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Gefrorenes Lächeln
Während Tabea den Schlüssel umdreht, fällt ihr Blick wie jeden Tag zuerst auf den Slogan der Eingangstür: Wir verschenken ein Lächeln. Sie schüttelt den Kopf über ihre Inkonsequenz. Sie hatte wieder mal nicht nein sagen können, als ihr vom Wochenblatt das Werbepaket angeboten wurde: Vier Anzeigen in der Adventszeit, eine davon kostenlos und als Bonbon dieser überflüssige, kitschige Aufkleber, der ihr wie ein Mahnmal ihrer Schwäche erscheint. Morgen würde sie ihn eigenhändig abkratzen.
Augenblicklich schlägt ihr der vertraute Geruch nach teuren Klamotten und edlem Leder entgegen. Der lichtgraue Marmor, das blitzende Chrom, die Spiegel an den Wänden lassen sie frösteln. Sie erfasst ihr Spiegelbild und übt ein Lächeln, das mehr einem Zähnefletschen gleicht, aber ihr bleibt noch eine Stunde bis zur Ladenöffnung. Tabea hat große Lust, auf dem Absatz umzudrehen, doch die kleinen und großen Pflichten binden sie an ihr Geschäft. Sie richtet die Dekoration im Fenster, zupft an den Pullovern, schließt die Kasse, fährt mit dem Zeigefinger über einen Glasboden. Staubfrei. Auf Britt ist Verlass. Die tägliche Routine gewährt Tabea eine Galgenfrist, bis sie ihr Büro betreten muss.
Ein Klopfen unterbricht sie. Jan steht draußen und tritt von einem Bein aufs andere.
Tabea wundert sich, denn eine klare Absprache lautet: Keine Treffen im Geschäft.
Sie lässt ihn schnell ein und schließt die Tür wieder ab. „Das ist aber eine Überraschung.“ Sie lächelt ihn an und ihre Augen leuchten. „Hattest du Sehnsucht nach mir?“
„Hallo, Liebes!“ Jans Gesicht wirkt schmaler und blasser als sonst.
„Komm, wir gehen ins Büro!“, sagt sie und zieht ihn mit sich.
Keine gute Idee, wie Tabea zu spät bewusst wird. Das Chaos auf ihrem Schreibtisch gleicht dem in ihrem Leben. Lose Merkzettel und Lieferscheine liegen kreuz und quer. Das Sahnehäubchen ist ein Stapel ungeöffneter Briefe, deren Inhalt Tabea gar nicht kennen will. Die Unordnung sabotiert ihr Harmoniebedürfnis, dennoch bringt sie es nicht fertig, den Berg abzutragen. Und jetzt ist ihr die Zettelwirtschaft einfach nur peinlich.
Wenn Jan sich an dem Durcheinander stört, dann kann er es gut verbergen. „Komm mal her!“
Er schließt sie in seine Arme. Sie klammert sich für einen Augenblick fest an ihn, dann befreit sie sich aus der Umarmung. „Ich mach uns schnell ’nen Kaffee!“ Hastig räumt sie ein paar Papiere vom Besucherstuhl.
Jan winkt ab: „Nee, lass mal! Hab’ wenig Zeit.“
„Und trotzdem kommst du her?“
„Bea, Liebes, ich muss dir was sagen. Wegen heute Abend, das wird leider nichts. Bei uns zuhause ist die Hölle los.“ Mit einem Mal wirkt er gehetzt.
„Das verstehe ich nicht!“ Ihr Herz rast.
„Lotti weiß von uns. Keine Ahnung, woher. Sie hat mir gestern eine Szene gemacht, hat völlig überreagiert.“
Tabea schluckt, für einen Moment ist sie sprachlos, doch sie fängt sich schnell und sagt:
„Früher oder später war doch damit zu rechnen, dass Charlotte Wind von der Sache kriegt.“
„Ja, schon, aber sie hat getobt wie eine Irre. Sie hat mich gar nicht zu Wort kommen lassen.“
„Was hättest du ihr denn gesagt?“
„Das spielt doch jetzt keine Rolle. Bea, hörst du? Sie hat gedroht, sie wird nicht dulden, dass du weiter mit mir rumvögelst.“
„Rumvögelst?“ Das Wort wirft sein Echo von den Wänden zurück. „Bisher dachte ich, es ist mehr für dich? Ein Irrtum?“
„Bea, wie kannst du so was sagen? Du weißt, du bedeutest mir viel.“
Tabea könnte wetten, noch vor Wochen, als er sie nach allen Regeln der Kunst umgarnt hat, hätte er noch alles anstelle von viel gesagt und stöhnt auf. „Und wie soll das weitergeh’n?“ Sie konnte das Zittern ihrer Stimme nicht verhindern.
„Ich muss Charlotte zur Vernunft bringen. Sie läuft völlig neben der Spur. Ich red’ mit ihr, heute Abend.“
Über Tabeas Nacken kriecht die Angst, doch sie muss die Frage aussprechen. „Und? Was wirst du ihr sagen? Dass ich deine große Liebe bin, dass wir gemeinsam ein neues Leben beginnen wollen? Dass ich im Bett tollere Kunststücke kann als sie?“
„Tabea, sei nicht so zynisch, das steht dir nicht. Aber so einfach ist das nicht. Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit.“
„Jan, ich brauch’ keine Nachhilfe in Mathe. Ich will wissen, wo du stehst. Vielleicht ist es gut so, dass deine Frau Bescheid weiß.“ Der Raum schwankt, Tabea stützt sich an der Wand ab. Lieber Gott, denkt sie, bitte lass Jan zu mir stehen, lass ihn um uns kämpfen.
„Wenn es so weit ist, finde ich die richtigen Worte.“
„Du hast Angst vor einer Entscheidung, stimmt’s?" Ihr ist speiübel.
„Nein.“ Er will ihr über die Wange streicheln, doch sie schiebt seine Hand weg.
„Es ist besser, wenn du jetzt gehst, ich habe noch zu tun.“ Aufrecht und mit versteinerter Miene steht sie im Büro.
„Ich melde mich, morgen.“ Jans Augen schimmern feucht, doch Tabea weiß nicht, ob sie ihrer Wahrnehmung trauen kann. Sie sieht ihm nach, wie er mit hängenden Schultern den Laden durchquert und sie flüstert in die Stille: „Feigling.“ Das könnte es gewesen sein. Sie wäre kein Einzelfall einer kaltgestellten Geliebten. Die klassische Auflösung der klassischen Affäre. Sie will schreien, stattdessen wischt sie den Krempel mit einem einzigen Handstreich vom Schreibtisch. Dann sinkt sie kraftlos auf den Bürostuhl.
Ihr Blick wandert zu der Sprüchesammlung an der Pinnwand. Sie hatte damit begonnen, alle Aphorismen, die sich mit dem Thema Lachen in allen Lebenslagen befassen, zusammenzutragen und an die Wand im Büro zu heften, als ihr klar wurde, dass dieses Geschäft ihre Freude am Leben erstickte. Lachen und Lächeln als Medizin gegen Alltagsfrust. An dem Zitat Eine starke Frau schafft es zu lächeln, egal wie nah sie den Tränen ist bleibt sie kleben. Ja, ja, denkt sie bitter, alle Energie nur darauf richten, dass die Fassade keine Risse bekommt.
Britt erscheint gut gelaunt im Büro. Als sie den mit Papieren übersäten Fußboden sieht, sagt sie: „Oh, du hast mit Aufräumen begonnen. Gute Idee. Aber das Licht ist noch gar nicht an?“
„Hab’ ich vergessen. Kommt eh keiner.“
„Sei nicht so pessimistisch! Drüben bei Elektronik-Busch ist schon ein Gewimmel. Wenn die alle bei uns einkaufen kommen, kriegen wir die Kasse nicht mehr zu.“ Sie hängt ihr Mäntelchen auf einen Kleiderbügel.
„Wenn? Die Zeit der SOS-Geschenke zu Weihnachten ist vorbei, das wissen wir doch. Wenn heutzutage unterm Baum nicht irgendein elektronischer Schnickschnack piept, dann fällt das Fest der Liebe ins Wasser.“
„Mein Schatz kriegt einen Duft von mir. Du weißt schon, der, der mich ganz wuschig macht und die Liebe ist gerettet.“ Sie zwinkert Tabea zu.
„Verstehe.“ Ein bisschen erinnerte sie Britt mit ihrer Unbekümmertheit an sich selber, aber das war in einem anderen Leben.
„So, jetzt Licht an, Musik laut und Tür auf.“ Britt schwingt die Hüften und trällert: „Muss nur noch schnell die Welt retten.“
Tabea schaltet ihr Laptop ein, dann macht sie sich ans Aufräumen, öffnet Brief für Brief. Abwechselnd schielt sie zu den Aphorismen an der Wand und auf ihre Armbanduhr. Ein Geschenk von Jan. Jan. Das Ziehen in ihrer Brust wird unerträglich.
Im Verkaufsraum dudelt leise weihnachtliche Musik: Jose Feliciano wünscht aufgekratzt Feliz Navidad. Durch die angelehnte Tür hört sie, wie Britt in das Lachen einer Kundin einstimmt. Die Kasse rattert leise.
Das Läuten des Telefons bricht in ihre Gedanken ein. Sie hofft, Jan sei am anderen Ende der Leitung.
„Tabea Waller. Was kann ich für Sie tun?
„Krone hier. Sie wollten sich melden. Wie lang soll ich denn noch warten?“
Mist, denkt Tabea, den Krone hab’ ich ganz vergessen. „Ach, Herr Krone? Guten Tag. Ich hätte Sie heute noch angerufen. Geht es Ihnen gut?“ Tabea braucht Zeit, um sich zu sammeln. Sie räuspert sich, sucht nach den passenden Worten.
„Heute? Sie wissen schon, wie spät es ist? Hören Sie, Frau Waller, ich hab’ keine Zeit für Smalltalk. Ich will wissen, wie der Zinnober weitergehen soll?“
„Es ist, wie ich befürchtet habe, die Firma erkennt Ihre Reklamation nicht an. Man hat mir den Anzug wieder zurückgeschickt.“ Sie betrachtet den Karton, der noch in der Ecke steht. „Es tut mir leid, dass die Sache nicht in ihrem Sinne verlaufen ist. Ich schlage vor, Sie holen die Teile so schnell als möglich ab.“ Tabea könnte sich ohrfeigen, dass sie in Stresssituationen so wenig diplomatisches Geschick besitzt.
„Einen Teufel werde ich tun!“
„Wenn Sie möchten, können Sie das Schreiben der Firma gerne einsehen.“ Und wenn du einmal hier bist, denkt sie, küsse ich dir die Füße, wenn du mich lässt.
„Was soll ich mit dem Schreiben? Ich will einen Anzug, der nicht nach einer Minute wie ein Kartoffelsack aussieht. Oder noch besser: Sie behalten den Schund und geben mir mein Geld zurück.“
Genau diese Entwicklung hatte sie befürchtet. Kühl sagt sie: „Das werde ich gewiss nicht tun. Dazu bin ich nicht verpflichtet.“ Sie konnte den Anzug nur in die Kleiderspende geben.
„Das werden wir ja sehen. Ich habe das Recht, für mein gutes Geld knitterfreie Ware zu bekommen. Nur damit Sie’s wissen: Ich werde meinen Anwalt einschalten.“
Tabea lacht auf. „Bei diesem Streitwert.“ Der Mann verliert gerade den Verstand.
„Ihnen wird das Lachen auch noch vergehen.“
„Ich schlage vor, wir bleiben sachlich“, will Tabea einlenken, aber am anderen Ende ist niemand mehr, der sie hören könnte.
Tabea schließt die Augen. Dieses Leben frisst sie auf, sie will ein anderes. Eines, in dem nicht das Streben nach Geld und Erfolg regiert.
Britt steckt den Kopf zur Tür herein. „Hab grad Abrechnung gemacht, is’ gar nicht so schlecht heute.“ Dann stutzt sie: „Is’ was passiert? Du wirkst so geknickt.“
„Ja, Fidel ist gestorben“, sagt Tabea.
„Und?“ Britt zuckt die Schultern. „Menschen sterben eben.“
„Nein. Ja. Quatsch. Der Krone hat grad angerufen, wegen der Rekla. Er pocht auf das oberste Menschenrecht: Knitterfreiheit. Jetzt will das ausgebuffte Schlitzohr seinen Anwalt auf mich hetzen.“ Ein bitteres Lächeln umspielt ihren Mund.
„Und ich werd’ unter Eid aussagen, dass ich ihn beim Kauf auf die Knitterneigung der Ware hingewiesen habe.“ Sie streckt zwei Finger in die Höhe. „Euer Ehren, werd’ ich sagen, der Kunde Krone konnte mir kaum zuhören, weil er Mühe hatte, nicht in meinen Ausschnitt zu fallen.“ Britt kichert. „Mach’ dir nicht so viel Gedanken“, sie schnappt sich den Staubsauger und tänzelt davon. „Nichts wird so heiß gegessen, wie’s gekocht wird. Warten wir’s ab, ob der alte Sack seinem Anwalt auf den Sack …“ Ihre letzten Worte werden vom Motorengeräusch verschluckt.
Nur ein paar Pappbecher, die vom eisigen Wind über die Bürgersteige getrieben werden, stören die morgendliche Ruhe. Tabea zieht die Schultern hoch. Sie biegt um die Ecke und der Schriftzug springt sie an. Abrupt bleibt sie stehen, als wäre sie gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. Alles in ihr weigert sich, das zu glauben, was sie sieht. Mit blutroten Buchstaben quer über die gesamte Schaufensterfront geschmiert: Dir wird das Lächeln bald vergehen!
Sie lockert ihren Schal, weil sie das Gefühl hat, er schnüre ihr die Luft ab.
Die Gedanken schießen wie Pfeile durchs Hirn. Charlotte, Krone, Scheißkerl, Hexe. Ein erbärmlicher Versuch, sie einzuschüchtern. Und schon spürt sie, wie ihre guten Vorsätze, den Tag zuversichtlich anzugehen, im Gully unter ihr versickern.
Britt kommt durch die schmale Gasse der Weihnachtsbuden angefegt, ihr blonder Pferdeschwanz wippt. „Hallo! Wartest du auf mich?“ Dann erfasst sie das Geschmiere, bekommt tellergroße Augen und sagt im Tonfall eines Kindes, das zum ersten Mal einen Lichterbaum sieht: „Wer macht denn so was?“
„Gute Frage, nächste Frage“, sagt Tabea.
„Und wie kriegen wir die Sauerei weg?“
„Komm, lass uns reingehen!“
Als sie die Eingangstür öffnen, werden sie vom Klingeln des Telefons empfangen.
Aufgelegt. Auf dem Display erkennt Tabea Jans Nummer. Drei Anrufe in Abwesenheit. Wahrscheinlich will er mir mitteilen, dass er sich von Charlotte scheiden lassen wird.
Als es wieder läutet, ist sie sofort am Apparat. „Jan, gut, dass du anrufst“, sagt sie mit beschleunigtem Pulsschlag.
„Bea, Liebes, es tut mir so leid. Deine Schaufenster, Charlotte steckt dahinter.“
„Ich hab’s befürchtet, doch ich kann’s nicht glauben.“ Tabea ist, als hätte man ihre Gedanken in eine Zwangsjacke gesteckt.
„Bea, sag doch was!“
„Da kann ich ja von Glück reden, dass da nicht steht: Das Vögeln wird dir bald vergehen!“
„Ich schick' dir gleich ’ne Firma, die das entfernt“, sagt Jan.
„Tu’ das! Danke. Jan, ich glaub', ich hab' mich wie eine Idiotin benommen.“
„Da bist du wohl nicht die Einzige.“
„Jan? Bist du noch da?"
„Klar.“
„Jan, lass uns über die Feiertage zusammen wegfahren!“
Tabea entdeckt Britt im Schaufenster. Sie richtet die Auslage, als ob es jetzt noch darauf ankäme, faltenfreie Klamotten zu präsentieren.
„Es kommt heute noch jemand, wegen dem Schweinkram da“, sagt Tabea mit einer Kopfbewegung zur Scheibe.
„Schade eigentlich. Passt doch gut zu unsrer Weihnachtdekoration.“ Sie streicht sich eine Haarsträhne hinters Ohr und lacht. „Auf jeden Fall sind wir im Gespräch.“
„Ja, ja, Hauptsache, der Umsatz wird angekurbelt.“
„Ach übrigens, bevor ich’s vergess’“, Britt fummelt ein verknittertes Zettelchen aus ihrer Jeans und reicht es Tabea wie ein kostbares Geschenk. „Für dich.“
Tabea liest: Wer nicht lächeln kann, sollte den Laden zumachen. Manchmal auch, wer wieder lächeln will, Karl Heinz Karius, dann schmunzelt sie. „Ja, darauf bin ich schon selber gekommen.“