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Gesellschaft BESSERE ERDE
Waldemar Schleicher
GESELLSCHAFT BESSERE ERDE
Die Tür ging auf. Sie quietschte. Der Windzug blies wieder. Sie schloss sich wieder, quietschte. Es war schon der dritte Tag, an dem diese verfluchte Tür sich öffnete und schloss, in der Zugluft flatterte. Und er konnte nichts machen. Ludger Reinhardt konnte nichts unternehmen gegen dieses grässliche Geräusch. Denn er war gefesselt, schon den dritten Tag. Mit starken Seilen an der Treppe festgemacht, konnte er nichts tun um sich zu befreien. Er war angeschossen. Der Hunger machte ihn fertig. Aller Lebenswille, all seine körperlichen Kräfte hatten ihn verlassen. Es ging aufs Sterben zu.
Erster Tag. Wie jeden Morgen erwachte Reinhardt auf seiner orangen Couch im Wohnzimmer. Sein Grundig-Fernseher hatte ihn nachts in den Schlaf dirigiert, die alte braune Decke gab die zweite Stimme. Als er erwachte, verspürte er einen bösen Muskelkater. So ein Schlaf auf der Couch war nichts sehr... na ja... gesund. Reinhardts Mund fühlte sich unendlich zäh an, und eine unvermeidliche Morgenlatte strahlte dem Tag entgegen. Der Mann gähnte, machte die Augen auf, und als er sah, dass er immer noch allein in seinem Haus war, stöhnte er auf. Seine Frau war nicht zurückgekommen. Sie war schon seit vier Jahren nicht mehr zurückgekommen, und das konnte ihr wirklich niemand verübeln. Denn Ludger Reinhardt trank. Ludger Reinhardt rauchte. Ludger Reinhardt schlug seine Frau. Er hatte zwar seit vier Jahren keine Gattin mehr, aber wenn er eine hätte, würde er sie schlagen. Und wenn er damit einmal angefangen hatte, schienen seine Kräfte nie auszugehen und so hörte er auch nicht auf. Seine Wut war grenzenlos. Die Ausdauer seiner Frau nicht. Britte verließ ihn schon nach drei Wochen der Ehe. Eine Scheidung hatte es nie gegeben. Sie war einfach gegangen und nie wieder hatte er auch nur das Geringste von ihr gehört. Er selbst malte sich schon - für ihn unerträgliche - Bilder aus, wie Britte sich auf Hawaii entspannt und ein Harem von muskelbepackten Typen ihr die Füße massiert, ihr Drinks bringt, und es ihr dann nachts so richtig besorgt. Nein. So was kann nicht gut gehen, dachte Reinhardt. Eine Frau braucht Disziplin, so ist es doch! Sie muss erzogen werden, sonst wird sie noch ganz komisch. So viel zu seiner Frau und seiner Meinung über das andere Geschlecht.
Nachdem er die Zähne geputzt und einen nach Pisse schmeckenden Kaffee getrunken hatte, lief Reinhardt noch mal ins Wohnzimmer und holte dort seinen Musterkoffer ab. Als er das Zimmer wieder verließ, schloss er die Tür. Sie quietschte und sprang nicht ins Schloss. Stattdessen wedelte sie in der Zugluft, öffnete sich, quietschte, schloss sich, schlug gegen den Rahmen, ging wieder auf, quietschte und so ging es unaufhörlich weiter. Er versuchte erneut, die Tür zuzuschlagen, doch sie wollte nicht. Da entbrannte die Wut in Ludger Reinhardts Magen. Die schier unendlichen Kräfte erwachten, er packte den Griff und zog mit einem Entsetzensschrei. Die Tür fiel krachend in den Rahmen, der erzitterte und etwas Staub abließ. Putz fiel von der Wand. Reinhardt lächelte selbstzufrieden. Nichts quietschte mehr. Er drehte nach links ab und lief die Treppe zum Ausgang hinunter.
Der Musterkoffer. Es ist schon erstaunlich, mit welch einer Arbeit ein Mann sich finanzieren kann. Ludger Reinhardt war ein Vertreter, und kein gewöhnlicher, nein, er hatte die Ehre, den seltenen Titel "Waffenvertreter" zu tragen. Ein seltener Beruf. In seinem Musterkoffer lagen Waffen. Zwar nur Gaspistolen, Schreckschusspistolen, Damenpistolen und Stromschocker, aber es waren Waffen. Einsame und schutzlose Frauen waren seine Zielgruppe. Insgeheim hoffte er eigentlich, dass jene Frauen irgendwann wehrlos überfallen und vergewaltigt würden, dabei würden sie sicherlich was lernen. Mit einer schützenden Waffe würden sie sich doch nur überlegen fühlen und sich geistig gehen lassen, und das wäre schlecht, dachte Reinhardt. Doch eben diese schützende Waffe verkaufte ihnen er. Ludger Reinhardt.
Zugegeben, seine Verkaufsmasche war etwas radikal, aber sie hatte bisher fast immer gewirkt. Reinhardt kam auf eine Frau auf der Straße zu. Wenn er nah genug dran war, sprang er auf sie, griff ihre Hand- oder Brieftasche(je nachdem was er besser erreichen konnte) und sprang wieder zurück. Dass der potenzielle Kunde dabei aufschrie, daran hatte er sich schon vor Jahren gewöhnt. Er beruhigte die arme Dame, gab ihr das Hab und Gut zurück und redete auf sie ein, dass ein Schwerverbrecher sie genauso leicht hätte ausnehmen können. Vielleicht hätte dieser sie auch vergewaltigt, wer weiß. Das würde aber nie passieren, wenn Sie eines dieser hübschen Gerätschaften kaufen, hatte er immer gesagt. Dann zeigte er die "Gerätschaften", nannte ihre Wirkung. Die Ängstlichen kauften Schreckschuss, damit sie niemanden verletzen konnten. Die Geschäftsfrauen kauften Gas, weil sie bei der Vorführung nicht schlau wurden, was das eigentlich sein soll und nicht dumm wirken wollten. Die Mutigen und die ganz Ängstlichen(die Angst hatten, der Verbrecher würde auf den Schreckschuss nicht hereinfallen) entschieden sich konsequent für die Damenpistole. Der Stromschocker war so gesehen ein Verkaufsschlager, Frauen jeden Alters, jeder Gesellschaftsklasse und jeder Gemütsverfassung nahmen ihn. Reinhardt vermutete, das hatte nichts mit dem Mut der Frauen zu tun, sondern eher mit der Lebenserfahrung oder so.
Natürlich gab es auch missglückte Verkaufsgespräche. Eines Tages fiel Reinhardt eine ehemalige Kundin an, die ihn mit einer saftigen Stromladung aus dem Schocker grillte. Er lag drei Stunden lag einfach so auf der Straße. Ein ander Mal hatte er eine Frau erwischt, die eine Waffe schon besaß. Nur war es keines der Artikel, die er anbot. Die alte Frau hatte einen .38er Revolver in ihrer Handtasche. Reinhardt kam für vier Wochen auf die Intensivstation. Der Einschuss blieb als Narbe auf der Brust.
Seine Arbeit verstieß gegen seine privaten Grundsätze. Er verkaufte denen Schutz, denen er Unheil wünschte. "Deserteur" hatte er sich manchmal selbst genannt. Bei dem Gedanken kam ihm stets ein Lächeln auf. An jenem Morgen hatte er dieses Lächeln aufgesetzt. Ich gehe jetzt desertieren, dachte er, als er das Haus verließ und den Hof betrat. Er würde wie jeden Tag seinen verdammten Job erledigen. Doch so weit kam es nicht. Nie wieder. Ein schwarzer Van war auf der Landstraße vor seinem Haus geparkt. Muss wohl die Müllabfuhr sein, scherzte Reinhardt zu sich selbst. Er lief zu seinem roten VW und setzte sich hinein. Der Wagen sprang beim ersten Versuch an. Gott schütze den Volkswagen. Im ersten Gang fuhr er aus dem Hof nach links auf die schmale Landstraße(sein Haus lag abseits der Stadt, nur die Landstraße, die Wasser- und die Stromversorgung bildeten Anschluss zur Zivilisation). Er schaltete in den zweiten Gang. Nur noch in der Innenstadt ankommen, parken, und dann gehst du Hausfrauen scheuchen, lachte Reinhardt in sich hinein. Es kam anders. Wie aus dem Koma erwachte der schwarze Van. Sein großer Kuhfänger strahlte in der Morgensonne. Der Wagen beschleunigte. Reinhardt sah das im Rückspiegel und dachte an eine von diesen Autowerbungen. Von null auf hundert in einem halben Nachmittag, so etwas war es doch. Dieser Gedankenzug erheiterte Ludger Reinhardt nicht. Im Gegenteil, er erschreckte ihn. Der Van beschleunigte auf ungeahnte Geschwindigkeiten und holte den VW fast schon ein. Angst. Hätte ich bloß keine Witze gemacht. Das schwarze Fahrzeug war nun unmittelbar hinter dem VW. Es bremste, fiel etwas ab, doch dann beschleunigte es wieder - und fuhr in den linken Blinker am Kofferraum. Reinhardt verlor die Kontrolle, sein Wagen lief nach rechts ab, doch dann gewann er die Kontrolle zurück. Der Van bremste erneut. Noch ein Schlag, doch diesmal war es härter. Der Hinterwagen schlug auf den linken Blinker, er drängte mit dem Kuhfänger den Wagen nach rechts in den Graben. Der VW zog stark zur Seite, Reinhardt hielt nach links dagegen, aber dann lief er instinktiv mit und riss das Lenkrad in die andere Richtung. Sein Auto stand für einen Augenblick quer auf der Straße, ruderte weiter nach rechts, bis der Kofferraum in die ursprüngliche Fahrtrichtung zeigte. Ich hab's geschafft! jubelte Reinhardt. Er beschleunigte wieder, um fortzufahren, doch seine Reifen rutschten am tauberieselten Gras des Straßenrandes. Der Vertreter schrie. Des Wagens Hinterteil rutschte unaufhaltsam in den Graben. Eine Erschütterung durchlief seinen Körper. Der VW stand. Die Türen des Vans gingen auf und vier Männer in schwarzen Anzügen kamen heraus. Sie sahen nicht aus wie die typischen Gorillas, sie waren eher etwas dürr. Unter dem offenen Jackett war ein weißes Hemd, locker geschnürt mit einer schwarzen Krawatte am Kragen. Bei jedem der Männer. Sie hatten alle automatische Pistolen in ihren Händen. Reinhardt machte seine Augen auf. Der Aufprall hatte ihn sie zureißen lassen. Das Erste, was er nun sah, waren drei Männer, die versuchten, die zugeklemmte Tür zu öffnen. Er stieß einen stummen Schrei aus und kroch auf den Beifahrersitz. Diese Tür klemmte ebenfalls. Er griff nach seinem Musterkoffer. Eine handliche Damenpistole zog er heraus und lud sie durch. Drohend richtete er sie auf die Männer. Sie traten einen Schritt zurück und sahen sich an. Dann blicken sie auf Reinhardt. Es schien jedoch eher, als würden sie durch ihn hindurchsehen.
Wohin starren die?
Er drehte seinen Kopf nach hinten, um das Beifahrerfenster zu sehen. In dem Moment zersprang das Glas. Zwei kräftige Hände schossen ins Auto und drückten dem Mann die Luft ab. Er ließ die Waffe fallen. Die drei Typen an der Fahrertür hoben ihre Schießeisen und eröffneten das Feuer auf das klemmende Türschloss. Funken tobten durch die Gegend. Auf einmal sprang die Tür einige Zentimeter von der Karosserie ab. Die Männer zogen sie auf und ergriffen Reinhardts Beine. Der Würger ließ los. Fortan wurde er aus dem VW geschleift. Als er aufgerichtet wurde, fragte er:
"Wer seid ihr?"
Die Männer blickten sich kurz an.
"Dein Tod, Sonnyboy."
Das Letzte, was Ludger Reinhardt vom jener Stunde noch wusste, war, dass ihm jemand einen harten Schlag auf den Hinterkopf versetzte.
Als er auf seiner Couch erwachte, blickten vier finstere, bewaffnete Männer ihn an. Er zuckte zusammen.
"Wir hatten schon Wetten abgeschlossen, wann Sie erwachen, Herr Reinhardt", sagte der Mann mit den hohen Wangenknochen.
"Und ich habe gewonnen!", kicherte der Typ mit der Halbglatze.
Der Vertreter fuhr hoch.
"Wer seid ihr?"
Der kleinste der vier stand vom Sessel auf.
"Wir sind von der GBE."
Reinhardt setzte ein verwundertes Gesicht auf. Er war viel zu müde vom Schlag, um Angst zu empfinden. Aus der hintersten Ecke des Zimmers kam ein hochgewachsener Mann mit breiten Schultern hervor.
"Gesellschaft BESSERE ERDE. Wir sind so etwas wie..." Der Lange suchte nach Worten. Der Typ mit der Halbglatze meldete sich.
"...wie Kammerjäger."
"Genau", stimmte der Lange zu. "Wir säubern die Welt von Ungeziefer."
"Was denn für Ungeziefer?", fragte Reinhardt.
"Arschlöcher", sagte der Kurze gelangweilt.
"Von eurem Verein hab' ich noch nie etwas gehört", spottete Ludger.
"Und wir noch nie von einem Waffenvertreter, wenn du verstehst, was ich meine", sagte der Mann mit den hohen Wangenknochen. Er streichelte seine Waffe. Reinhardt bekam es mit der Furcht. Er sammelte etwas Mut und stellte eine weitere Frage.
"Was wollt ihr mit mir machen?"
Die Männer wechselten Blicke und schauten mit einem hoffnungslosen Ausdruck auf den Vertreter. Er schwieg. Eine besondere Sprache lag in ihren Augen. Sie schienen alles gesagt zu haben.
Der Tag verging sehr träge. Reinhardt lag auf der Couch und traute sich nicht einmal zu fragen, ob er mal auf die Toilette dürfte. Die Männer erzählten sich Anekdoten aus ihrem Privatleben, gingen alte Aufträge durch - Weißt du noch, der Zuhälter vor 5 Jahren? Mann, wenn wir den nicht erledigt hätten, der hätte doch... - und inspizierten ihre Waffen. Irgendwann fühlte sich Reinhardts Blase wie eine scharfe Granate an. Er fragte, ob er pissen dürfte. Das durfte er, aber der Lange musste mit. Auf dem Klo bekam der er dann auch noch keinen einzigen Tropfen heraus. Der Lange blickte weg, da floss das Wasser des Lebens in Strömen.
Es wurde Abend. Die Männer hatten sich das Haus angesehen und zwei Mal gegessen. Als sie hochzufrieden und gutgelaunt zurück ins Wohnzimmer kamen - der Kurze und der Typ mit der Halbglatze hatten sich mit der Wache abgelöst - war Reinhardt bereit, sie auszufragen.
"Was seid ihr?"
Der Lange machte ein freudiges Gesicht.
"Bitte, darf ich das machen? Danke. Nun, die Gesellschaft BESSERE ERDE sorgt dafür, dass nicht solche Wichser wie Dealer, Zuhälter, Waffenvertreter oder Anwälte die Welt übernehmen. Wir sind so etwas wie ein längst überfälliges Ventil. Wir lassen den Druck - das Böse - raus."
"Und was habe ich damit zu tun?"
"Mann, mach die Augen auf! Du bist die Verkörperung des Sexismus, der Gewalt und der Anarchie! Du handelst mit Waffen... du hasst Frauen..." Der Lange dachte nach. "Du fährst einen VW!"
"Wer sagt, dass ich Frauen hasse?"
"Deine Frau."
Reinhardt wurde von plötzlichem Hass überrannt. Also sie hatte ihm diesen Scheiß eingebrockt!
"Doch sie hat nichts damit zu tun." setzte der Lange hinzu. Der Hass blieb, doch Reinhardt versuchte, ihn gegen die Männer zu richten. Oder vielleicht die Welt. In diesem Moment musste er etwas hassen.
"Seit wann macht ihr das schon?"
"Seit dem zweiten Weltkrieg. Glaubst du wirklich, Hitler hat von allein die Kurve gekratzt?"
"Oh..! Aber wer erlaubt euch, meinen Wagen zu verschrotten, in mein Haus einzudringen und mich festzuhalten? Seid ihr vom Staat oder so?"
"Nein. Wir sind eine freie Institution."
"Oh Mann, dann seid ihr aber auf ziemlich dünnem Eis, diese Scheiße durchzuziehen, wenn ihr nichts habt, was euch den Rücken freihält. Ich sag euch, wenn ich erst hier raus bin, dann..."
Der Kurze hob seinen Finger.
"Du wirst aus dieser Sache niemals lebend herauskommen", sagte er. Der Mann mit den hohen Wangenknochen schaltete sich ein.
"Noch niemand hat dies überlebt. Wir machen unseren Job. Und wir machen ihn gut. Wenn wir fertig sind, ist die Welt ohne Bösen und alle Menschen können friedlich miteinander leben."
Reinhardt zog eine Augenbraue hoch.
"Seid ihr etwa Kommunisten?"
Der Typ mit der Halbglatze lachte auf.
"Ich hab' gehört, Nixon hat das Selbe gesagt, als wir ihn geholt haben", kicherte er. Der Kurze fuhr fort.
"Nun ja, das werden wir eigentlich nicht erleben. Aber wir machen das Leben erträglich. Es gab mal so einen 11jährigen letztes Jahr, der hat darüber nachgedacht, Atomwaffen in Spielzeugartikel einzubauen um dann durch kleine Kinder die Welt zu zerstören. Wenn wir ihn nicht erledigt hätten, wäre die Erde morgen vielleicht nur ein Haufen Asche!"
Des Vertreters Gesicht färbte sich weiß.
"Ihr tötet Kinder... Und ihr sagt, ich wäre das Böse! Ich töte keine Kinder! Werdet ihr euch am Ende selbst umbringen, weil ihr Böses tut!?"
Der Lange zuckte die Achseln.
"Nein. Der Zweck heiligt die Mittel."
"Ich versteh euch nicht", sagte Reinhardt, "ich versteh euch wirklich nicht."
Der Typ mit der Halbglatze schaute auf seine goldene Armbanduhr. Der Zeiger stand auf 10 Uhr.
"War schön mit dir zu plaudern", sagte er, "aber wir müssen los. Ein Typ in der Schweiz hat eine Pumpgun gekauft, Gott weiß, was er damit anfängt. Die Pflicht ruft, mein Lieber."
Die Männer standen vom Sessel auf. Einen Moment lang dachte Reinhardt, er würde verschont bleiben. Doch der Kurze zog seine Pistole und richtete sie auf ihn. Ein recht leiser Schuss fiel. Leiser als der Schuss des .38er Revolvers, dachte Reinhardt. Plötzlich rissen seine Gedanken. Von seinem Bauch aus breitete sich eine Eiseskälte auf den ganzen Körper aus. Etwas zog schrecklich in der Magengegend. Die vier Männer kamen zu ihm rüber, packten ihn an den Schultern und zogen ihn zu der Treppe. Er würde sich wehren, doch er war zu schwach. Er brach in Schweiß aus, wurde müde.
Ich will schlafen.
Schlafen...
Zweiter Tag. Als Reinhardt erwachte, fühlte er sein Herz höher schlagen als je zuvor. Er war am Geländer der Treppe festgebunden. Es war eine sehr professionelle Fessel. Entkommen ausgeschlossen. Außerdem war er angeschossen. Die Wunde schaute ihn an. Sie schien ihn auszulachen. Er bemerkte mit Grauen, dass die ganze Treppe rotbraun gefärbt war von seinem trockenen Blut. Er würde verbluten. Sehr bald. Doch die Wunde schien sich vorübergehend geschlossen zu haben, kein roter Saft floss mehr. Vielleicht war er aber schon leer, dachte Reinhardt. Er lachte hysterisch auf. Ihm ging es nicht sehr gut. Sein Kopf kippte zur Seite um. Wenn er all seine Fehler bereuen und für seine Sünden um Vergebung bitten würde, vielleicht würde er dann überleben, verschont werden. Aber verdammt noch mal, das war nicht der richtige Augenblick zu bereuen! Oder vielleicht doch? Aber er wollte es nicht. Der Schlafgott Morpheus legte wieder seinen Schleier um den Vertreter...
Es war Mittag(vermutete er), als er wieder erwachte. Den Rest seines Lebens wollte er damit zubringen, zu schreien und Wanderlieder zu singen. Gab es eine Wahrscheinlichkeit, dass irgendjemand ihn hörte und befreite? Scheiße, nein! Er war der einzige Mensch im Umkreis von einem halben Kilometer. Er brüllte in den letzten Stunden seines Lebens laut in die Einsamkeit.
Dritter Tag. Er war sehr früh aufgewacht. Es war noch dunkel. Neue Lebensenergie durchfloss ihn, er zog und zerrte an seinen Fesseln, versuchte, sich vielleicht doch zu befreien. Trotz des Hungers und der Wunde fühlte er sich stark. Doch bald verfloss die Kraft und die Wunde platze wieder auf. Blut floss aus seinem geschwächten Leib. Es ging aufs Sterben zu. Ein kalter Windzug durchlief das Haus. Die Wohnzimmertür quietschte und klopfte ohne Unterlass. Gestern tat sie es auch, doch er hatte geschlafen. Heute hörte er sie kaum, sein Gehör erstarb letztendlich. Er sah schon Fliegen um seine Wunde kreisen und das Blut lecken. Oder waren es nur Einbildungen? Sein Körper war taub geworden, er spürte keinen Schmerz. Der Geist bereitete sich auf das Ende vor. Wenn eines sicher war, dann war es, dass der Himmel keine Seelen von solch vergammelten Körpern annahm. Nicht an jenem Tag. Reinhardt lachte auf. Er wusste nicht warum. Er lachte laut auf, in seinen Augen kam die Dunkelheit. Doch er lachte, als die letzten Tropfen Blut aus seinem Leib flossen. Er lachte einfach.
"Herr Reinhardt? Herr Reinhardt, ein Paket für Sie!", rief eine ferne Stimme. Der Vertreter riss die Augen auf, sah aber nichts.
"Es ist offen!", hörte er sich sagen, doch seine Stimmeklang fremd. Der Postbote kam die Treppe heraufgeschossen und sah den Blutteppich, der sich über die Stufen gelegt hatte. Den angeschossenen Ludger Reinhardt. Die Fliegen um das Fleisch. Beinah wäre er in Ohnmacht gefallen, aber er musste sich zusammenreißen.
"Ich hole Hilfe!", rief er letztendlich und rannte zu seinem Postwagen zurück. Kaum fünf Minuten später lag Reinhardt auf der Intensivstation im Stadtkrankenhaus. Die halbe Blutbank wurde geleert, um dem Waffenvertreter das Leben zu retten.
Ihr habt es vermasselt, dachte er. Hitler habt ihr erledigt, aber in mir habt ihr euren Meister gefunden. Die GBE... Ihr habt versagt. Die Gesellschaft BESSERE ERDE hatte versagt.
Vierter Tag. Eine hübsche Krankenschwester betrat die Intensivstation. Sie hatte eine tolle Figur und feuerrotes Haar. Mehr konnte er von seinem Bett aus nicht erkennen.
"Herr Reinhardt? Sie haben Besuch!"
Die Gesellschaft BESSERE ERDE versagte nie.
4. April 2002