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Gelbes Haus
Der Mann, der Hausmeister bei uns ist, sagt zu mir: „Ich hasse das Internet. Mein Sohn sitzt den ganzen Tag nur noch vorm Computer.“ Dagegen finde ich das Weltweite genial, habe aber lange gegrübelt, ob ich es, präziser ausgedrückt das, was sich wichtigtuerisch Rechercheergebnisse schimpft, in meine Texte mit reinnehme. So was ist eigentlich total unliterarisch. Aber blättere ich hier die Seiten von alten Folianten um, oder habe ich die Finger auf dem Touchpad?
Ich entschied mich dafür, da ich annehme, Hemingway, Henry Miller, oder, um noch weiter zurückzugehen, auch Zola und Balzac, und wie sie alle heißen, hätten das genauso gemacht, wenn sie es gekonnt hätten. Aber damals gab es ja noch keine Computer. Sogar Goethe würde davor nicht zurückgeschreckt sein.
„Ein Wunder. Das kann nicht sein. Das Haus sieht ja noch genauso aus wie damals“, denke ich. Das Video hatte ich gefunden, als ich nach unserer Berufsschule googelte. Die Kamera schwenkte über den Komplex aus Wohnheim und Schule. Alles in demselben frischen Gelb, wie ich es schon kannte, als ich dort noch Lehrling war. Zwischen den beiden Gebäuden lag eine kleine grüne Wiese, die ebenfalls noch so aussah wie damals. „Die perfekte Konservierung“, dachte ich.
Was empfinde ich bei dem Anblick, den ich lange nicht hatte, da ich nie ein Klassentreffen besuche? Denn da müssen Ergebnisse her, sonst kann es peinlich werden.
„Eigentlich gar nichts. Weder negatives noch positives“. Das ist jedenfalls mein erster Eindruck. Ich muss aber eingestehen, dass sich nach einem Weilchen dann doch irgendwie ein beklemmendes Gefühl einschlich, und außerdem rieb ich mir die Augen vor Verwunderung darüber, dass sich wirklich so gar nichts verändert hat seit der Zeit, die seit meiner Lehre verflossen ist.
Damals erkundigte ich mich gleich am ersten Tag nach dem Weg zur Bibliothek. Sie war ganz in der Nähe von dem Internat, wo ich als Lehrling drei Jahre lang wohnte. Ich machte eine Ausbildung in der Landwirtschaft mit Abitur.
Da ich bevorzugt nach Autoren mit englischklingenden Namen griff, fiel mir ein Band mit Kurzgeschichten eines gewissen Bellow in die Hände. Überhaupt las ich zu dieser Zeit die Amerikaner am liebsten. Ihr Schreibstil war einfach moderner und mehr am Zeitgeist dran.
Die Storys hatten was. Am besten aber auch verstörendsten fand ich „Die Hinterlassung des gelben Hauses“. Beim Lesen überfiel mich eine Ahnung, dass es zwischen dieser Frau namens Hattie, die jenseits der Seventy ist, und der das Wasser bis zum Hals steht und mir, die gerade Seventeen war, Gemeinsamkeiten gab.
War das ein Fingerzeig des Schicksals, das man wie eine Last auf seinem krummen Rücken mit sich rumschleppt, und dem man angeblich nicht entkommen kann? Ein Blick in die Zukunft? Da schien mir noch einiges bevorzustehen. „Was kann man machen? Wie kann man sich wappnen, damit es einem nicht genauso ergeht?“, fragte ich mich. Das Mittel gegen eine Niederlage im Überlebenskampf schien mir in der Liebe und der Familie zu liegen. Er verliebt sich in mich, ich mich in ihn, und alles wird gut. „Und sie lebten glücklich bis Ende ihrer Tage“, wie es in den Märchen immer hieß.
Die alte Lady war mir ganz und gar nicht geheuer. Aber ich fand es cool, wie sie ihren Frust mit Whiskey runterspülte wie ein Kerl. Die Frauen in ihrem Alter, die ich kannte, liefen den ganzen Tag mit Kittelschürzen rum, interessierten sich nur für ihre Enkel, und nur zu hohen Feiertagen stießen sie mal mit einem Glas Wein an.
Wenn ich sie mit ihnen verglich kam Hattie mir trotz ihrer Gebrechlichkeiten wie eine junge Frau vor. Eigentlich blieben mir die betagteren Frauen bei uns auf dem Dorf immer ein Rätsel. Sie zerfielen zu Staub, ohne sich ausgedrückt zu haben. Auf dem Grabstein stand ganz groß Mama drauf.
Vielleicht ist es mir beschieden, sie dem Vergessen zu entreißen. Einmal, das ging ich noch in die Schule, saß ich vor der Bushaltestelle in meinem Dorf mit zwei old Ladys in Hatties Alter auf der Bank und lauschte ihrem Dialog.
Weiter gekommen als bis zur Kreisstadt, in die wir gerade fuhren, waren die beiden aber noch nie, von der alten Goldgräbersiedlung in der Wüste, wo das Gelbe Haus stand, in dem Hattie lebte, ganz zu schweigen.
Aber vielleicht wollten auch sie immer die Welt sehen. „Trude, ich hab gehört, der Nachbarsjunge ist jetzt mit deiner Nichte zusammen.“ Die andere: „Es ist nicht meine Nichte, sondern meine Großnichte. Sie ist neunzehn und kommt aus Stralsund. Der Bengel hat mir leid getan, weil er bei uns keine Freundin findet. Da habe ich gedacht, aus den beiden mache ich ein Paar. So habe ich das Mädchen zu uns eingeladen. Die beiden waren von Anfang an unzertrennlich. Jeden Tag sind sie zusammen angeln. Im März gehen sie zum Standesamt.“ Zeiten waren das. Da wurd ne Frau noch verheiratet.
Zu Hause habe ich nachts immer solange gelesen, bis mir die Augen zu fielen. Hier im Lehrlingswohnheim wurde um zehn das Licht ausgedreht, und ich lag noch stundenlang wach, da ich in dieser Zeit wenig Schlaf brauchte.
Jeden Abend die Forderung: „Frieda, mach endlich dein Buch zu.“ Das hat bei mir dazu geführt, dass ich jetzt nur noch nach null Uhr, mit laufendem Fernseher und Lampe schlafen kann, ansonsten kommt es mir vor, als wenn ich wieder im Lehrlingswohnheim bin.
Um die Geschichte über das Gelbe Haus weiter zu lesen, verfiel ich auf die Idee mich im Waschraum in die Duschkabinen zu setzen.
Ein Mädchen aus dem Nebenzimmer, ein Lehrjahr über mir, die zur Toilette ging und mich nicht gleich sah, erschrak, als ich „Hallo“ sagte. Sie fragte: „Was machst du denn da?“ Ich erwiderte: „Ich lese“. Sie darauf: „Was liest du denn?“ Ich antwortete:„Wallenstein. Ich muss einen Vortrag halten.“ Wenn ich was anderes gesagt hätte, wäre ich auf unserm Gang vielleicht noch ins Gerede geraten, und sie hätten über mich mit dem Kopf geschüttelt.
Außerdem wollte ich nicht weitschweifig erklären müssen, was es mit diesem Mister Below auf sich hatte, wegen dem ich nachts in der Dusche saß. Aber genauso, wie ich befürchtet hatte, kam es.
Sie erwiderte: „Du spinnst doch“, und lachte dabei. Denn sie kannte die weißen Schulausgaben für Pflichtliteratur nur zu gut und wusste, dass die anders aussahen. „Zeig mal her. Sie nahm das Buch in die Hand und fragte neugierig: „Erzähl mal, worum es geht?“ Ich antwortete: „Die Handlung ist eigentlich schnell erzählt.
Eine Frau, die Hattie heißt, lebt allein, weit entfernt von jeglichem Familienglück, in einem Gelben Haus in der Wüste, hat sich alle Knochen gebrochen und muss deswegen ihr Haus verkaufen und in die Stadt ziehen, da sie die Gangschaltung von ihrem alten Auto, mit dem sie einkaufen fährt, nicht mehr bedienen kann.
Sie kann ja schließlich nicht verhungern. Kurz gesagt: „Sie hat die Scheiße am kochen“.
Das Ende ist offen, aber ich glaube, sie bleibt, und es läuft alles irgendwie weiter. Der Supergau. Alt, steife Knochen, kein Geld. Genau das, was keiner will.“
Sie wunderte sich: „Und so was Gruseliges liest du? Sie schüttelte sich.
„Dann les man schön weiter.“ Sie wünschte mir noch: „Gute Nacht“, und verschwand in ihrem Zimmer, um dort weiter von ihrem Verlobten zu träumen, wie scheinbar alle bei uns im Wohnheim. Als sie weg war, konnte ich endlich weiterlesen, denn in dem Buch gab es noch mehr Storys.
Ich kannte sie, ein hübsches, sanftmütiges Mädchen, gut, weil wir auf dem Bahnhof der selben kleinen Stadt einstiegen und oft zusammensaßen, während die karge Landschaft unserer Heimat, bestehend aus Kartoffel-und Rübenfeldern, an uns vorbeiflog. Sie war verliebt. Ihr Matrose trug ihr immer die Tasche, wenn er gerade auf Urlaub war. Beim Abschied flossen Tränen.
Für sie drehte sich alles nur noch um ihn, sie kannte nur ein Thema und hatte mir ein Album gezeigt, wo sie Bilder von ihm eingeklebt hatte.
Gleichauf der ersten Seite lag er als Baby auf einem Bärenfell. „Das Foto habe ich von seiner Großmutter bekommen“, sagte sie. Auch von mir existierte so ein Foto. Gleiches Fell, gleicher Fotograf. Bloß seines ist ein paar Jahre älter.
So wie sie waren eigentlich die meisten Mädchen bei uns in der Berufsschule. „Was war mit mir los, dass ich nicht war wie sie?“, dachte ich. War ich etwa neidisch? Hoffentlich wurde ich nicht langsam genau wie meine Mutter. Wie ich es hasste an ihr, dass sie ständig ihr Leben eintauschen wollte gegen das von anderen und sich betrogen vorkam. Übrigens am meisten mit ihrer Tochter. Eine typische Verlierermentalität.
Außerdem war mir ihr Matrose, mit dem sie verlobt war, viel zu normal.
Ich hatte mich gleich in der Einführungswoche in jemanden aus meiner Klasse verliebt, ein langhaariger Bluesfreak, der die größte Klappe auf der ganzen Welt besaß. Die ganzen drei Jahre hielt das an.
Ich sah ihn danach nie wieder. Was nicht ganz stimmt. Es gibt ja das Weltweite, unser aller Informationsquell.
Wem nützt die Liebe in Gedanken? Keinem. Außer vielleicht damals Goethe. Sonst hätte er seinen „Werther“ nicht schreiben können. Genau, wie man in vielen Adoleszenzfilmen sieht, blieb es einseitig. Auf ihn konnte ich nicht zählen beim Kampf gegen die Unbilden des Lebens, das war mir klar.
Im letzten Lehrjahr war sie hochschwanger. Bald würde der Fotograf auf seinem Bärenfell, falls es noch nicht von Motten zerfressen war, den neuen Erdenbürger auf Zelluloid bannen.
Ein Schicksal wie Hatties schien ihr nicht zu blühen. Jedenfalls sah es so aus. Sie war dabei, einen Kokon aus Familienglück um sich herum zu spinnen, der sie vor den Widrigkeiten des Lebens beschützte. Aber kann man die Zukunft vorhersagen?
Sie hatte ihre Mutter verloren, weil die sich totgetrunken hatte.
Das hatte mir meine Mutter erzählt, die alles wusste, was im Umkreis geschah. Vielleicht gab es da ja eine genetische Veranlagung.
Außerdem erzählte man sich bei uns im Wohnheim, da war sie schon eine Weile ihre Lehre beendet, dass ihr Freund mit ihrer besten Freundin durchgebrannt war und außerdem noch ihr Konto abgeräumt hatte. Aber er war reumütig, und es wurde ihm vergeben, was mich nicht wunderte. Mein Glaube war erschüttert. Ihrer bestimmt auch. „Auf nichts ist mehr Verlass“, dachte ich. In der Liebe schien auch nicht die Rettung zu liegen.
„Warum müssen in Büchern oder Filmen die interessanteren Frauen, wie Hattie eine ist, eigentlich immer schlecht enden?“, dachte ich. Zu Teeniezeiten musste ich entsetzt vor dem Fernseher miterleben, wie Simone Signoret sich in "Der Weg nach oben" vor ein Autostürzte, wie Brigit Bardot sich in die "Die Wahrheit" die Pulsadern durchschnitt, und wie Elisabeth Taylor in "Telefon Butterfield 8" mit dem Auto von der Klippe fiel. Was wollen uns die Filmemacher mit diesem ganzen Totentanz sagen? Das es besser für eine Frau ist, nicht zu interessant zu sein?
Ich denke, das kommt daher, weil das Filme sind, die von Männern gemacht wurden und ihrem Wunschdenken entsprangen, dass die Frau, die sich den Bedürfnissen der Männer nicht gut genug anpasst, bestraft wird ,indem sie scheitert.
Sie zeigen einem, was aus einem wird, wenn man sich nicht an die ungeschriebenen Regeln hält.
Ich hatte immer verwundert registriert, dass Männer mit Unangepasstheit bei Frauen punkten können, aber nicht umgekehrt.
Oft sind sie in Wahrheit gar nicht der Rebell, als der sie sich geben und tun nur so, als wenn sie etwas ändern wollten an den vorherrschenden Zuständen. Und doch war das, was viele Frauen an ihnen wirklich anzog, die Hoffnung, dass sie nicht wie die anderen Männer sind.
Wir hatten den Wunsch, auf einen unabhängigen Geist zu treffen, der alles in Frage stellt, was die bisherige Gesellschaft ausgemacht hat, besonders deren Frauenbild mit der Forderung nach Anpassung. Aber sowas geht ja gar nicht, dass einer die Ausbruchsfantasien des anderen auslebt. Sozusagen als sein Stellvertreter. Das muss man schon selber machen.
Obwohl sie mir gefiel, wusste ich nicht, was der Schriftsteller mit der Story eigentlich rüberbringen wollte. So lief ich mit einem riesengroßen Fragezeichen im Kopf durch die Gegend. Dass es ein Gleichnis war, und dass die Wüste symbolisch für das Leben steht, wurde mir ausgerechnet in dem Moment klar, als ich, mein Hängerkabel in der Hand – wenn man das vergaß, wurde es geklaut - an der Kreuzung stand, übrigens die größte im Dorf, wo die neugebaute Straße, die vom LPG-Hof kam, die Hauptstraße traf, die sich vom Bahnhof durchs ganze Dorf zog.
Ich kam gerade vom Wirtschaftshof, wo wir unsere Traktoren immer abstellten. Warum inspirierte ausgerechnet der Ort, wo sich die Straßenkreuzung befand, meinen Geist?
Als er die Story verfasste, war der Mr.Bellow in den Dreißigern und Hattie wahrscheinlich sein alter ego in Gestalt einer siebzigjährigen Frau. Ich glaub gar nicht mal, dass Hattie eine Tante oder so was in der Art von ihm war. Ich denke, er schreibt über sich selbst. Es ist schon eigenartig, wenn man jung ist und versucht, sich in sich in den hineinzuversetzen, der man mal sein wird, wenn man alt ist. Ein Zustand, der noch in weiter Ferne liegt, weshalb man entspannt damit umgehen kann.
Jetzt wird viele interessieren, ob die Prophezeiung eingetroffen ist, und ich ähnliches wie Hattie erlebt habe. Meine Antwort, kryptisch mit Heinrich Heine ausgedrückt, ist: „Meine Waffen sind nicht gebrochen, nur mein Herze brach.“*
Der Lehrer bringt den Stapel Aufsatzhefte mit in das Klassenzimmer. Die Hefte haben alle rote Plastikumschläge. Das ist so vorgeschrieben. Aber nicht alle sind in demselben Farbton. Manchmal tendiert er ein bisschen ins gelbe oder ins orangene. Das geht gerade noch so durch. Der Ausreißer ist ein blaues Heft. Es gehört dem Klassenschlechtesten. Er hat es nicht in den Griff bekommen, sich rechtzeitig einen Umschlag in der selben Farbe, die die Aufsatzhefte von uns anderen Fünfklässlern haben, zu besorgen. Als seine Mutter in die Kreisstadt fuhr, waren im Papiergeschäft nur noch blaue und grüne vorrätig. Behauptet er jedenfalls, aber keiner glaubt ihm. Alle wissen, dass die Familie kein Geld für Schulhefte hat, weil sein Vater zu tief ins Glas kuckt.
Der Lehrer öffnet das oberste Heft. „Frieda Kreuz. Thema verfehlt. Fünf.“ Mir erstarrt das Blut in den Adern. Noch nie habe ich in Deutsch eine Fünf bekommen. Was sage ich meiner Mutter, die Deutsch unterrichtet. Da kann ich mich auf was gefasst machen
*Zitat: Enfant perdu