Geschlossene Gesellschaft
Grau. Grau und Schwarz. Die Nacht war wie immer. Der vergangene Tag eigentlich auch. Zu hunderten, ja tausenden waren sie wieder an ihr vorbei gezogen. Sobald sie einen Blick auffing, wurde aufmerksam zur Seite geschaut. Desinteresse. Ein schnelles Nebeneinander. Aber war das nicht verständlich? Mit ihr wollte man nichts zu tun haben. Warum denn auch?
So kam sie ihr vor, die große Welt, die für sie doch so klein war. Eine große Stadt war es, das stimmte schon, aber was bringt sie einem wenn man doch gar nichts von dieser Größe hat. Ihre Welt war klein. Sie begrenzte sich auf den Quadratmeter auf dem sie saß. Alles daneben gehörte den
andern. Nicht ihre Welt. Sagte sie manchmal. Wenn sie doch einmal die Gelegenheit hatte, mit einem von den „ihren“ zu sprechen. Aber das war selten. Denn selbst solche wollten nichts von ihr wissen. Sie war ganz unten angekommen. So weit unten, wie auf dem Meeresgrund. Manchmal
schnappte sie Gesprächsfetzen auf. Passanten, die vorbei laufen, vorbeirennen, vorbeihetzen. Sie unterhalten sich. Reden in ihr Handy. Solche Probleme, auch nur für einen Tag zu haben, war einer ihrer höchsten Träume. Aber Träume? Sie war schon lange in der harten, kalten Wirklichkeit
angekommen. So hart und kalt wie der Boden auf dem sie lag. Aber worüber beschwerte sie sich? Es war doch so gelaufen wie immer. Erst kommt der Schuss- dann das Paradies. Man kann es nicht erklären, nicht beschreiben. Es war der Himmel auf Erden. Der Griff nach den Sternen. Die Sonne
zum Greifen nah. In all ihrer Wärme und ihrem Licht. Und dann, ja dann kommt man wieder an. Ganz langsam kommt man an. Es ist, als würde man aus der Narkose aufwachen. Willkommen in der Wirklichkeit.
War das nicht unfair? War das gerecht, so wie sie lebte? Natürlich war es das. Denn sie hatte sich doch selbst hier hin gebracht, oder nicht? Jeder hat doch sein Leben in der eigenen Hand. Kann sich entscheiden, hat die Wahl. Oder? Hier lag sie also. Auf dem Boden der Tatsachen.
Ein kühler Windzug fuhr ihr übers Gesicht. Die Nachtluft war eiskalt und klar.
Aber hinschmeißen, das kam für sie nicht in Frage. So wie es die anderen getan hatten. Sie waren gesprungen. Aber sie hing an ihrem Leben, sie hatte schließlich nur das eine. Irgendwie, sie konnte es sich nicht recht erklären. Wollte vielleicht auch gar nicht. Aber irgendwie hatte sie die Hoffnung, dass sich doch noch etwas ändern könnte. Das ihr irgendwann der Durchbruch gelingt. Dass sich jemand erbarmt. Aber das war nicht passiert. Würde es jemals passieren? Eine letzte Hoffnung war es, die sie am Leben hielt. Aber was war das für ein Leben? Nicht am Rande, nein, nicht am Rande der Gesellschaft. Jenseits der Gesellschaft. Kilometerweit entfernt. Mindestens. Sie zog ihre durchlöcherte Mülltüte ein wenig fester um ihren ausgemergelten
Körper. Licht von den Fassaden spiegelte sich in den dreckigen Pfützen wieder. Ein Auto fuhr laut röhrend vorbei. Und wenn sie doch einfach hinwirft? Einen Schlussstrich zieht. Ihr Leben war ohnehin ein armseliges, kurzes Buch geworden. Zeit das Ende zu schreiben?
Und doch, er wollte nicht ausgehen. Wollte sich nicht unterkriegen lassen, dieser letzte kleine Funke Hoffnung. Aber würde ihr jemals ein Mensch eine Antwort auf diese Frage geben? Ob sie irgendwann eine Decke um ihren Körper werfen könnte? Vielleicht, dachte sie bei sich. Vielleicht.
Vielleicht lag aber die Antwort auch zum Greifen nah und sie nahm sie nur nicht richtig war.
Vielleicht war es schon klar, ob sie jemals mit Anderen zusammenleben könnte. Freilich, wie das gehen sollte- davon hatte sie keinen blassen Schimmer. Aber nur von Schuss zu Schuss zu leben, das kam nicht in Frage. Sie musste nur nach der Antwort suchen, dachte sie. Irgendwann würde es
ihr doch klar werden und sie würde wissen, was zu tun sei. Wie es weitergeht. Ob sie es jemals schaffen würde Fuß zu fassen, bei den anderen.
Ihr Blick fiel auf ein Schild auf der anderen Seite der Straße:
Geschlossene Gesellschaft.