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Geradeaus zum Happy End
Wir wirbelten kreiselwild durch magnetische Labyrinthe; tanzten auf links gedreht in Gewittern an blauen Sommerhimmeln; küssten jene schreienden Beben auf Lippen voller Johannisbeeren und erdiger Gleichgültigkeit.
Am Ende einer jeden Lebensautobahn wartet möglicherweise der erhoffte Märchenschluss.
Man müsste bloß immer geradeaus fahren.
Doch leider gibt es Ausfahrten.
Es ist September. Der Regen ist mit dem Sonnenuntergang langsam in Hagel übergegangen. Die Dinge ändern sich im Gleichstrom.
Die Abläufe in ihm sind wie ein Film, den man sich wieder und wieder anschaut. Nur ... dieser Film ist etwas Besonderes. Zuerst fällt einem der Unterschied kaum auf. Man bemerkt: Etwas ist anders.
War dieser Laden dort schon immer, oder hat er neu eröffnet? Wird der Protagonist langsam älter, oder ist das Einbildung? Hat er diesen Mantel damals schon getragen, als man den Film zum ersten Mal sah?
Es dauert eine Weile, doch dann wird einem allmählich klar, dass sich die Dinge im Gleichstrom ändern; wie dieser Film, der etwas Besonderes ist, weil man selbst der Protagonist ist.
Im Bad übergibt Markus sich in das Waschbecken, weil der Magen dermaßen rebelliert hat, dass selbst das Heben des Toilettendeckels zu lange gedauert hätte.
Er spült den Mund aus und wäscht sich das Gesicht. Im Spiegel will ihm der Hauptdarsteller zuzwinkern, aber Markus wendet sich rasch ab.
Am Nachmittag schlendert er zum Friedhof. Vorher kauft er eine einzelne Blume.
Sandra mochte keine Sträuße. Ihre Theorie war, dass man im Leben nur eine bestimmte Anzahl an Blumen geschenkt bekommen sollte, weil man das Leben ansonsten vorspulen würde, bekäme man jedesmal einen ganzen Strauß voller Blumen. Also hatte Markus ihr immer nur einzelne Blumen mitgebracht. Lilien. Einzelne Lilien. In all den Jahren sechsundfünfzig Stück. Wobei es eigentlich eine weniger war, da er die Nummer sechsundfünfzig noch in der Hand gehalten hatte, als der Anruf von seiner Mutter gekommen war. An jenem Tag hatte er bis spät Abends einen Termin gehabt, und das Mobiltelefon zu Hause vergessen. So erfuhr er es als Letzter.
Sein spontaner Gedanke damals galt Sandras Theorie, und dass diese Theorie Scheiße war.
Es wird bereits dunkel, als er das Burger King Restaurant betritt. Er bestellt, setzt sich an einen der zahlreichen freien Tische und isst. Nebenbei kramt Markus in seiner Aktentasche.
Die hat er immer dabei, seit er irgendwann einmal die falsche Ausfahrt genommen hat.
Die getrocknete Lilie, die er auf einem Stück Pappe befestigt hat, ist tot, denkt er.
Und dieser Gedanke bringt ein merkwürdiges Gefühl mit sich.
Markus weiß nicht warum, aber er steht einfach auf, verlässt das Restaurant, läuft zielstrebig über den großen Parkplatz ... setzt sich in sein Auto. Später hält er an einem Blumengeschäft. Markus kauft einen Strauß Lilien, und dann fährt er weiter.
In der Stadt ist viel Verkehr, und es dauert einige Zeit, bis er die Autobahn erreicht hat.
Er lächelt kurz, bevor er beschleunigt und das Lenkrad herumreißt.
Der Wagen wirbelt kreiselwild über die Fahrbahn, durchschlägt die Mittelplanke und schleudert in den Gegenverkehr. Markus tanzt auf links gedreht im plötzlichen Gewitter unter klarem Sternenhimmel. Blaue, zerschmetterte Lippen und erdige Gleichgültigkeit.
Vielleicht ist das der Märchenschluss.