Was ist neu

Geradeaus zum Happy End

Seniors
Beitritt
24.04.2003
Beiträge
1.444
Zuletzt bearbeitet:

Geradeaus zum Happy End

Wir wirbelten kreiselwild durch magnetische Labyrinthe; tanzten auf links gedreht in Gewittern an blauen Sommerhimmeln; küssten jene schreienden Beben auf Lippen voller Johannisbeeren und erdiger Gleichgültigkeit.
Am Ende einer jeden Lebensautobahn wartet möglicherweise der erhoffte Märchenschluss.
Man müsste bloß immer geradeaus fahren.
Doch leider gibt es Ausfahrten.

Es ist September. Der Regen ist mit dem Sonnenuntergang langsam in Hagel übergegangen. Die Dinge ändern sich im Gleichstrom.
Die Abläufe in ihm sind wie ein Film, den man sich wieder und wieder anschaut. Nur ... dieser Film ist etwas Besonderes. Zuerst fällt einem der Unterschied kaum auf. Man bemerkt: Etwas ist anders.
War dieser Laden dort schon immer, oder hat er neu eröffnet? Wird der Protagonist langsam älter, oder ist das Einbildung? Hat er diesen Mantel damals schon getragen, als man den Film zum ersten Mal sah?
Es dauert eine Weile, doch dann wird einem allmählich klar, dass sich die Dinge im Gleichstrom ändern; wie dieser Film, der etwas Besonderes ist, weil man selbst der Protagonist ist.
Im Bad übergibt Markus sich in das Waschbecken, weil der Magen dermaßen rebelliert hat, dass selbst das Heben des Toilettendeckels zu lange gedauert hätte.
Er spült den Mund aus und wäscht sich das Gesicht. Im Spiegel will ihm der Hauptdarsteller zuzwinkern, aber Markus wendet sich rasch ab.

Am Nachmittag schlendert er zum Friedhof. Vorher kauft er eine einzelne Blume.
Sandra mochte keine Sträuße. Ihre Theorie war, dass man im Leben nur eine bestimmte Anzahl an Blumen geschenkt bekommen sollte, weil man das Leben ansonsten vorspulen würde, bekäme man jedesmal einen ganzen Strauß voller Blumen. Also hatte Markus ihr immer nur einzelne Blumen mitgebracht. Lilien. Einzelne Lilien. In all den Jahren sechsundfünfzig Stück. Wobei es eigentlich eine weniger war, da er die Nummer sechsundfünfzig noch in der Hand gehalten hatte, als der Anruf von seiner Mutter gekommen war. An jenem Tag hatte er bis spät Abends einen Termin gehabt, und das Mobiltelefon zu Hause vergessen. So erfuhr er es als Letzter.
Sein spontaner Gedanke damals galt Sandras Theorie, und dass diese Theorie Scheiße war.

Es wird bereits dunkel, als er das Burger King Restaurant betritt. Er bestellt, setzt sich an einen der zahlreichen freien Tische und isst. Nebenbei kramt Markus in seiner Aktentasche.
Die hat er immer dabei, seit er irgendwann einmal die falsche Ausfahrt genommen hat.
Die getrocknete Lilie, die er auf einem Stück Pappe befestigt hat, ist tot, denkt er.
Und dieser Gedanke bringt ein merkwürdiges Gefühl mit sich.
Markus weiß nicht warum, aber er steht einfach auf, verlässt das Restaurant, läuft zielstrebig über den großen Parkplatz ... setzt sich in sein Auto. Später hält er an einem Blumengeschäft. Markus kauft einen Strauß Lilien, und dann fährt er weiter.
In der Stadt ist viel Verkehr, und es dauert einige Zeit, bis er die Autobahn erreicht hat.
Er lächelt kurz, bevor er beschleunigt und das Lenkrad herumreißt.

Der Wagen wirbelt kreiselwild über die Fahrbahn, durchschlägt die Mittelplanke und schleudert in den Gegenverkehr. Markus tanzt auf links gedreht im plötzlichen Gewitter unter klarem Sternenhimmel. Blaue, zerschmetterte Lippen und erdige Gleichgültigkeit.

Vielleicht ist das der Märchenschluss.

 

Ein recht melancholisch bis depressives Pastiche mit einem Hauch von Plot, was du da abgeliefert hast. Ich finde es allerdings sehr großartig, weil du eine ganz besondere Stimmung transportierst, die man schon fast noir nennen könnte, wenn man es denn wollte (oder: neo-noir!).

Die Bilder und Analogien im Text finde ich gelungen, du spielst etwas mit dem Leser, man muss sich darauf einlassen können. Kein Text, den man sich eben schnell reinzieht; ich habe ihn zweimal gelesen.

In diesem Sinne keine Kurzgeschichte, eher eine Erzählung, aber, wie gesagt, Atmosphäre zu erzeugen und Stimmungen (gerade so etwas wie Endgültigkeit und Verlust) gelingt nicht jedem, und ich finde, das ist dir hier sehr gut gelungen. Thumbs up!

Gruss, J.

 

Hallo jimmysalaryman (was ein Nick)!

Erst einmal danke für die netten Worte.
Also per Definition ist das schon eine Kurzgeschichte, aber es ist schon richtig ... ich habe mich ziemlich knapp gehalten, was den Inhalt angeht. Es sollte Raum für Interpretation bleiben, was ja gerade bei kurzen Texten ganz gut funktionieren kann.
Wenn es dann in diesem Fall bei dir sogar tatsächlich funktioniert hat, freue ich mich.

Wünsche noch einen schönen Abend.

Gruß

Cerberus

 

Hallo Cerberus81 (wofür steht das 81? Hells Angels? ;-)

Definitiv gelungen. Für mich funktioniert das, auch in dieser kurzen Form.

Gruss, J.

 

Hallo Cerberus,

Die Stimmung, die du in den ersten zwei Dritteln (oder sinds drei Fünftel?) des Textes erzeugst, ist von so schöner Melancholie, dass ich es sehr bedauert habe, dass du dem:

Er lächelt kurz, bevor er beschleunigt und das Lenkrad herumreißt.
nicht widerstehen konntest.
Natürlich schließt dieses Ende den Bogen zum poetischen Einstieg, es passt auch gut an den Mittelteil mit der Lilien-Theorie (auch kein übler Titel, übrigens). Aber der Selbstmord des Protagonisten scheint mir damit eine irgendwie zu einfache, auch etwas zu laute Lösung für diese so stille Geschichte zu sein. (Obwohl du den Abgang ja nicht besonders grell inszenierst.)
Es ist einfach so, dass ich ab hier:
Markus weiß nicht warum, aber er steht einfach auf, verlässt das Restaurant, läuft zielstrebig über den großen Parkplatz ... setzt sich in sein Auto.
ahnte oder besser: wusste, was kommen würde, und dabei immer noch hoffte, es käme anders. Weil ich finde, dass diese gute Geschichte ein mehr als nur passables und geradlinig folgerichtiges Ende verdient hätte.
Aber damit ist es nun so eine Sache: Auf die Schnelle fällt mir auch keine bessere Lösung ein - und es ist ja klar, dass man noch einmal an der Struktur der Geschichte drehen müsste, wenn man es ändern wollte.

Grüße,
Meridian

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom