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Genesis
Michael setzte sich mit seinem Getränk an das Steuerpult. Er war schon ganz aufgeregt. Diesmal würde sein Experiment mit Sicherheit gelingen. Nachdem bereits drei schiefgegangen waren, hatte er die Messergebnisse von allen dreien ausführlich analysiert und das Setup wesentlich verbessert. Es brauchte deutlich mehr Wasser. Das hatte er die ersten beiden Male komplett unterschätzt und beim dritten immer noch zu wenig berücksichtigt. Erde war zwar wichtig, aber Wasser wichtiger. Und die Mineralien hatte er neu zusammengestellt. Mineralogie war nicht seine Stärke. Deswegen hatten wesentliche Stoffe im Experiment gefehlt oder waren zu gering gewesen. Aber Gabriel hatte ihm geholfen, Auswahl und Verteilung der Mineralien zu verbessern. Nun sollte die Zusammensetzung optimal für ein Wachstum sein. Das nächste und hoffentlich entscheidende Experiment konnte beginnen.
Am Anfang des Experiments mussten sich die Stoffe zuerst vermischen und miteinander reagieren, um komplexere Stoffe und Strukturen aufzubauen. Das dauerte bei jedem Setup ziemlich lange. Aber Michael kannte das schon und wusste, dass es eine zwingende Voraussetzung war, damit sein Experiment gelingen konnte. Also lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und ließ seine Gedanken schweifen. Er dachte an die viele Vorarbeit zu den Experimenten, die entscheidenden Arbeitshypothesen, mit denen er wesentlich von den Ansichten seiner Kollegen abgewichen war und auch an die heftigen Streitgespräche, als er seine Arbeitshypothesen zur Diskussion gestellt hatte. Keiner seiner Kollegen wollte seinen Hypothesen folgen, im Gegenteil, sie lehnten sie als absurd ab. Aber er war sich sicher, auf dem richtigen Weg zu sein, und hatte sich deshalb die Erlaubnis für diese Experimentenreihe bei seinem Chef erbettelt. Wenn dieses Experiment erfolgreich war, konnte er es allen zeigen!
Nach gut drei Stunden waren die ersten größeren Strukturen zu erkennen. Das war immer noch nicht das, was Michael am Ende erreichen wollte, aber er wusste, dass er auf einem guten Weg war. Das Experiment verlief in der Anfangsphase genauso wie die vorhergehenden. Die veränderten Parameter hinsichtlich Wasser und Mineralien sollten sich erst später auswirken. Also trank er genüsslich weiter an seinem Getränk.
Dann endlich entstanden die ersten Kulturen und breiteten sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit auf dem ganzen Setup aus. Michael lehnte sich nach vorne und beobachtete die Ausbreitung ganz genau. Sie war deutlich schneller als bei allen drei vorhergehenden Experimenten. Die Veränderung der Parameter hinsichtlich Wasser und Mineralien war also der entscheidende Kick gewesen, den sein Experiment gebraucht hatte. Er war begeistert, wie schnell die Ausbreitung der Kulturen erfolgte und träumte schon davon, wie er voller Stolz seine Ergebnisse im Team präsentieren würde, als er die erste Lücken in den Kulturen entdeckte. Die Lücken wurden immer größer und schließlich brachen die Kulturen zusammen. Enttäuscht wollte er das Experiment abbrechen, als ihm auffiel, wie andere, kleinere Kulturen zu wachsen begannen. Fasziniert beobachtete er die rasante Veränderung in der Zusammensetzung der Kulturen. Scheinbar hatten sich die kleineren Kulturen nicht durchsetzen können, solange die größeren da waren. Als diese zusammenbrachen, war genug Platz für die anderen vorhanden und diese konnten nun ihr Wachstum beschleunigen. Zufrieden lächelnd lehnte sich Michael in seinen Stuhl zurück und freute sich, dass er das Experiment nicht abgebrochen hatte. Er schien doch noch sein Ziel zu erreichen.
Nach weiteren zehn Minuten brachen die neuen Kulturen ebenfalls zusammen. Er verzweifelte. Was stimmte nicht mit seinem Setup? Es waren genug Ressourcen für das Wachstum da. Und trotzdem ging alles wieder ein. Ihm war klar, dass das göttliche Prinzip besagte, dass alles im Gleichgewicht sein musste oder wieder ins Gleichgewicht zurückfinden würde. Aber er hatte doch genau das vorgesehen. Sein Setup sollte wachsen und sich dann in einem Gleichgewicht einpendeln. Es passierte jedoch das Gegenteil. Als er die Hoffnung hatte, das Setup würde endlich ein Gleichgewicht erreichen, brachen die Kulturen zum dritten Mal zusammen. Andere wiederum begannen zu wachsen, brachen aber schließlich selbst wieder ein. Während er über die Ursachen für das wiederholte Zusammenbrechen nachdachte, fiel ihm auf, dass die Abläufe immer dem gleichen Prinzip folgten: eine dominante Kultur musste zusammenbrechen, damit eine andere, weiter entwickelte aus deren Schatten treten konnte. Aber auch wenn dies eine interessante Beobachtung war, hatte er in dem Moment jedoch keine Zeit dafür, denn die neue Kultur, die gerade heranwuchs und alles andere dominierte, war genau das Gegenteil von dem, was er eigentlich erreichen wollte. Unsicher beobachtete er diese eine Zeit lang. Er hatte die leise Hoffnung, dass sie wieder zusammenbrechen würde und eine neue entstehen könnte. Da würde ihm das Prinzip, das er eben beobachtet hatte, zupasskommen. Er sah auch ein paar Kulturen, deren Ausbreitung ihm besser gefallen hätte. Aber die dominante Kultur wollte einfach nicht einbrechen. Er wurde nervös. Damit wäre sein Experiment zwar geglückt – es entstand eine komplexe, ausgereifte Kultur aus einem unstrukturierten Mix von Stoffen. Aber glänzen konnte er damit nicht. Seine Kollegen würden sich über seine komische Kultur lustig machen.
Als nach weiteren Minuten gespannten Wartens keine Veränderung der Kultur abzusehen war, sich im Gegenteil ein sehr stabiles System eingestellt hatte, fasste er einen Entschluss: Er würde eingreifen. Vorsichtig schaute er sich im Labor um, ob jemand zu sehen war. Falls sein Experiment doch noch glücken sollte, durfte keiner wissen, dass er ein bisschen nachgeholfen hatte. Er könnte später immer noch an dem Experiment-Setup drehen, um es ohne den Eingriff hinzubekommen. Mit dieser Rechtfertigung, die in erster Linie sein Gewissen beruhigen sollte, nahm er einen Stein aus der Materialkiste und warf ihn in das Setup. Es gab einen Knall und mit einem Schlag gingen alle Kulturen ein. Die Kulturen dorrten in einer Geschwindigkeit aus, dass er bereute, einen so großen Stein genommen zu haben. So hatte er sich sein Experiment versaut.
Doch während er sich ärgerte, legte sich der Staub, den der Einschlag des Steins aufgewirbelt hatte, und er konnte wieder sich ausbreitende Kulturen erkennen. Zuerst waren es nur sehr wenige – der aufgewirbelte Staub hatte den kompletten Boden bedeckt. Doch mit jeder Lücke in der Staubwolke wurde das Wachstum angespornt. Es breiteten sich die Kulturen aus, welche von der dominanten Kultur vor dem Steineinschlag an den Rand gedrängt worden waren, insbesondere die Kultur, die er zuvor entdeckt und auf deren Wachstum er gehofft hatte. Die neuen Kulturen entfalteten sogar eine Blüte, die er noch nicht gesehen hatte. Alles wuchs schneller und entwickelte eine deutlich größere Vielfalt als zuvor. Michael war begeistert. Sein Experiment sollte doch noch gelingen. Schnell lief er in den Nachbarraum, um sein Getränk aufzufüllen, das er in der Zwischenzeit komplett leer getrunken hatte. Als er wiederkam, traute er seinen Augen nicht. Sein Setup war komplett verwüstet und alle Kulturen tot. Der Boden war vollständig verbrannt und alles Wasser auf Grund einer enormen Hitze verdunstet. Die Überreste seines Setups waren lebensfeindlicher als der Vorhof zur Hölle. Diesmal gab es keine Hoffnung mehr, dass sich irgendeine Kultur erholen würde. Das hatte er noch in keiner der vorhergehenden Experimente beobachtet. Wie konnte das geschehen? Was war da passiert? In nur zwei Minuten, in denen er das Getränk nachgefüllt hatte, konnte doch nicht alles zugrunde gehen.
Schockiert setzte er sich an sein Setup. Zum Glück wurde alles gemessen, gefilmt und protokolliert. Also spulte er den Film bis zu dem Zeitpunkt zurück, als er den Stein ins Setup geworfen hatte, und schaute sich gespannt die weitere Entwicklung an. Und was er sah, schockierte ihn noch mehr, weil genau das passiert war, was er erhofft hatte. Die dominante Kultur ging durch den Steinwurf unter und eine andere, viel leistungsfähigere übernahm die Vorherrschaft. Sie breitete sich aus, bildete komplexere Strukturen und variierte die eigenen Fähigkeiten in einem derart atemberaubenden Tempo, wie er es zuvor noch nie gesehen hatte. In den letzten Sekunden vor dem Zusammenbruch passierte so viel, dass Michael mehrfach zurückspulen musste, um die Geschehnisse vollständig zu erfassen. Dann endlich begriff er, was der Grund für den Zusammenbruch war. Die Kultur hatte ihre Fähigkeiten solange potenziert, bis sie die Konsequenzen des eigenen Handelns nicht mehr überblicken konnte und schließlich das ganze Setup zur Explosion brachte. Danach war alles abgestorben und endgültig keine Chance mehr auf Erholung. Am Ende seiner Analyse hatte Michael das Gefühl, dass seine Kollegen vielleicht doch Recht hatten. Einsicht konnte nicht entwickelt werden. Es war ein göttliches Geschenk.