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GehHeimTipps
"Ich habe keinen Freund hier." Etwas bedröppelt guckt mich die Dame, eine gut gekleidete Mitvierzigerin, an. "Naja", sagt sie schließlich, "Sie wissen schon, wie ich's meine." Und ob ich es weiß, lasse es mir aber nicht anmerken. Dumm stellen kann sich nur jemand, der nicht dumm ist. Und ich bin, in aller Bescheidenheit, alles andere als dumm.
Allerdings scheint das so mancher anzuzweifeln. Wie sonst nämlich zu erklären, dass man mich, wie gerade eben geschehen, darauf hinweisen zu müssen glaubt, dass ich mich in einem "Wagen der ersten Klasse" befinde. Dass mir das durchaus bewusst sei, habe ich - so höflich wie es mir nur möglich war - geantwortet. Doch werde ich damit, allem Anschein nach, die Erwartungen der freundlichen Tippgeberin, nicht gänzlich erfüllt haben. Jedenfalls fühlte sich diese bemüßigt, zu ergänzen, es sei ihr nur deshalb der Erwähnung wert gewesen, weil "einer meiner Freunde" in eben jenem Wagen der ersten Klasse vom Zugbegleiter angetroffen, und, wohl in Ermangelung einer ihn dazu berechtigenden Fahrkarte, aus demselben recht unsanft, denn sie spricht davon, dieser sei "rausgeschmissen worden", hinausbefördert wurde. Man wird ihn, den ominösen Freund, von dessen Existenz ich bisher nichts ahnte, viel eher zum Verlassen desselben aufgefordert haben, denke ich, behalte es aber für mich. Stattdessen versichere ich der besorgt auf mich wirkenden Dame, ich habe an Bord niemanden, von dem ich behaupten könnte, mit ihm befreundet oder auch nur bekannt zu sein. Sie habe es ja, ergänzt sich nach einer kleinen Pause, in der ich mich dazu zwinge, weiterhin ruhig zu bleiben, "nur gut gemeint".
Das Gutgemeinte geht oftmals dem Schlechtgemachten voraus. Diese Erkenntnis scheint nun auch in meiner Mitreisenden zu keimen. Sie wird sich womöglich überlegen, wie sie ihren Fauxpas wiedergutmachen könnte. Sie muss mir auch gar nicht erklären, wie sie auf die - für mich persönlich - abstruse Idee komme, einen der sich mit mir - gleicherweise aber auch ihr selbst - mit im Zug Befindenden und meine Wenigkeit verbinde eine Freundschaft. Das weiß ich bereits. Sagen "wir" denn nicht immerzu "Bruder" zueinander? Ich kann mich froh schätzen, das bisher auch sie mich gerade heraus geduzt habe. Da bin ich ganz anderes gewohnt.
"Was machst du hier?", wollte unlängst ein etwa halb so alter Mann von mir wissen, an einer Haltestelle neben mir auf den Bus wartend. "Dasselbe wie Sie, schätze ich.", habe ich geantwortet. "Geh doch heim!", raunzte er mir zu, bevor er sich bei Ankunft des Fahrzeugs an mir vorbei in sein Inneres drängelte. Und auch das ist ein ähnlich gut gemeinter wie überflüssiger Rat gewesen, denn ich befand mich tatsächlich auf dem Weg nach Hause. Einen Augenblick lang überlegte ich dennoch, ob ich ihm folgen und den Fußmarsch antreten sollte. Doch es war spät, ich selbst müde und ein gewisser Trotz, den ich damals für Mut gehalten haben mag, überwog die Angst, mir den einen oder anderen weiteren "Ratschlag", vielleicht sogar auch einen aus dem zweiten Teil des Kompositums bestehenden, tatkräftigeren und umso besser gemeinten "Hinweis", gefallen lassen zu müssen.
Und in der Tat war der Platz im Wagen, wie zu dieser Stunde, da sich die meisten, die einer regulären Arbeit nachgehen, auf dem Heimweg befinden, nicht anders zu erwarten war, nicht ausreichend, als dass wir, der junge Mann mit dem kurzgeschorenen Haar, und ich, jemand, der trotz des Anzugs und der Aktentasche, in dessen Augen keinen oder zumindest einen geringeren Anspruch auf die Beförderung im ÖPNV hatte, uns aus dem Wege gehen, oder nicht in dem gleichen einander hätten stehen können. Zu einem weiteren Wortgefecht, welches vermutlich ohnehin sehr einseitig verlaufen wäre, denn trotz allem mir selbst angedichteten Mutes, ziehe ich in solchen Situationen den Rückzug einer Flucht nach vorne vor, kam es allerdings nicht mehr.
Bei der Dame im Zug allerdings beschloss ich in die Offensive zu gehen, wenn auch eine "kontrollierte". Der Ball liegt nun in ihrer Spielhälfte. Ich kann einfach abwarten. "Sie wissen schon, wie ich's meine", hatte sie gesagt und ist seitdem, gequält lächelnd, neben meinem Sitz gestanden.
Mir sind die Menschen, die ihre Ablehnung ganz offen zur Schau stellen fast lieber, als jene, die die ihre hinter einer aus vorgespielter Neugier verstecken. "Wo kommst du her?" ist doch nur eine andere Form von "Was willst du hier?" Ganz enttäuscht reagieren die meisten Fragenden, wenn sie etwas so wenig Exotisches wie "München" zur Antwort erhalten. Allerdings haken nur die Wenigsten unter ihnen nach, wie das die junge Dame, deren Bekanntschaft ich auf der Geburtstagsparty meiner Vorgesetzten kürzlich machen durfte, und der ich, da ich sie für überaus attraktiv und nicht gerade unsympathisch gehalten hatte, den, wie man so sagt, Hof machte, wie folgt nach: "Nein, das meinte ich nicht. Woher genau? Die Familie." "Ach", entgegnete ich damals und spielte den Ahnungslosen, "Das meinst du. Meine Eltern kommen aus Eichenau." Schlagartig ist die gegenseitige Anziehungskraft aufeinander, die ich bis dahin zu verspüren glaubte, verflogen. Und ich überlege bis heute, ob ich das bereuen sollte, ob ich damit die Chance vertan habe, dass aus der flüchtigen Bekanntschaft, etwas mehr erwachsen hätte können. So aber blieb es bei einer von mir unbeantworteten Freundschaftsanfrage ihrerseits - immerhin sind wir soweit gekommen, unsere Kontaktdateb auszutauschen - auf dem Portal eines sogenannten sozialen Netzwerks. Zu einer Statusänderung, wie ich es mir insgeheim gewünscht habe und insgeheim immer noch wünsche, ist es jedoch - leider, zum Glück - nicht gekommen.
Und so habe ich, als mich einige Wochen später, im Rahmen einer Verkehrskontrolle, ein Polizeibeamter nach meinem Status fragte, anfangs noch angenommen, er wolle sich danach erkundigen, ob ich in festen Händen, oder, "noch zu haben" sei, und mich noch gewundert, dass sich die Ordnungsmacht neuerdings für das soziale Leben der Staatsbürger zu interessieren begonnen habe. Als ich, darüber nachgrübelnd, eine Antwort schuldig blieb, unvermittelt aufgefordert wurde, mich "auszuweisen", klang das für mich wie der Wunsch, einer zwangsweisen Abschiebung aus dem Land, das nicht weniger meine wie die Heimat des mich kontrollierenden Beamten ist, mit einer "freiwilligen Ausreise" zuvorzukommen.
Das mag daran liegen, dass ich es, wie viele andere, die mir, wenn auch nur aufgrund der äußeren Erscheinung, ähneln, Gefahr laufe, wo auch immer ich in der Öffentlichkeit, bevorzugt aber in Parks und an Bahnhöfen, aufzutauchen wage, einer sogenannten "verdachtsunabhängigen Kontrolle" unterzogen zu werden. Allerdings ist mir das, seit ich, dem berufsüblichen Dresscode geschuldet, meist in Anzug und Krawatte unterwegs bin, recht lange nicht mehr widerfahren.
Stattdessen werde ich aber immer öfter, so kommt es mir zumindest vor, von nicht uniformierten Bürgern, mit mal gut und mal weniger gut gemeinten Ratschlägen traktiert, so wie dem Hinweis zum Beispiel, dass ich mich "in Wagen der ersten Klasse" befinde.Eine Zeit lang überlege ich noch, ob ich mein Ticket, den Beweis, dass ich den Anspruch darauf habe, herausholen, und der so hartnäckig bleibenden Dame vor die Nase halten, es ihr unter dieselbe reiben sollte. Dann aber, so meine Überlegung, würde es womöglich heißen, wir, d.h. ich und all meine "Freunde", seien dermaßen undankbar und darüberhinaus arrogant. Also beschließe ich es dabei zu belassen, der sich ohnehin zusehends in ihrer eigenen Haut unwohl fühlenden, sich, wie mir scheint, innerlich windende Frau, mit zur Schau gestellter Ignoranz und, so will es bei ihr vielleicht ankommen, Begriffsstutzigkeit zu begegnen, sie weiterhin zappeln und nach Worten ringen zu lassen. Ihr eine Lektion zu erteilen, sie für all die mir im Laufe meines Lebens angetanene Unbill, für all die Demütigungen, die ich in den vielen Jahren erdulden musste, büßen zu lassen - das ist fortan mein Wunsch. Doch dann regt sich etwas in mir. Eine Mischung aus Fremdscham und -leiden. Meine zu einer mißbilligend dreinblickenden Fratze verformten Gesichtsmuskeln entspannen sich allmählich und ich versuche aus ihnen ein Lächeln zu formen. "Ich habe hier keinen Freund", wiederhole ich, "Aber was nicht ist, kann ja noch werden." Und ich strecke ihr meine Hand entgegen und stelle mich vor: "Mubarak ist mein Name. Freunde sagen aber Mubi zu mir." "Freut mich sehr, Mubi", sagt sie, meine Hand wie einen Rettungsring ergreifend. "Ich heiße Sophie."