Geschichtsstunde
Die Unterrichtsstunden bei Mrs. Clarendon waren die Schlimmsten. Brian hätte ihr nicht unbedingt den Tod gewünscht, aber er hatte von einem Drüsenfieber gehört, das einen mindestens zwei Jahre ans Bett fesseln würde. Das wäre perfekt. Bis dahin wäre er schon auf der High School. Aber natürlich waren das nur dumme Träume. Mrs. Clarendon wurde niemals krank. Selbst wenn eine Grippewelle im Anmarsch war, konnte man die Uhr danach stellen, dass sie pünktlich um Acht erschien, einen Stapel Bücher unter dem Arm und die Hornbrille vorne auf der Nasenspitze.
Dieser Morgen bildete keine Ausnahme. Die Uhr über dem Lehrerpult zeigte zwei Minuten vor Acht. Normalerweise war Brian für die Uhr dankbar (er hatte zwar eine Swatch, aber die trug er so gut wie nie), aber in Mrs. Clarendons Stunden schien sie beinahe still zu stehen. Die anderen Schüler tuschelten miteinander, aus den hinteren Reihen segelte ein Papierflieger nach vorne. Dann öffnete sich die Tür und Mrs. Clarendon kam herein. Schlagartig wurde es still. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Mrs. Clarendon ging langsam zu ihrem Pult und legte ihre Bücher darauf. Sie betrachtete die Tafel.
Warum trägt sie einen Wollpulover?, dachte Brian. Draußen müssen mindestens dreißig Grad sein.
"Wer hat heute Tafeldienst?", fragte Mrs. Clarendon ohne sich umzudrehen.
Eine kurze Stille folgte und Brian dankte allen Göttern, die es für zwölfjährige Jungen geben konnte dafür, dass sein Tafeldienst erst in zwei Wochen sein würde.
"Ich Miff Clarendon.", sagte Daniel Burrows. Er war ein schmächtiger Junge mit einem unglaublich roten Haarschopf und er lispelte furchtbar. Sein Gesicht nahm die Farbe seiner Kopfbehaarung an und die anderen Schüler starrten ihn seltsam fasziniert an; wie einen verurteilten Mörder, der gerade die letzten Meter zum elektrischen Stuhl zurücklegt.
"Würdest du diese Tafel als sauber bezeichnen?", fragte Mrs. Clarendon und Daniel überlegte einen Augenblick, suchte vergeblich nach einem Ausweg aus dieser Sackgasse.
"Ich weif nicht.", stammelte er schließlich. Natürlich hatte er sie gewischt, Brian hatte gesehen, dass Daniel sie sogar sehr gewissenhaft gewischt hatte. Kein Schüler der Klasse war dumm genug, wegen so eine Lappalie einen Ausflug auf Mrs. Clarendons Abschussliste zu riskieren.
Sie drehte sich um. Ihr kantiges Gesicht war völlig ausdruckslos, aber ihre Augen fixierten den bedauernswerten Daniel Burrows. "Da sind Schlieren auf der Tafel.", sagte sie.
Daniel starrte betroffen auf sein Schulheft. Brian konnte sehen, dass ihm der Schweiss auf der Stirn stand.
Arschlochkarte gezogen, dachte er.
"Nun?"
Daniel traute sich noch immer nicht, etwas zu sagen. Seine Hände zitterten.
"Gehören Schlieren auf diese Tafel Daniel Burrows?", fragte Mrs. Clarendon etwas lauter.
"Nein Miff Clarendon."
"Dann bewege deinen Arsch nach vorne und mache sie weg!", sagte Mrs. Clarendon und ein Raunen ging durch die Klasse. Brian glaubte, sich verhört zu haben. Sicher, Mrs. Clarendon war eine gemeine alte Nebelkrähe, aber sie hatte noch nie diese unsichtbare Grenze zwischen Demütigung und Beleidigung überschritten.
Zögernd stand Daniel auf und ging nach vorne. Tränen standen in seinen Augen.
"Jetzt können wir ja endlich anfangen. Ich hoffe, keiner von euch hat vergessen, das dritte Kapitel zu lesen."
Brian fand, dass Mrs. Clarendon sich an diesem Morgen ein wenig verschnupft anhörte. Vielleicht wurde sie ja endlich krank. Vielleicht...
"Bevor ich es vergesse: Heute findet eine ärztliche Untersuchung aller Schüler statt. Der Direktor wird euch nacheinander aufrufen und ihr werdet euch schnurstracks in sein Büro begeben. Kein Trödeln auf dem Gang. Haben wir uns verstanden?"
"Ja, Mrs. Clarendon.", sagte die Klasse im Chor.
"Und wenn ihr unterwegs auf die Toilette müsst, solltet ihr nicht alles auf die Brille verteilen, so wie Eric gestern."
Ein erneutes Raunen und alle Kinder starrten auf Eric Fields. Er war knallrot angelaufen und blickte Mrs. Clarendon fassungslos an.
"Daniel, gehst du eigentlich immer noch zu deiner Sprachtherapie?"
"Ja, Miff Clarendon."
Sie lächelte. Einen Moment lang glaubte Brian zu erkennen, dass einer ihrer Schneidezähne fehlte. Aber das war natürlich lächerlich...
"Das ist gut so. Wirklich gut. Eine lispelnde Missgeburt hat es nämlich schwer im Leben, musst du wissen. Und nun setz dich wieder auf deinen Platz."
Das muß ein böser Traum sein, dachte Brian. Sie kann doch nicht einfach so über ihre Schüler reden. Das kann sie einfach nicht machen!
Der Unterricht begann. Sally Anderson hatte das zweifelhafte Vergnügen, das dritte Kapitel zusammenfassen zu dürfen, brachte es aber ohne größere Fehler hinter sich und gerade als sich alles wieder einigermaßen normalisiert hatte, kam die Stimme des Direktors aus der Sprechanlage.
"Charles Harbinger bitte in mein Büro. Charles Harbinger."
Charles erhob sich zögernd. Er war ein fetter Junge (so fett, dass ihn die anderen Schüler manchmal "Titte" nannten und sich fragten, ob seine Eltern in einer Umlaufbahn um ihn kreisen würden, wenn er zuhause war), der selbst im Sommer weite Sweatshirts trug und den Brian noch nie mit einem anderen Jungen zusammen gesehen hatte.
"Nun mach schon, Charles.", sagte Mrs. Clarendon. "Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit. Setz deinen fetten Arsch in Bewegung." Charles öffnete den Mund um etwas zu sagen und schloß ihn gleich darauf wieder. Tränen der Demütigung liefen über sein breites Gesicht, während er den Saal verließ.
Sie machten mit Geschichte weiter. Fünf Minuten später wurde Marcia Samuelson ausgerufen. Wenn Charles Harbinger fett war, dann war Marcia sein weibliches Pendant.
"Wenn die eine weiße Hose trägt, kann man auf ihrem Hintern einen Film zeigen.", hatte ein älterer Schüler Brian einmal versichert und gleich darauf wiehernd gelacht.
Shawn Trippelton war der nächste. Dann Steve Corcoran.
Wir werden ja völlig willkürlich herausgerufen, dachte Brian. Nicht einmal nach dem Alphabet.
Nach einer Stunde waren sie nur noch zu siebt und mittlerweile hatte Brian durchaus ein Schema erkannt: zuerst die Dicken. Alle dicken Schüler waren die Ersten gewesen. Und keiner war bislang zurück gekommen.
Mrs. Clarendon fuhr unterdessen mit ihrem Unterricht fort.
"Lisple uns doch mal das vierte Kapitel.", sagte sie gerade zu Daniel Burrows, als Brian seinen eigenen Namen aus der Sprechanlage hörte.
Langsam stand er auf und betete, dass Mrs. Clarendon ihn einfach so ziehen lassen würde. Aber das tat sie natürlich nicht.
"Du hast doch keine Angst vor der Untersuchung, Brian?", fragte sie leise, als er schon den Türgriff in der Hand hatte. Ihre Stimme war im Laufe der letzten Stunde immer nasaler geworden und Brian war sich mittlerweile ganz sicher, dass ihr ein Schneidezahn fehlte.
"Nur weil du noch ein wenig unterentwickelt für dein Alter bist, brauchst du doch keine Angst zu haben. Wir machen bestimmt keine Fotos davon. Darauf würde man sowieso nicht viel erkennen."
Mit zitternden Händen öffnete er die Tür. Hinter ihm lachte Mrs. Clarendon schallend.
Was geht hier vor? Was um alles in der Welt geschieht hier?
Brian ging sehr langsam durch den Gang. Er warf einen Blick in den nächsten Klassenraum und sah, dass dort nur noch vier Schüler saßen. Mr. Hagström, der Englisch und Französisch unterrichtete und unter den Schülern sehr beliebt war, brüllte etwas und schwang einen Gegenstand, der aussah wie das Paddel eines Ruderbootes.
Einfach wegrennen. Nach Hause rennen.
Als er um die nächste Ecke bog, sah er Mr. Steward, den Hausmeister. Er stand vor dem Haupteingang. In einer Hand hielt er eine Schaufel. Er grinste zahnlos und zwinkerte Brian zu.
An der Tür des Direktors blieb Brian stehen. Er zögerte kurz und klopfte dann an.
"Herein."
Zuerst bemerkte er den Geruch. Schwer und bleiern hing er in der Luft und Brian spürte, wie ihm die Galle hochkam.
Direktor Tennay lächelte ihm zu. Sein Gebiß schien in Ordnung, aber Brian glaubte zu erkennen, dass die Zähne irgendwie spitzer und schärfer aussahen. Er trug einen weiten Wollpulover mit einem aufgestickten Rentier.
"Setz dich Brian.", sagte Direktor Tennay. "Ich muß dir ein paar medizinische Fragen stellen. Das ist keine große Sache. Eine reine Routine sozusagen."
Oh mein Gott, ist das etwa ein Turnschuh, der hinter seinem Schreibtisch hervorschaut?
"Gab es in deiner Familie schon einmal eine ansteckende Krankheit?"
"Nein Sir."
"Krebs, ein schwaches Herz, Arthrithis vielleicht?"
"Nein Sir."
"Eine Geschlechtskrankheit? Syphillis, Tripper?"
Brian errötete. "Nein, Sir."
Direktor Tennay grinste und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
Nein. Er bleckt die Zähne. Wie ein Wolf. Wie ein Wolf, der gerade ein schwaches Schaaf aus der Herde herausgetrieben hat.
"Hervorragend, Brian. Wirklich ganz ausgezeichnet. Geht es dir ansonsten gut? Keine Krankheiten, kein kleines Wehwehchen? Vielleicht ein Hautauschlag oder so etwas?"
"Nein, Sir.", sagte Brian und dann, einer plötzlichen Eingebung folgend: "Nur die Gürtelrose."
Direktor Tennay schreckte zurück. "Gürtelrose?", fragte er und verzog das Gesicht.
"Ja, Sir. Schon mein Großvater hatte sie. Mein Vater hat sie auch."
"So ist das also.", sagte Direktor Tennay und schwieg für einen Moment. Speichel rann ihm aus einem Mundwinkel. "Dann meldest du dich jetzt bei Schwester Allison." Er lächelte wieder, sehr gezwungen. "Reine Routine natürlich."
"Natürlich.", sagte Brian und verließ den Raum. Er schwitzte und hatte das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen.
Nichts wie weg von hier, dachte er, aber Mr. Steward stand immer noch vor dem Haupteingang und stützte sich auf seine Schaufel. Er grinste nicht mehr. Er leckte sich die Finger.
Brian drehte sich schnell von ihm weg und ging zu Schwester Allisons Raum. Der abartige Geruch aus Direktor Tennays Büro war plötzlich überall, lag auf seiner Zunge, kitzelte ihm in der Nase.
Ich glaube ich werde wahnsinnig. So muß es sich anfühlen, wenn man verrückt wird.
Er bemerkte nicht, dass er einfach so in Schwester Allisons Zimmer hinein geplatzt war. Er war schon drei Schritte hinein gegangen, als er sah, was sich vor ihm abspielte.
Das Schwester-Allison-Ding saß auf dem Boden und grub seine Fangzähne in ein abgerissenes Kinderbein. Als es Brian sah warf es das Bein achtlos fort und erhob sich schwerfällig. Die ursprüngliche Schwester Allison war noch da, zumindest teilweise. Aber das Ding darunter war förmlich explodiert. Es hatte den Kopf einer Fliege, zwei große Facettenaugen, aus denen eine eitrige, graue Flüssigkeit tropfte. Eine Reihe gelber Fangzähne. Klauenbewehrte Arme, ein pelziger Oberkörper.
"Kannst du nicht anklopfen?", gluckste das Schwester-Allison-Ding und als es langsam auf ihn zutapste und seine blutverschmierten Klauen nach ihm ausstreckte, fand Brian tatsächlich noch die Kraft zu schreien.
Nachtrag: Eine böse kleine Geschichte ohne Moral und ohne Aussage. Fragt mich bitte nicht, woher die Wesen kommen oder warum sie nur die Lehrer befallen - ich habe keine Ahnung. Aber ist das überhaupt wichtig?