer, die andere fest um das Nachtglas geschlossen und schaute, ganz der harte Seemann, in die Ferne jenseits der im Morgendunst verschwimmenden Hafenausfahrt.
Die letzten Klänge von „ Muß I denn, muß I denn, zum Städtele hinaus...“ verklangen mal lauter, mal leiser, durch Windböen zerrissen, hinter ihm in der Ferne... “Erstaunlich,“ dachte er, „daß sie das sogar für so Äppelkähne wie für uns spielen, ich dachte immer, sowas gibt’s nur noch für die U-Boothelden, oder Zerstörer...“
Langsam blieben die grauen Schuppen der Marinepier Kiel hinter Ihnen zurück und die wenigen schemenhaften Gestalten mit flatternden weißen Tüchern an winkenden Armen, verblaßten zu verwaschenen Flecken vor einer schwarzgrauen, trostlosen Kulisse.
Die kleine Flottille, bestehend aus drei Minensuchzerstörern, einem Versorger und zwei Frachtern, nahm Fahrt auf, und begann sich, nun auf der offenen See angekommen, zu formieren.
Ihr Schiff, der Minensuchzerstörer SZ 71 übernahm die Führung, dann kam der Versorger und die beiden Frachter, welche von den beiden anderen Minensuchzerstörern SZ 29, und SZ 89 flankiert wurden.
Das naßkalte, diesige Morgengrauen lichtete sich langsam und von Osten her breitete sich ein unfreundlich kaltgraues, weißliches Licht über den wolkenzerzausten Himmel aus.
Herbstwetter.....
Möwen umsegelten lautlos das Schiff und eine von ihnen hielt spielerisch Höhe und Geschwindigkeit mit ihnen, ohne auch nur eine Feder zu rühren... Nur manchmal schaute sie ihn mit ihrem unergründlichen Vogelblick an und er bewunderte jedesmal aufs Neue die Reinheit Ihrer Schönheit und die Anmut dieser Vögel....“Einsam wäre es auf See,“ dachte er, „ohne diese hungrigen kleinen Kerle“.....
Der 1O trat neben ihn auf die Nock, und legte seine Hand auf seine rechte Schulter.
„Geh nach unten Charlie. Kaffee trinken. Ich löse Dich ab. In einer halben Stunde laufen wir durch den Großen Belt, dann sind wir aus unserer Luftüberwachung raus, und der Tommy ist leider überall. Nachher brauch ich Dich hier oben wenn´s heiß wird, also zieh ab.“
Charlie, eigentlich Karl-Heinz, aber der Verwechslung wegen der zwei anderen Namensvettern an Bord Charlie genannt, grinste, grüßte mit der rechten Hand am Mützenschirm, sagte: „Melde mich von Brücke 1O“ und wandte sich dem Niedergang zu.
Er ging breitbeinig den Niedergang hinab, wandte sich dann nach achtern und warf, bevor er das Schott ins Schiffsinnere öffnete, nochmals einen prüfenden Blick auf die kabbelige, grüngraue See und die graublauen düsteren Wolken, die über ihren Köpfen dahinjagten. „Scheißwetter“, dachte er sich noch,... “Ideal für Fliegerangriffe“, ...dann schloß er das schwere Schott hinter sich und schüttelte sich das Spritzwasser von der Jacke.
In der Messe angekommen, wurde er vom Steward mit einem freundlichen „Guten Morgen, 3WO. Kaffee?, Rührei?“, begrüßt.
Er setzte sich in eine Ecke, und keilte sich zwischen Tisch und Wand fest, denn der Seegang war hier unten komischerweise immer deutlicher als an Deck zu spüren. „Jo Rudi, beides bitte. Und nicht zu knapp.“
Charlie begann mit großem Appetit zu essen, und war gerade bei seiner Nachtischzigarette angelangt, als der Befehl: „Alle Mann!“ ertönte, gefolgt von der Nachricht: „Alle Offiziere in die Messe!“
Als der „Alte“, Kapitänleutnant Bessel, die Messe betrat, sprangen alle auf, um ihn mit einem kernigen „Guten Morgen, Herr Kaleu!“ zu begrüßen. Bessel war etwa mitte Vierzig und früher Steuermann auf einem Heringslogger gewesen. Sein Können stand für alle außer Frage und er war ein wenn auch wortkarger, so doch gerechter und menschlicher Vorgesetzter.
Er winkte jedoch nur müde ab: „Moin. Ob der Morgen noch gut wird, werden wir sehen... Setzen sie sich, ich gebe ihnen nun unseren Operationsbefehl bekannt. Wir begleiten diese Eimer bis nach Tromsö, bunkern Kohle und laufen dann zurück ins Skagerrak, um Minen zu suchen. Dafür sind sie ja schließlich ausgebildet worden.“, setzte er mit einem matten Grinsen hinzu. „Da können sie mal so richtig zeigen, was in ihnen steckt. Bei dem Wetter ist das nämlich kein Kinderspiel, und ich verspreche ihnen, daß es bis dahin noch besser wird,... zumindest sagt das mein Barometer. Bis dahin erwarte ich erhöhte Aufmerksamkeit bezüglich allem, was fliegt. Ich habe lieber 10 Fehlalarme wegen einer Möwe, als daß wir einen Aufklärer nicht, oder zu spät sehen. Ich glaube sowieso, daß der Tommy schon längst weiß, daß und wohin wir unterwegs sind, weiß der Geier warum... Unsere Aufklärung meldet das Skagerrak feindfrei, aber man kann nie wissen; also aufgepaßt! Und nun zurück auf die Stationen, Männer.“
Sie hatten mittlerweile den Großen Belt weit achteraus gelassen, und liefen mit voller Kraft in Richtung Skagerrak. Alle halben Stunden zackte der kleine Konvoi, um einem eventuellen Angreifer die Ortung oder einen Angriff zu erschweren und das gegnerische Herausfinden des tatsächlichen Fahrzieles zu erschweren.
Zweimal hatten sie Treibminen gesichtet, waren mit der Fahrt heruntergegangen, und hatten sie mit Fla-MGs solange unter Feuer genommen, bis sich an der Stelle, wo sie vorher den Seeigel-ähnlichen Ball der Mine ausgemacht hatten, nur noch eine kochende Wassersäule stand, welche mit dumpfem Donnern in sich zusammenfiel.
Sechsmal wurde Fliegeralarm gegeben, aber es war jedesmal Fehlalarm - Gott sei Dank.
Die Anspannung, nun nach fast 12-stündiger Wache, machte sich deutlich bemerkbar.
Mittlerweile hatte der Wind fast auf Sturmstärke aufgefrischt und die Wellen maßen um die sechs Meter.
Der böige Wind kam rechtweisend Nord und war so kalt, wie es sich für Ende November nicht anders erwarten ließ.
Der Kaffee half schon lange nicht mehr wachzubleiben, aber er wärmte die klammen Hände und den Magen.
Wenn`s hart wurde hatte man ja noch immer Pervitin, oder Schoka-Cola.
Der Tag hatte sich mit einem kurzen, aber wunderschönen Sonnenuntergang verabschiedet und der Befehl: „Alle Mann!“ wurde abgelöst durch: „Wachweise Backen und Banken“. (=Essensausgabe)
Der normale Wachbetrieb lief weiter, ungeachtet dessen, daß man gerade 12 Stunden Dienst hinter sich hatte.
Zumindest die Fliegergefahr war jetzt während der Nachtstunden so gut wie gebannt, auch wenn Latrinenparolen davon sprachen, daß die Englischen Fernauflärer jetzt sogar schon Radar an Bord hatten.
Es war 19.15 Uhr, und das hieß für Charlie, daß er noch eine dreiviertel Stunde Zeit bis zur nächsten Wache hatte.
Er beschloß, sich nicht hinzulegen, sondern noch in der Messe sitzenzubleiben, ein bißchen zu entspannen, und vielleicht dem Koch noch einen Rum abzuluchsen, denn auf Feindfahrt war strengstes Alkoholverbot an Bord... ...aber Rum war Balsam für die Nerven. Es war schließlich auch keine Kleinigkeit, mit neunzehn Jahren für ein Schiff mit achtundsechzig Mann an Bord, in einem minenverseuchten, stürmischen Meer verantwortlich zu sein.
Oh nein. Das hier war alles anders, als er sich das in seinen Träumen ausgemalt hatte, wie er sich zur Marine gemeldet hatte. Als sie in Glücksburg ihre Kommandierungen erhalten hatten, war er zuerst enttäuscht gewesen, daß er auf einen Minensuchzerstörer kommandiert wurde.
Da war nichts mit Heldenmut, Wochenschaubericht und Audienz beim Führer. Das hier war scheißlangweiliger, unspektakulärer Alltag auf einem Schiff, das nicht Fisch und nicht Fleisch war. Aber gefährlich, gefährlich war es hier allemal.
Ungemütlich und eng obendrein und wenn er ehrlich war, hatte er eine Scheißangst vor diesen Minen, die buchstäblich aus dem Nichts auftauchten, und ein Schiff mit Mann und Maus ins Verderben reißen konnten. Grundminen gingen ja noch. Zu deren Beseitigung war das Schiff ja gebaut worden. Das war so ähnlich wie Fischen. Man zog lediglich, statt eines Netzes, an Bojen befestigte Schneidkabel welche durch Scherbretter steuer - und backbords auf Spannung gehalten wurden über den Meeresgrund und kappte damit die Haltetaue der von den Alliierten gelegten Magnetminen.
Diese tauchten dann an die Wasseroberfläche auf, und konnten durch das MG-Feuer der nachfolgenden Schiffe zerstört werden. Also im Prinzip ganz einfach.
„Hallo Charlie.“ Er schreckte aus seinen Gedanken auf. Werner, der 2 WO war unbemerkt in die Messe gekommen. „Hallo Werner, alles klar? Ich denke, du hast Wache...?“
„Ja, hab ich, aber ich mußte mal... sag mal Charlie, ich hab Hundewache, aber mir geht’s total beschissen.Vertrag wohl die See nicht mehr, nach zwei Wochen Landurlaub. Da dachte ich, ob du vielleicht meine Wache noch mit übernehmen kannst? Wird eh nicht viel los sein. Für U-Angriffe ist das Wetter eh zu beschissen.... Na, was meinst Du? Du hast dann was gut bei mir.“ Er hielt Charlie eine „Orient“ hin und gab, nachdem er sich selbst eine zwischen die Lippen gesteckt hatte, beiden Feuer.
Charlie überlegte kurz und nickte dann bedächtig. „Ja, in Ordnung, aber sag mal, kommst du an Rum?“
„Wenns weiter nichts ist, da, nimm.“ sagte Werner, und überreichte Charlie einen silbernen Flachmann. „Gib ihn mir aber wieder wenn er leer ist. Is´n Geschenk von meiner Frau.“ Charlie steckte den Flachmann in die Brusttasche seines Mantels: „Bist halt n Kumpel... na dann, ist Zeit für die Wachablösung, kommst Du gleich mit auf die Brücke?“
Kurz nach drei Uhr ging Charlie hinaus auf die Brückennock, um sich ungesehen von den anderen einen guten Schluck zu genehmigen. Plötzlich bockte das Schiff, wie von einer Riesenfaust getroffen in einer Riesengischtwolke mehrere Meter empor. Charlie wurde wie ein Fetzen durch die Luft gewirbelt und stürzte in die tobende Schwärze des Meeres.
Aus dem Augenwinkel sah er noch die riesige Stichflamme, welche den Bug des Schiffes aufzufressen schien.
Eiskaltes Wasser schlug über ihm zusammen, er wurde herumgewirbelt und sein einziger Gedanke war: „Luft! Atmen!“
Endlich tauchte er wieder an die Oberfläche auf, gerade in dem Moment als der vordere Bereitschafts-Munitionsbunker in einer blendend hellen Explosion in die Luft flog. Etwas großes, weiches traf ihn seitlich am Kopf und als er danach schlug, bekam er einen Leinwandfetzen zu fassen der einigermaßen Halt und Auftrieb bot. Das letzte was er im Feuerschein sah, war, wie sich SZ 71 kopfüber in die See bohrte und verschwand. Schagartig war es wieder dunkel. Der Leinwandfetzen erwies sich als halb abgerissene Abdeckung eines fast intakten, in Leinwand eingenähten Korkfloßes auf welches er sich keuchend und mit letzter Kraft emporzog. Benommen saß er da und starrte in die tosende Schwärze. Das konnte doch alles nicht wahr sein, wo waren die anderen? Er brüllte in die Nacht hinaus, bis er eine weitere Stimme rufen hörte. Er rief zurück, lauschte und versuchte fieberhaft in die vermeintliche Richtung zu rudern. Es schien ihm eine Ewigkeit zu dauern, bis er schließlich Pleßkat den Rudergänger, auf das schwankende Floß ziehen konnte. Auch er war, wie durch ein Wunder unverletzt. Zu zweit riefen und paddelten sie durch die grausige Nacht. Noch fünf Mann konnten sie retten. Einmal glaubten sie, den Schemen eines Schiffes auszumachen und schrien wie die Verrückten. Als der Schemen einfach verschwand starrten sie ihm ungläubig hinterher... Es konnte doch nicht sein, daß die sie nicht suchten! Die mußten doch die Explosion gesehen haben!
Oder glaubten sie am Ende, sie seien von einem Tommy-U-Boot versenkt worden und versuchten sich nun selbst aus der Gefahrenzone zu bringen? „Hunde,“ dachte er, „unfähige, feige Hunde.“
Vom Treffer bis zum Untergang der SZ 71 waren nicht einmal zwei Minuten vergangen. Alles war möglich. Alles! Sie versuchten nicht zu sprechen, oder gar zu denken, sie versuchten nur, nicht von den haushohen Seen von diesem winzigen Korkfloß gewaschen zu werden und sich nicht mit den klappernden Zähnen Lippen oder Zunge zu zerbeißen.
Auf, ab, auf, ab... endlos... auf, ab... Wasser, Gischt, Dunkel, schneidend kalter Wind, auf, ab... auf und ab...
Gegen Morgen flaute der Sturm etwas ab, die Wellenhöhe wurde geringer und die Dünung erheblich länger, aber die Temperatur betrug nur wenige Grad über Null. Alle waren durchnäßt, und bis ins Mark durchgefroren. Johann, der ein mehrfach gebrochenes Bein hatte, schrie röchelnd auf und sackte dann mit einem schrecklichen Stöhnen in sich zusammen. Es war das erste Mal, daß Charlie jemanden sterben sah und er mauerte die Erinnerung ein, in ein Gewölbe aus nicht geweinten Tränen, welches sich in seinem ganzen kommenden Leben um jedes nicht gesagte Wort erweitern sollte. Welches ihn immer Nachts zu erdrücken drohte und auch in seinem ganzen späteren Leben konnte er nur das tun, was man ihm eingetrichtert hatte: Durchhalten, runterschlucken, weitergehen, nicht umsehen, friß, und schweig... und überlebe...
Während Dieser Stunden sprachen sie alle fast kein Wort. Jeder schien seinen Frieden mit sich machen zu wollen, oder glaubte zumindest nicht wirklich an die Möglichkeit einer Rettung..." Friß, und schweig, hat ja doch keinen Sinn." Wasser, Wellen, Wind, auf... ab... auf...
„Menschenskind!!!“
Pleskat schreckte sie alle aus ihrer Lethargie. „Menschenskind!“, rief er nochmals lauter. Dann reckte er sich so hoch wie es eben ging, und begann, wie verrückt zu winken. „Ein Schiff. Verdammt ! Ein gottverdammtes Scheißschiff!“
Alle winkten und schrieen was sie konnten und als ein Typhoon erklang, wußten sie, daß man sie tatsächlich gesehen hatte.
Es dauerte noch fast eine ganze Stunde, bis man sie an Bord des Schiffes geholt hatte, sie abrubbelte, ihnen trockene Sachen zum Anziehen gab und literweise göttlich heißen Tee mit Rum einflößte.
Sie waren vom Schwedischen Handelsfrachter Norskjold gerettet worden, welcher mit einer Holzladung von Norwegen nach Schweden unterwegs war. Der Kapitän, der als einziger ein paar Brocken Deutsch sprach machte ihnen klar, daß sie sich an Bord frei bewegen durften, wenn sie keinerlei Versuche machen würden, das Schiff etwa in Ihre Gewalt zu bringen; Diesen Gedanken fanden die fünf geradezu lächerlich angesichts ihrer Lage und ohne Waffen und daß man sie in Schweden, welches ja neutral war, an ein Internierungslager überstellen würde. Die Schwedischen Seeleute versuchten, radebrechend mit ihnen Kontakt aufzunehmen, was zu manch unfreiwilliger Komik führte und dabei half, das eben noch Erlebte zu überstehen. Die Schweden schienen zu spüren, daß diese jungen Männer nicht zu den blutgierigen, grausamen Seewölfen zu zählen waren, die in britischen und amerikanischen Wochenschauen gezeigt wurden, sondern eigentlich noch auf die Schulbank gehörten, oder in eine Lehrwerkstatt... So zeigten sie vorsichtige Anteilname und fast so etwas wie Mitleid.
In Schweden angekommen wurden sie einer kurzen Befragung durch die Schwedische Polizei unterzogen und dann in ein Internierungslager in der Nähe von Malmö verbracht, von wo sie über das Rote Kreuz Karten nach Deutschland schicken konnten um Ihren Familien mitzuteilen, daß sie noch lebten.
Nach vierzehn Tagen dann, pferchte man sie auf einen Küstenfrachter, welcher sie im Schutze der Neutralität zurück nach Deutschland brachte, gerade rechtzeitig, bevor die Ostsee im Kriegswinter 1944 um die Küsten herum einzufrieren begann.
Es war ihnen gut gegangen in Schweden und als sie ihren Rückreisetermin erfuhren, stritten zwei Seelen in Charlies Brust. Er wollte nicht zurück in dieses von Bomben, Angst und Hass zerfetzte Deutschland. Und doch hätte er es wie Verrat an seinem Volk und seinen bisherigen Idealen empfunden, nicht zurück zu gehen und weiter seinen Teil zu leisten. Vielleicht war ja doch noch nicht alles verloren? Der Endsieg vielleicht immer noch möglich, vielleicht kamen sie doch noch, die versprochenen Wunderwaffen, denn wenn nicht, was wurde dann aus Deutschland, seiner Familie, aus ihnen allen? Er wußte es nicht.
Er wußte nur, daß Werner ihm sein Leben geschenkt hatte indem er mit ihm die Wache tauschte und statt seiner im Inneren des Schiffes jämmerlich ertrunken war. Charlie fühlte sich schuldig, aber es gab nichts, was er hätte entschuldigen können. Keine Verteidigung gegen diese dauernde Selbstanklage war möglich und legte sich wie ein eisiger Ring um sein Herz und sein Mund tat das, was er gelernt hatte: er schwieg und fraß schwieg und fraß...
Als sie dann in Lübeck an Land gingen, wurden sie nicht etwa wie Helden empfangen. Oh nein! Man brachte sie unter Bewachung in die Hafenkommandantur, wo sie stundenlang zum Untergang der SZ 71 befragt wurden, dann brachte man ihnen etwas zu essen, ließ sie zwei Stunden schlafen, und teilte ihnen dann, nachdem man ihnen in der Zeugkammer neue Marineinfanterie-Uniformen verpaßt hatte mit, sie hätten sich auf der Stelle nach Swinemünde zu begeben, von wo aus sie mit einem Volkssturmbatallion nach Osten verlegt werden würden.
Volkssturm?
Charlies Frage, ob es denn kein Schiff mehr für sie gäbe, denn Sie wären doch schließlich Seeleute, wurde nur lakonisch beantwortet mit: „Ihr hattet doch eine Grundausbildung. Oder? Und ich hoffe für euch, sie war gut Ihr Pimpfe... Es geht um Deutschland und das Deutsche Volk und ohne Deutschland seid ihr weniger wert als der Dreck unter euren Fingernägeln! Verstanden?! Entweder Front, oder Galgen! Sucht es euch aus. Noch Fragen?! Heil Hitler!!!“
Sie hatten verstanden. Und Charlie machte es wie die anderen. Er schwieg und fraß, schwieg und fraß und gehorchte weiterhin blind.
Schon während der Fahrt nach Swinemünde, in einem mit alten Männern, müden, etwa gleichaltrigen Männern mit leichten Blessuren und Hitlerjungen, (deren nie endenwollendes Endsieggeschwätz unerträglich war) vollgestopften Nahverkehrszug waren sie froh darüber, mit der guten, wetterfesten Marinemontur eingekleidet worden zu sein, denn alles was die anderen abbekommen hatten, war eine Mischung aus HJ-Kluft, Landseruniformen und Privatkleidung. Sie ahnten, daß es da, wo man sie nun hinschicken wollte, mindestens ebenso kalt werden würde wie in den Stunden auf dem Floß.
In Swinemünde angekommen, marschierten sie vom Bahnhof aus zu einer Kaserne wo sie einen Napf voll Essen, Gewehre, Karabinermunition, Panzerfäuste, und Handgranaten faßten. Charlie und Pleskat ergatterten sogar je eine Schmeisser Mpi nebst Munition und dann, bis der Weitertransport stattfand, machten sie in der nahegelegenen Volksschule Quartier.
Es war nicht gerade das Ritz, aber trocken, windgeschützt und dank eines großen Kachelofens sogar warm.
Im Morgengrauen kam der Abmarschbefehl.
Eine graue, müde, nicht endenwollende Kolonne von Flüchtlingen aus Ostpreußen wälzte sich blicklos an ihnen vorbei „heim ins Reich“ und ihre zusammengewürfelte, im Vergleich dazu zahlenmäßig armselige Truppe machte sich auf und fuhr auf zusammengeflickten Wehrmachts-LKW in Begleitung von drei Tigerpanzern und mehreren Halbkettenfahrzeugen mit angehängten 08er-Flakgeschützen gen Osten. Irgendwo hinter Cammin kam der Befehl zum Eingraben.
Sie schaufelten Schützenlöcher und Schützengräben, so gut es in der eisigen Erde noch ging, fällten Bäume, bauten daraus Unterstände und hofften, sie würden den nächsten Tag gesund erleben. Manchmal donnerten Russische Flugzeuge über sie hinweg und sie hatten zwei Tieffliegerangriffe, die sie aber ohne größere Verluste überstanden. Eine Zeitlang blieb es tatsächlich ruhig, aber gerade diese Ruhe machte sie alle nervös und reizbar.
Pleskat hatte die Ruhr und es wurde täglich schlimmer. Er sah bleich und elend aus, es schien, als rinne das Leben mit jeder Stunde unaufhaltsam aus ihm heraus. Zusätzlich hatten sie alle mehr oder weniger schwere Erfrierungen, denn nur im Unterstand war es einigermaßen warm. Aber da konnte man nicht allzuoft hin. Essen kam nur spärlich nach vorne und wenn, dann war es meistens kalt, oder gar gefroren. Aber besser als Nichts.
Um seinem Freund etwas Ruhe zu gönnen, übernahm Charlie manche Wache für ihn, während von Osten her das Wummern und Donnern der Front immer näher kam. Nachts mit unaufhörlichem Wetterleuchten. Immer mehr wurde das Dröhnen der Front übertönt von Motorengeräusch. „Wo haben die nur all die Panzer her?“, dachte Charlie müde - und plötzlich war Stille.
Der nahende Morgen kündigte sich mit bleichem Lichtschimmer an. Das ferne Wummern klang erneut auf, das Motorengeräusch tieffliegender Bomber wurde lauter, und lauter,und auch in ihrem Abschnitt vernahm Charlie nun das herannahende Heulen schwerer Bomben und Granaten.
Die Welt um ihn herum wurde zerrissen von schwarzem Rauch, Dreck, splitterndem Holz, gefrorenen Erdbrocken und Stahltrümmern und alles, was er nun noch tun konnte war, sich in die Erde zu krallen und stumm zu schreien. Der Explosionsdruck der krepierenden Granaten preßte ihm die Luft aus den Lungen und machte Ihn taub und blind. In jenen Momenten schien er es für tatsächlich völlig unmöglich zu halten, noch einmal mit heiler Haut davonzukommen.
Die Feuerwalze sprang weiter nach hinten und vereinzelt regte sich Leben in den umgepflügten Gräben, und Schützenlöchern. Es roch nach Kordit und verbranntem Fleisch.
Er schaute sich gehetzt um. Dort, wo vorher der Unterstand war, gähnte nur noch ein mit Trümmern und Wellblechfetzen gefülltes Loch. Ein durcheinander zersplitterten Holzes, vermengt mit Uniform- und Fleischfetzen seiner Kameraden... Noch eine unbezahlte Schuld. Erst Werner, dann Pleskat. Keine Entschuldigung möglich... Friß und schweig und schieß und... gehorche. Frag nicht, denk nicht, sei Stein - Steine fühlen nicht - Steine weinen nicht. Sei Maschine. Hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder und flink wie die Windhunde... Oh ja... so sollte er sein.. ..so sollten sie alle sein.. ..doch was waren sie jetzt? Ein zerlumpter, ängstlicher, vor Kälte und Hunger schlotternder Haufen aus Kindern und greisen Männern, die mit dem Arischen Herrenmenschenideal wenig Gemeinsam hatten.
Und dann kamen sie.
Sie stürmten mit ohrenbetäubendem „Urräää“ durch den Dunst der schwelenden Feuer und der zuletzt verschossenen Nebelgranaten auf sie zu und schossen aus allen Rohren. Er legte an, zielte, und schoß, zielte und schoß, zielte und schoß... und dann kamen die Panzer. Sie wuchsen aus dem Nebel empor. Dröhnend, feuerspeiend, tödlich. Mit den Panzern kamen hunderte Russischer Infanteristen.
Die Läufe ihrer Waffen waren glühend heiß geschossen, begannen zu klemmen, Munition ging aus. Charlie raffte hier und da Munition zusammen die ihre gefallenen, zur Unkenntlichkeit entstellten Besitzer nun nicht mehr brauchen konnten.
„Zurück!“ flackerte eine Stimme hinter ihm auf, vereinzelte Gestalten erhoben sich, und rannten feuernd und Handgranaten schleudernd auf die rückwärtigen Gräben zu.
Laden, zielen, Feuern, Handgranate, Rückzug, Feuern, Rückzug, Tiefflieger, Bomben, Splitter, stolpern, aufstehen, feuern, Deckung, aufspringen, Handgrananate abziehen, werfen, Rückzug, rennen, hasten, laufen, humpeln, jetzt bloß nicht getroffen werden..." Scheißegal dann ist es endlich vorbei. Ich will nicht mehr... kann nicht mehr. Will... will nicht." Offizier, schwarze Uniform... schreit, tobt, droht mit der Mpi, treibt an. Wieder schießen... ducken, vergraben, verstecken. Laufen, laufen. Hunger. Kalt und blind... Will nichts mehr sehen von alldem. Tote... nur Fetzen, Trümmer, Brand, Rauch, Tote, immer nur Trümmer, Tote, Kadaver, Ruinen, Wracks. Heim. Nur weg - von - hier. Heim, Heimat, Mutter, wo war das noch? Tagelang. Wochenlang. Kalt wird wärmer, Blumen, ja, wirklich Blumen. Matsch, Kadaver und Blumen... irgendwo in Deutschland dann :"!Der Führer ist tot! Gefallen im heldenmütigen Kampf um die Reichskanzelei. Kampf bis zur letzten Patrone gegen den Bolschewismus" sagen die Stimmen... alles verloren... Verloren!
Gefallen im heldenhaften Kampf, gefallen für sein Vaterland - Vaterland? Mutter ? Zu Dir... Mutterland sollte es heißen. Muttererde-Vaterland... Leben. Lebt Mutter noch? Mutter... Hands up! Goddamn Nazikillers! Bloody Hands up!
Waffe wegwerfen. Hände hoch. Gottseidank Amerikaner. Gefangenschaft. "You`re a Nazi? No! Never! Ich bin Seemann... verstehen? Seemann, Seaman, Sailor? Submarine? No! Schiff... Ship. Minensucher. Minesweeper. Verstehen?
You-are-a-fucking-lyer. Son-of-a-nazibich. NoSir! Sailor!"
Gefangen... irgendwann: "Boy, go home.. ..go home."
Charlie sitzt in einem Güterzug Richtung Süddeutschland. Home... nach Hause. „Wo ist das? Was ist das? Steht das Zuhause noch? Werde ich jemals wieder lachen können, werden die Bilder vergehen?“ - Die Räder machen tagadapp-tagadapp-tagadapp.. ...Friß und schweig, friß und schweig, friß und vergiß.. ..tagadapp-tagadapp-tagadapp....
Epilog.
Mein Vater ist nun seit dreizehn Jahren tot, und er hat niemals mit jemandem über damals gesprochen. Nur, daß er versenkt wurde, und überlebte, weil er Wache getauscht hatte, sowie sein Überleben an der Ostfront, weil er Wache für einen Kameraden ging, sind sicher überliefert. Ich erfuhr es vom Pfarrer wärend der Grabrede für meinen Vater.
Früher habe ich die Gründe für sein Schweigen - und seine Befehle - nie verstanden.
Heute sehe ich das anders, und diese Geschichte ist ein weiterer Schritt auf dem Weg des Verstehens.
06/07.02.2002
Erkärung Maritimer Ausdrücke:
Brückennock:Art Balkon seitlich des Ruderhauses
Backbord:Links
Steuerbord:Rechts
Achtern: Hinterer Teil des Schiffes
Backen und Banken:Essensausgabe
Fla-Mg:Flugabwehr Maschinengewehr
Treibmine: Seeigelähnlicher Stahlball mit Fühlern und Kontaktzünder
Grundmine:Verankerte Magnetmine, die sich bei Annäherung eines Stahlschiffes aus der Verankerung löst, und unter dem Schiff detoniert.
8/8 Flak: Weitreichendes Flugabwehrgeschütz, auch im Bodenkampf gegen Panzer eingesetzt.
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[Beitrag editiert von: Lord Arion am 10.04.2002 um 19:47]