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Gegenstücke
Durch den Türspalt zieht kalte Luft. Im Flur geht das Licht an. Der dünne Schein streift über das Parkett und über den Bettvorleger, in dessen Flocken er sich verliert. Die Haustür schlägt zu und der Luftzug stoppt.
Karol geht wie immer ohne Schuhe. Ich kenne seinen Gang genau, er setzt die Ballen auf, dann erst die Ferse. So geht er immer, falschrum. Quer durch den Flur ins Wohnzimmer schleicht er, in die Küche, wieder ins Wohnzimmer. Er macht den Fernseher an.
Ein Messer schlägt auf Holz, Karol schneidet in der Küche.
Ich mache die Nachttischleuchte an, nehme das Buch und schlage es auf. Ich will Karol nicht den Eindruck machen, er habe mich geweckt.
„Man müsste dahin gehen, wo die Erde aufbricht“, sagt er, als er sich zu mir auf die Bettkante setzt. Er deutet mit dem Kopf zum Wohnzimmer, wo der Fernseher zu hören ist. Er bläst die Backen auf, formt mit den Lippen einen Krater und stößt Luft aus. „Island. Das lebt alles, das atmet.“
Auf seinem Schoß legt er das breite Holzbrett ab. Tomaten, Paprika, gewürfelter Appenzeller, Weißbrot, Weintrauben, zwei Gabeln. Ich schaue nicht auf, führe meine Finger über die Seite, während Karol zu mir redet. Dann lege ich das Buch doch weg, es ist nicht höflich. Karol spricht wieder von seinem kommenden Durchbruch. Es fehle nur ganz wenig.
„Hier“, sagt er, „iss.“ Er zieht mit dem Fuß den Tritthocker heran, der Bettvorleger faltet sich über dem Parkett auf. Karol stellt das Brett auf die Sitzfläche. Zu trinken bietet er mir nichts an, weil er weiß, dass ich das spät in der Nacht nicht mehr will. Er schneidet die Tomaten in Viertel. „Mit kurzen Messern sticht man sich in den Finger“, sagt er, „lang und scharf muss ein Messer sein, dann verletzt man sich nie.“ Er schiebt ein Tomatenstück auf die Klinge, streut Salz und Pfeffer darauf, hält es mir hin.
„Du hättest mir damals helfen sollen“, sagt er. „Du bist ein Schisser. Angst um die Karriere, ja? Du könntest einmal auf der richtigen Seite stehen, mit mir groß rauskommen, aber dann Angst um die mickrige Karriere. Wirst du sehen, die blasen dir deinen Posten weg, wenn du dich nicht auf mich berufen kannst.“ Ich sage dazu nichts, er erwartet das nicht.
„Ich habe alles zusammen“, sagt Karol. „Nächste, übernächste Woche, dann schick ich das ein. Wenn das draußen ist, die werden sich umgucken. Ich hau das raus, ein Aufsatz nach dem anderen, ich hab alles zusammen.“ Er kichert. „Ich duck mich nicht weg“, sagt er. „Ich hab das alles ausgehalten, bin auf der Stelle getreten, habe mich nicht umwerfen lassen. Von dir nicht und von meinem Vater nicht.“
Er greift nach mir, legt seine Hand auf die Decke und um mein Bein, ich spüre seine Finger.
Er rüttelt mein Bein mit beiden Händen, knurrt und lacht. „Schisser.“ Ich sage dazu nichts. Er hat recht, ich habe mich nicht für ihn eingesetzt an der Fakultät. Er war krank. Was sollen sie ihn einstellen, damit er sich dort blamiert? Karol war damals raus. Mit seinem Vater hatte das nichts zu tun.
„Ich hätte deine Stelle jetzt“, sagt er, „wenn mein Vater mich nicht hätte einschließen lassen.“ Ich schaue Karol an, wie er kaut mit seinem kantigen Kiefer, und suche den Jungen von früher. Die grauen Bartstoppeln gehören nicht zu ihm.
„Er will verhindern, dass ich gehört werde, dass ich meine Ergebnisse zeige. Ich tu ihm ja nichts.“ Er greift nach meinem Bein. „Dir tu ich auch nichts. Ihr seid Windbeutel, ihr habt keinen Schneid, ihr könnt dafür nichts.“
„Was will er denn hier!“ hat Raina gefragt, damals, als es wieder anfing. „Schick ihn weg.“ Sie blieb allein im Schlafzimmer liegen, bis Karol im Morgengrauen gegangen war. „Sag’s doch, der ist dir mehr wert als ich.“ Das war absurd, das hatte so keinen Sinn. „Du musst ihm doch sagen, dass er krank ist. Wenn du sein Freund bist, musst du ihm das sagen.“
Karol war kein Freund, auch früher nicht.
Sich hinterherlaufen und in den Schwitzkasten nehmen, die Köpfe aneinander drücken und mit der Hand durch die Haare rubbeln: Das ging nicht mit Karol. Er war nicht einmal ein Kumpel. Es wäre so falsch gewesen, ihn einen Freund zu nennen, wie es verkehrt war, Raina zu sagen, dass ich sie liebte. Früher, da saß Karol im Studentenwohnheim bei mir im Zimmer und wir sprachen die Nächte durch. Er saß mit vorgerecktem Leib, die Hände im Schoß übereinander gelegt, nur der Kopf bewegte sich. Ruckartig stieß er den Kopf vor, hob die Augenbrauen und kniff sie wieder zusammen, als visierte er vor sich im Raum seine Worte an. „Wir verharren unbeweglich im Augenblick. Die Zeit vergeht, aber das Ich altert nicht.“ Er kniff die Augen zusammen, reckte den Kopf vor. „Die Zeit selbst muss zwei Dimensionen haben. Wir stehen im Zentrum, sie schlägt ihren Radius um uns herum.“
Über solche Dinge dachten wir nach, hielten sie für neu und glaubten an eine große Zukunft.
„Wie ein altes Ehepaar“, sagten die anderen, und mir gefiel das. Damals hörte ich mich gerne mit Karol zusammen genannt. Einer wie er sein, das wollte ich hören. Aber berühren hätte ich ihn nicht können. Diese blasse Haut. Die kurzen Finger. „Jau“, sagten die anderen, „ihr zwei. Das Gespann!“ So war das damals. Ich konnte ihn nicht wegschicken.
Als Raina nicht mehr kam, habe ich gehandelt. Ich habe das Schloss austauschen lassen. Ohnehin hat es nicht geholfen. In der Nacht stand Karol unten und klingelte. Er stand vor der Tür und ging nicht weg. Er klingelte. Irgendwann muss er gehen, dachte ich. Ich machte kein Licht, saß aufrecht im Bett und wartete. Er klingelte wieder. Ich lehnte mich in die Kissen und schloss die Augen. Wie ein Laut von draußen aus der Natur, der mich nichts angeht, sagte ich mir, ein Rauschen in den Blättern, das nichts bedeutet. Ich stellte mir vor, ich läge im Sturm und der Seegang zog Pfiffe aus der Heultonne. Man kann sich nicht auflehnen und den Wind anhalten. Wie das Martinshorn, sagte ich mir, da habe ich keinen Einfluss. Ganz wie das Martinshorn, das jetzt unten in der Siedlung zu hören war und näher kam. Man hat es nicht in der Hand, man kann die Ohren nicht verschließen, wie man die Augen verschließt. Das Martinshorn tat ganz nah einen Stoß, dann verstummte es. Blaulicht schlug durch die Fenster. Ich sprang vom Bett auf.
„Entschuldigung“, habe ich gesagt. „Mir geht es gut. Sie können weiterfahren. Ich habe Musik gehört.“ Ich tippte mit den Fingern auf die Ohren, um die Kopfhörer anzuzeigen.
„Mensch“, sagte Karol, „ich dachte, dir wär was passiert.“ Er schob die Augenbrauen in Falten und schürzte die Lippen.
„Danke“, sagte ich. „Komm rein.“
„Mensch“, sagte er, „hast du mich erschreckt.“ Er drehte den Schlüssel in den Fingern. „Warum passt der nicht?“
„Ich hab meinen verloren“, sagte ich ihm. „Wie hätte ich dir Bescheid sagen sollen, du nimmst ja nicht ab.“
Seit Raina nicht mehr da ist, brauchen wir nicht mehr ins Wohnzimmer zu gehen, da setzt er sich zu mir an die Bettkante. „Ich bin lange auf der Stelle getreten. Du hast immer an mich geglaubt.“ Wenn er so redet, fühle ich mich wirklich, als hielte ich zu ihm. „Mein Vater will mir nicht schaden“, sagt er, „er hat nur Angst vor der Wahrheit.“
Was der Mensch reden kann. Ich habe Lust, das Licht auszumachen und ihn im Dunkeln sitzen zu lassen. Es würde nichts helfen.
Karol rechnet mir seine Ausgaben vor: Ein paar wertlose Bücher vom Versandantiquariat. Brot, Zwiebeln, Reis, Öl. „Mein Vater gibt mir nicht mehr Geld, wer nicht arbeitet, darf auch kein Geld haben.“ Komm schon, denke ich, wie viel brauchst du. Aber man darf ihn nicht fragen, ob er etwas braucht oder wie viel, dann fängt er von vorn an, dann zählt er auf, warum das alles so gekommen ist, dass er hart arbeite, forsche, dass er nicht betteln gehe, dann hört es wieder nicht auf.
Er weist mir sorgfältig nach, dass er mittwochs ein Taxi nehmen musste, dass es nicht anders ging, er musste sich am Hirschgraben zeigen als einer, der sich das leisten kann.
Ich widerspreche nicht. Man braucht Geduld. Man muss versuchen, an etwas anderes zu denken. „Natürlich“, sage ich, oder „Ich weiß nicht“, wenn er doch einmal eine Frage stellt.
Man darf nicht unterbrechen, sonst dauert es länger. Seine Sätze reihen sich pausenlos, er hat Angst vor der Leere, weil er weiß, dass er von mir keine Antworten bekommt. Es ist wichtig, nichts zu sagen. Wenn man etwas sagt, beißt er zu, dann schnappt er nach dem Bissen wie ausgehungert, dreht sich im Kreis darum herum und scharrt mit den Füßen, als wäre noch etwas herauszuholen. Ein verkehrter Fisch an der Angel, wenn man einmal vergisst loszulassen, kommt er zurück.
„Nur das noch“, sagt er. Wieder der Vater. „Ich rede zu viel, stimmt’s?“, fragt er. Ich bestreite das immer. „Nur noch das eine.“ Man muss hoffen, dass er nicht wieder auf einen neuen Anfang stößt.
Noch etwas -
Und dann geschieht es doch. Dann ist es vorbei. Ein Ruck, und man kommt wieder frei.
Karol steht auf. Man darf nichts sagen, was ihn zurückhält. „Lass ruhig stehen“, sage ich, als er das Brett und das Messer abräumen möchte.
Er steht auf und geht. „Also dann,“ sagt er, und ich lächle ihm zu, winke ihm freundlich mit der Hand. Er geht wirklich, dreht sich um und verlässt das Zimmer. Er zieht die Schlafzimmertür zu. Ich höre, wie er durch den Flur geht. Immer den Ballen zuerst, wie einer, der sich anschleicht. Der Wind summt unter dem Türspalt, dann fällt auch die Haustür ins Schloss. Karol ist weg. Endlich ist er weg. Ich sage es mir vor: Karol ist weg. Dann sehe ich die Uhr. Karol ist weg, und die Zeit, die ist auch weg, immer kommt er her und immer nimmt es kein Ende, und dann kann ich nichts dagegen tun, da kocht die Wut hoch, gegen die Zeit, die ich nicht halten kann, gegen den schleichenden Raub, den Karol an mir verübt, jetzt geht er draußen und lacht, und morgen wird er wieder kommen und übermorgen, und dahin ist die Zeit, und es hört nicht auf, nie hört es auf. Ich schlage mit beiden Fäusten auf das Kissen, kralle mich hinein, hole aus und schlage mit beiden Händen das Kissen auf die Matratze, wieder und wieder, und presse die Fäuste zusammen.
Ich werfe nach dem Hocker und das Brett kippt herunter, so dass die Tomaten und das Brot und die Appenzellerwürfel über das Parkett purzeln, das Messer rutscht über den Boden. Ich trete gegen den Hocker, als ich nach dem Telefon greife, und auch die Lampe reiße ich dabei um. Es ist genug. Sie sollen ihn holen. Sie sollen ihn bloß wieder wegsperren. Ich werde sagen, dass er mich mit dem Messer bedroht hat. Ich werde alles tun, damit sie ihn wegsperren, ich will wieder atmen können wie ein freier Mensch.
Am Telefon meldet sich einer. Ich halte den Hörer und mache den Mund auf und hole Luft. „Hallo?“, fragt der Mann. Ich sage nichts. „Hören Sie?“, fragt der Mann. Ich drücke die Faust in die Wange und sage nichts. „Hallo?“, fragt der Mann, und ich sage nichts. „Ist da jemand?“, höre ich den Mann sagen.
„Ist gut“, flüstere ich am Hörer vorbei. Langsam drücke ich die Gabel nach unten, es knackt in der Leitung, dann ist es still. Ich sitze auf der Bettkante, beuge mich zum Boden und stelle die Lampe auf. Es ist ja vorbei.
Ich werde ihm morgen dreihundert überweisen. Er soll nicht denken, ich lasse ihn hängen, weil er sich wieder ein Taxi genommen hat.