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Gefrierfleischorden

Seniors
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28.12.2009
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Gefrierfleischorden

Mein Großvater steht vor dem Herd und rührt in einem großen Topf, feuchter Dunst zieht durch das angekippte Fenster. Er schöpft mit einer Kelle Schaum ab, und erst jetzt sehe ich den Kopf, der auf dem kochenden Wasser schwimmt. Hier, sagt er und schneidet mit einem seiner Ausbeinmesser ein Stück aus der Backe. Da ist der Rauch von Zigaretten und der Geruch des Fleisches in der kleinen Küche. Ich bin zehn oder elf Jahre alt.
Beste Stück vom Schwein, sagt mein Großvater, mein Opa, es liegt dampfend auf der Messerscheide. Ich entstamme einer Familie von Mehlbauern und Metzgern, der Geschmack von Fleisch ist etwas sehr vertrautes für mich.

Meine Onkel und mein Vater spielen im Wohnzimmer Skat, ich kann hören, wie sie ihre Ansage brüllen, das Klirren von Bierflaschen.
Muss noch Schnauze und Schwarte würfeln, sagt mein Großvater. Kannst mir nachher helfen.
Ich beiße in das Stück Fleisch, es ist weich und voller Saft. Ich kaue langsam und gründlich, Backe ist das beste Stück vom Schwein. Und so oft wird der Opa ja keine Sülze mehr machen, sagt mein Vater, aber das sagt er nur bei uns zuhause, nicht hier, nicht im Haus seiner Eltern. Die Fliesen auf dem Balkon kühl unter meinen Füßen, ich bin barfuß, es sind die letzten Tage der großen Ferien. Danach geht es auf eine andere Schule unten in der Stadt, und ich weiß noch nicht, wie ich das finden soll. Doch jetzt bin ich hier, in diesem großen Haus, ich gehe die Treppe hinunter und stehe im Garten, ein schmales, langes Stück Land, die Beete akkurat voneinander getrennt, der Weg aus Kopfsteinpflastern gelegt. Ich erinnere mich an den strengen Geruch der Erde; mein Großvater bekam seinen Dünger von den umliegenden Höfen geliefert. Da sind die Pflaumenbäume zu meiner Rechten, ihre Äste dünn und knorrig. Niemand weiß genau, wer sie gepflanzt hat oder wie lange sie schon dort stehen, doch sie tragen jeden Sommer Früchte, auch diesen. Aus einem Teil buk meine Großmutter Kuchen, den anderen Teil gaben sie an einen Nachbarn, der in seiner Laube im Westerwald daraus Schnaps brannte. Eine Sache faszinierte mich besonders: ganz am Ende des Gartens, im Schatten einer halbhohen Backsteinmauer, stand der Komposter. Ein aus Dachlatten zusammengenageltes Behältnis, verschlossen mit einer passenden Lage scharfkantigem Hühnerdraht, so dass die Katzen nicht reinscheißen konnten. Dieser Ort zog mich magisch an. In dem Komposter landeten alle Küchenabfälle, Eierschalen, faules Obst, Reste von geschnittenem Gemüse, aber auch Altpapier, Kaffeesatz und Sägespäne aus der Werkstatt. Wenn man die Hand ausstreckt und ganz nah über Kompost hält, spürt man eine organische Hitze, so dicht und gleichmäßig wie die späte Glut eines Holzfeuers. Man nennt es Heißrotte, die hohe Temperatur entsteht durch zersetzende Organismen, die tief im Erdreich arbeiten. Ich bin bei jedem Besuch zu diesem Komposter gegangen und habe meine Kinderhände durch das Holzgitter gesteckt, selbst im Winter, als die Erde schon hart gefroren war.

Als ich später ins Haus zurückkehre, beginnt es schon zu dämmern. Ich höre meinen Vater lachen, sie spielen immer noch Skat, es wird Schnaps getrunken. Mein Großvater sitzt in dem abgedunkelten Zimmer neben der Küche, in dem auch das Bügelbrett und die Heißmangel stehen. Er hat Schuhe und Socken ausgezogen, warum hat er sich auch die Socken ausgezogen?, ich weiß es nicht. Seine nackten Füße liegen auf einem Schemel, in der Hand hält er ein bauchiges Glas, Hennessy ist seine Marke. Ich bleibe vor der Tür stehen, das letzte Sonnenlicht fällt durch die halb geschlossenen Lamellen der Rollade und erhellt den vollgestellten Raum. Und da, als ich vor ihm stehe, fällt mir etwas an seinen Füße auf, sie sind unförmig, wie verdreht; ich hatte sie noch nie gesehen und konnte nicht aufhören, sie anzustarren.
Krieg, sagt mein Großvater. Abgefroren.
Ich schäme mich, weil ich so ungeniert seine deformierten Füße angestarrt habe, doch ihm scheint das nichts auszumachen.
An der Ostfront, die Nächte waren so kalt … Wenn du das überlebt hast, habense dir n Orden umgehangen, Gefrierfleischorden. Mein Großvater nickt. Weißt du, was wir im Krieg gemacht haben? Zuerst haben wir ihnen die Zöpfe abgeschnitten, dann haben wir sie geschlachtet wie Schweine. Er nimmt einen Schluck, stellt das Glas auf einen Beistelltisch und erhebt sich aus dem Sessel. Ich stehe immer noch schweigend vor der Tür. Mein Großvater bückt sich, sammelt seine Socken ein, es sind lange, graue Wollsocken. Seine Bewegungen sind schwerfällig, er stöhnt dabei, ächzt, und als er sich den ersten Socken überstreift, bemerke ich seine zitternden Finger.
Komm, sagt er, seine Stimme leise und brüchig, geh schon mal vor, geh schon mal in die Küche. Er reibt sich mit einer Hand über den Nacken, wischt sie am Unterhemd ab, sein Atem geht flach. Er will nicht, dass ich ihn so sehe, denke ich und gehe in die Küche. Vor dem Herd bleibe ich stehen, spüre die dichte Hitze, ein feuchtwarmer Schwall im Gesicht. Da ist immer noch der Topf, ich höre es darin köcheln. Der Dunst riecht nach Fett, nach Knochenmark, nach gegartem Fleisch und Schweinestall. Da passt etwas nicht zusammen; die Schweine, das Schlachten, das begreife ich, das ergibt sich, eins aus dem anderen, nur das mit den Zöpfen … wir haben ihnen die Zöpfe abgeschnitten. Ich überlege, denke nach, versuche es, aber ich werde es noch ein paar Jahre lang nicht begreifen. Auf einmal steht er neben mir, ich habe ihn nicht kommen gehört. Er hat sich im Badezimmer frisch gemacht, Wassertropfen fallen von seinem Kinn auf den Herd, es zischt, und er sieht mich an und lächelt.
Dann holen wir’n mal raus, sagt er und greift nach der Kelle. Dampf setzt sich von der fest gespannten, braunen Kruste ab, er stellt den Kopf auf ein Schneidebrett neben der Spüle, das glatte Holz wird dunkel von der ablaufenden Brühe.
Wenn's gar ist, geht's ganz einfach, sagt er und macht mit der Klinge einen Schnitt an der Stirn. Die Maske löst sich von selbst, fällt geradezu vom Knochen, darunter schimmert gräuliches Fleisch und weiß glänzendes Fett.

Als wir wieder zuhause sind, erzähle ich meinem Vater davon. Ich warte, bis meine Mutter unten in der Waschküche ist, bis er alleine vor dem Fernseher sitzt und die Sportschau guckt. Zuerst frage ich ihn, ob er weiß, was der Opa im Krieg gemacht hat? Mein Vater antwortet nicht sofort, er hebt kurz das Kinn und schaut auf den Bildschirm; es gibt Eckball.
Ich mein, der war an der Flak, sagt er, deswegen hört der doch so schwer.
Dann erzähle ich es ihm, ich erzähle es Wort für Wort.
Ach was, dein Opa, sagt mein Vater. Also nein, das nennt man Demenz, ja? Das ist dann so, das ist gar nicht richtig wahr. Der weiß manchmal nicht mehr, was er da eigentlich von sich gibt.

Bei der Trauerrede ein paar Monate danach hieß es: Liebevoller Vater von sechs Kindern. Treuer Ehemann. Gläubiger Christ. Dreißig Jahre lang bei Mannstedt in der Fertigung. Immer verlässlich und verantwortungsbewusst. Grüner Daumen. Die besten Erdbeeren der Siedlung. Ein Mann, der seinen Humor nie verloren hat. Ich erinnere mich, dass meine Großmutter bei der Beerdigung keine einzige Träne vergossen hat. Es war ein seltsamer Anblick, über den ich heute noch nachdenke, wie sie da ganz steif neben meinem Vater sitzt, am Ende der ersten Reihe zum Gang hin, und immer wieder auf die Hände in ihrem Schoß blickt, als ginge ihr das alles nicht schnell genug, als wäre sie eigentlich lieber woanders.

Jahre später, als ich es dann begriffen hatte, habe ich es noch einmal versucht. Wir saßen im Wohnzimmer, meine Mutter bereitete in der Küche das Abendessen vor, aber mein Vater schüttelte nur den Kopf und tippte sich mit dem Finger gegen die Stirn: Ach was! Dann nahm er einen Schluck Bier aus seiner Flasche und fragte mich, was ich eigentlich vom neuen FC-Trainer halte. Ich blickte auf den Grund meines leeren Glases und sagte: Der FC steigt schon nicht ab. Mein Vater starb kurz darauf, ganz plötzlich und unerwartet. Er starb weg, wie man hier sagt. Er ging an einem heißen Sommernachmittag aus dem Garten zurück ins Haus, legte sich zum Ausruhen auf die Couch und wachte einfach nicht mehr auf. Die Ärzte sagten, es war ein Herzinfarkt.

Der Geschmack von Fleisch ist mir vertraut geblieben. Ich mache die Sülze nicht selbst, ich kaufe sie bei einem Metzger in der Stadt. Sie schmeckt nicht so wie die von meinem Großvater, aber das muss sie auch nicht. Ich schneide sie in dünne Scheiben, beträufele sie mit ein wenig Essig und fein gehackten Zwiebeln. Ich esse sie nicht mehr oft, und wenn, dann lasse ich mir Zeit, kaue langsam und gründlich, trinke dazu ein kühles Bier. Manchmal schließe ich dabei die Augen und versuche so zu tun, als hätte ich noch nie Sülze gegessen, als sei jeder Bissen mein erster.

 

Hallo @jimmysalaryman,

ich mache mal den Anfang. Dabei bleibe ich meiner momentanen Methode treu, nach dem ersten Lesen zu kommentieren. Es kann also sein, dass ich einiges nicht ganz textgetreu abhandle bzw. dass ich den Text nicht zu 100 % in allen Verästelungen erfasst habe.

Insgesamt hat mir die Geschichte sehr gut gefallen. Sie hat etwas Archaisches durch das familiäre und naturnahe Setting und das ganze Leitmotiv "Fleisch". Der Galizien-Hugenotten-Zusammenhang ist mir zwar nicht ganz klar geworden, aber das Rheinische und Westerwald-Kolorit empfand ich als passend (ist ja fast schon typisch für deine Storys und nun mal für mich als Kölner ein automatischer Pluspunkt).

Tatsächlich konnte ich persönlich auch an die Szene in der Küche anknüpfen. Mit vier, fünf Jahren war ich mal dabei, wie bei meinen Großeltern auf dem Hof ein Schwein geschlachtet wurde. Danach hat meine Großmutter mit dem frischen Blut Blutwurst gekocht. Die Innereien wurden ebenfalls direkt zubereitet, und zwar wurden sie einfach nur gesiedet und dann mit Salz bestreut serviert, soweit ich mich erinnere. Ich fand das alles super aufregend und hab mich zur allgemeinen Überraschung durch die Palette probiert – Herz, Leber, Nieren, hat mir alles geschmeckt.

Mir gefällt auch, wie die Story eine persönliche Erinnerung mit der größeren Landes- bzw. Weltgeschichte verknüpft. Da kommt mir eine Textzeile von Freundeskreis in den Sinn: "Das Große spiegelt sich im Kleinen, das ist Dialektik." Allerdings muss man auch sagen, dass der Stoff "(Tot)Schweigende deutsche Nachkriegsfamilie" natürlich ein thematischer Klassiker ist. Vielleicht in den letzten Jahren und Jahrzehnten nicht mehr so, aber ab den 50ern hat das ja die deutsche Kulturlandschaft als Thema dominiert. Trotz allem: Ungewöhnlich und eigenwillig umgesetzt, von daher nicht langweilig.

Der Text besticht für mich vor allem an den Stellen, wo die Härte subtil ist, wie beim Einschub "Er starb weg, wie man hier sagt." oder hier: "Ich erinnere mich, dass meine Großmutter bei der Beerdigung keine einzige Träne vergossen hat. Es war ein seltsamer Anblick, über den ich heute noch nachdenke, wie sie da ganz steif neben meinem Vater saß, am Ende der ersten Reihe zum Gang hin, und immer wieder auf die Hände in ihrem Schoß blickte, als ginge ihr das alles nicht schnell genug, als wäre sie eigentlich lieber woanders."

Zwar hat der Teil meiner Familie, die den Hof hatten, nichts mit dem Krieg zu tun gehabt, aber diese absolute Kontrolle von bestimmten Emotionen, und zwar den "weichen", die einen als schwach dastehen lassen könnten, die war auch dort vorhanden. In Bayern spricht man übrigens ähnlich hart über den Tod. Man hört da oft: "Der is hie!" oder "Da warer hie!" Also: "Der ist hin!" – das wird sonst über Gegenstände gesagt, die kaputt sind.

Nicht wirklich kritisieren, aber ansprechen möchte ich, dass für mich die Stärke des Textes, eine solche tiefgreifende Familiengeschichte fast ausschließlich anhand eines Szenarios bzw. eines Settings zu erzählen, vielleicht auch irgendwo zur Schwäche wird: Vor allem hier im Forum, wo man ja immer auch der Konstruktionsweise hinterherliest, ist schon recht klar, was du hier machst: Da ist das Schweinefleisch, da ist das Fleisch des Großvaters, da ist das gedachte Fleisch (= Körper) im Kompost, da ist der Titel bzw. der Orden für das Fleisch im Krieg und da ist das Fleisch der Opfer. Schon ziemlich deutlich in der Summe.

Meine zweite Anmerkung im Sinne einer Frage an den Text ist: Die Erzählstimme kam mir stellenweise zu reif und lyrisch vor, dafür dass das Erleben eines zehnjährigen (?) Jungen geschildert wird. Ich weiß, dass durchaus so erzählt werden kann und auch erzählt wird, aber es rutscht dann vielleicht mitunter auch in eine offensichtliche Konstruktion ab: Man paart den Nostalgischen Rückblick an die Kindheit und die Chance, erste Erlebnisse zu schildern, mit der reifen-einordnenden Stimme des rückblickenden Erwachsenen und sichert sich so das beste beider Welten. Das ist natürlich für das geschulte Auge (auch!) ein offensichtlicher Effekt, der hier kreiert wird.

Das waren so meine Gedanken nach der Lektüre. Wie gesagt, hab's nur einmal durchgelesen – es kann sein, dass ich nicht jeden Nagel auf den Kopf treffe mit meinem Feedback.

Freundliche Grüsse

HK

 

Insgesamt hat mir die Geschichte sehr gut gefallen. Sie hat etwas Archaisches durch das familiäre und naturnahe Setting und das ganze Leitmotiv "Fleisch".

Moin und danke dir für Zeit und Kommentar,

schon mal gut, wenn der Text nicht ganz abkackt, ich habe lange gehadert und dran gearbeitet, ist mehr oder weniger aus deinem favorisierten Genre, auto fiction, oder wie man das nennt. Fleisch finde ich jetzt nicht das Leitmotiv, aber es ist eines der Objekte im Text, die wichtig sind, die symbolischen Gehalt haben.

Der Galizien-Hugenotten-Zusammenhang ist mir zwar nicht ganz klar geworden, aber das Rheinische und Westerwald-Kolorit empfand ich als passend (ist ja fast schon typisch für deine Storys und nun mal für mich als Kölner ein automatischer Pluspunkt).
Ja, ich bin irgendwie zum Regionalschriftsteller verkommen, aber das passt. Das mit Galizien ist kein Zusammenhang, sondern ein Fakt, der aber etwas verdeutlicht, vielleicht auch auf einer sehr persönlichen Ebene: im Grunde hat sich unsere ganze Familie seit 300 Jahren nicht wesentlich verändert, es sind immer noch kleine Handwerker, Arbeiter, unbedeutend. Ich kann meine Familiengeschichte bis ins 17 Jahrhundert nachverfolgen, sogar genau auf ein Dorf eingrenzen, ich bin letztens dagewesen, eine traumähnliche Erfahrung, schreibe ich demnächst drüber. Aber zurück zum Text hier: das ist für mich so etwas wie eine erzählerischer Kreislauf, man kommt immer wieder auf eine Ebene zurück, egal, was man tut.

Mir gefällt auch, wie die Story eine persönliche Erinnerung mit der größeren Landes- bzw. Weltgeschichte verknüpft. Da kommt mir eine Textzeile von Freundeskreis in den Sinn: "Das Große spiegelt sich im Kleinen, das ist Dialektik."
Ja, ich finde, oder eher versuche, genau das zu tun: den großen Konflikt in einen Mikrokosmos zu holen. Deswegen denke ich auch, man kann nicht "über etwas" schreiben, das wird immer zu Propaganda, immer zu einem Versuch, Agenda unterzubringen, weil man etwas exemplarisch erklären will, so wird der Charakter in einem Text oft zu einem Versuchsobjekt. Oft ist es auch so, dass große Umwälzungen an vielen Menschen einfach vorbeigehen: ich habe letztens ein paar alte Säcke in der Kneipe gefragt, wie und ob sich ihr Leben unter verschiedenen Kanzlern oder Parteien signifikant verändert hätte? Die Antwort: Nein! Diese Gleichgültigkeit sollte man dann darstellen im Text, das ist einem doch viel näher.
Allerdings muss man auch sagen, dass der Stoff "(Tot)Schweigende deutsche Nachkriegsfamilie" natürlich ein thematischer Klassiker ist. Vielleicht in den letzten Jahren und Jahrzehnten nicht mehr so, aber ab den 50ern hat das ja die deutsche Kulturlandschaft als Thema dominiert.
Das stimmt sicherlich, aber ich persönlich habe das noch nie gemacht, das ist wirklich das erste Mal. Ich denke auch oft, "was mit Nazis" geht immer, und es sichert einem auch die notwendige Betroffenheit und Seriösität, um Preise zu gewinnen, weil wichtig. Das ist ein speziell deutsches Ding, Nazis, Menschen die von Nazis erzogen wurden, Menschen die von Nazis erzogen worden sind und nun ihrerseits Kinder erziehen - das nimmt kein Ende, das ist für mich auch eine kleine Industrie, die allerdings oft zu einer nfantilen, verharmlosenden Farce verkommt. Und nutzen tut es auch nur wenig, wie man sieht, ein pädagogisches Gewicht scheinen all die gut gemeinten Texte nicht zu haben, sonst würden jüdische Menschen und Einrichtungen nicht rund um die Uhr bewacht werden müssen. Das ist schon ein wenig middcult alles, so eine Selbstversicherung: Das ist sooo schlimm gewesen!, darf nie wieder passieren! Bißchen Gratismut. Das wollte ich vermeiden. Der Text hier ist, sagen wir mal, zu 90% wahr, und deswegen fiel es mir schwer, den zu schreiben, denn es kostet einen etwas, wahrhaftig darüber zu schreiben und es nicht zur Karikatur werden zu lassen, die Schwere korrekt darzustellen, die Tragweite. Ich verstehe, diese Thematik ist oft gemacht worden, nur noch nicht von mir. Damit muss ich eben leben.

Nicht wirklich kritisieren, aber ansprechen möchte ich, dass für mich die Stärke des Textes, eine solche tiefgreifende Familiengeschichte fast ausschließlich anhand eines Szenarios bzw. eines Settings zu erzählen, vielleicht auch irgendwo zur Schwäche wird: Vor allem hier im Forum, wo man ja immer auch der Konstruktionsweise hinterherliest, ist schon recht klar, was du hier machst: Da ist das Schweinefleisch, da ist das Fleisch des Großvaters, da ist das gedachte Fleisch (= Körper) im Kompost, da ist der Titel bzw. der Orden für das Fleisch im Krieg und da ist das Fleisch der Opfer. Schon ziemlich deutlich in der Summe.
Ist ja eine Kurzgeschichte, also wird komprimiert, liegt in der Natur des Genres. Man kann natürlich auch jedem Text seine Konstruktion vorwerfen. Aber auch das ist eines der Wesen von Literatur: die Komposition. Das Fleisch ist auch, meiner eigenen bescheidenen Meinung nach, nicht unbedingt das Hauptmotiv: Fleisch im Kompost, Fleisch der Opfer, das lese ich da nicht raus, den Körper als Archiv schon eher: die bleibende Verletzung. Der Kompost steht für mich eher für einen gewissen Kreislauf, das Werden und Vergehen, auch die Sinnlosigkeit des Erinnerns, denn was bringt sie uns schon? Weisheit? Klarheit? Wenn man ehrlich ist, doch wohl kaum, oder? Der Holocaust wird alle paar Tage relativiert, Krieg findet immer noch statt, Zivilisten werden egal von welcher Seite zusammengeschossen, wir wissen wo das hinführt, wir kennen die Archive, wir nähren uns von der Erinnerung, aber bringen tut es doch nichts, wie man beobachten kann. So gesehen ist das eine eher nihilistische Geschichte, kulturpessismistisch, unversöhnlich.
Meine zweite Anmerkung im Sinne einer Frage an den Text ist: Die Erzählstimme kam mir stellenweise zu reif und lyrisch vor, dafür dass das Erleben eines zehnjährigen (?) Jungen geschildert wird. Ich weiß, dass durchaus so erzählt werden kann und auch erzählt wird, aber es rutscht dann vielleicht mitunter auch in eine offensichtliche Konstruktion ab:
Das ist ja keine akute Erzählposition, der Erzähler erzählt zwar manches im Präsens, aber es ist das, was ich aktive Rekapitulation nenne, der Versuch einer exakten Abbildung, die durch den Sprung in das damalige Jetzt erreicht werden soll. Das inkludiert natürlich das Vergehen von Zeit, das Werden und Bilden von Erfahrung, deswegen darf die schon etwas anders klingen, reifer, gesetzter, oder? Ich weiß auch nicht, was hier eine offensichtliche Konstruktion sein soll; da wiederhole ich mich jetzt: welche Konstruktion wäre denn deiner Meinung nach nicht offensichtlich? Vielleicht wenn ich dir die Geschichte brühwarm und halb besoffen in der Kneipe ins Ohr semmle, ohne wirklichen Zusammenhang und nicht kohärent, dann gäbe es wahrscheinlich tatsächlich keine beabsichtigte Konstruktion, aber Literatur ist doch eben gerade das NICHT, es ist doch eben Komposition, die Selektion von Fakten, die Wiedergabe von Zeit, die Überlagerung und das Verdichten von erzählerischen Archiven. Dieser Text funktioniert (naja, sagen wir, ich hoffe, dass er es tut!) durch eine gewisse Anlage, das Herein und Herausgleiten in die Zeit, das Elliptische, das Ungesagte, das im Hintergrund, im Unbewussten schwärende. Das ist so, ja. Das kreiert für mich erst das vollständige Bild, das ja aber doch auch trotzdem unfertig bleibt, der Erzähler ist ja damit nicht fertig, er vergisst nicht, bleibt aber dem Geschehenen dennoch hilflos, tatenlos gegenüber, er kann nichts mehr ändern, aber auch nicht vergessen, ein Dilemma. Wenn du das mit das Beste aus beiden Welten meintest, ist doch alles bestens, sag ich mal.

Gruss, Jimmy

 

Hallo @jimmysalaryman,

nur kurz zu einem Punkt:

Ist ja eine Kurzgeschichte, also wird komprimiert, liegt in der Natur des Genres. Man kann natürlich auch jedem Text seine Konstruktion vorwerfen. Aber auch das ist eines der Wesen von Literatur: die Komposition.

Vielleicht wenn ich dir die Geschichte brühwarm und halb besoffen in der Kneipe ins Ohr semmle, ohne wirklichen Zusammenhang und nicht kohärent, dann gäbe es wahrscheinlich tatsächlich keine beabsichtigte Konstruktion, aber Literatur ist doch eben gerade das NICHT, es ist doch eben Komposition, die Selektion von Fakten, die Wiedergabe von Zeit, die Überlagerung und das Verdichten von erzählerischen Archiven.

Es geht mir nicht um die Tatsache, dass etwas auf eine vielleicht klare Weise komponiert ist, mir geht es um ein Durchscheinen der Konstruktion. Das sind für mich zwei Dinge.

Ein Freund von mir, der Künstler (Malerei) ist, hat mal in einer Ausstellung über ein Bild bzw. einen bestimmten Künstler gesagt: Der hat automatisch den Bonus, dass keiner genau weiß, wie er das Bild gemalt hat, mit welchen selbst entwickelten Techniken. Dadurch stehen auch andere Profi-Künstler davor und sind auf eine gewisse Weise naiv fasziniert. Sie kommen nicht ganz hinter die Wirkung.

Und Kunst lebt ja von ihrer Wirkung und davon, dass sie einen reinzieht und vereinnahmt, würde ich sagen. Das heißt, sobald einem bewusst wird, dass eine Figur im Film eigentlich ein Schauspieler ist oder ein Sonnenuntergang nur auf eine bestimmte Weise gesetzte Pinselstriche oder eben eine zuvor packende Geschichte nur ein Text, der von einem Autor gezielt auf eine bestimmte Weise konstruiert wurde, verpufft zumindest zeitweise ein Teil dieser Wirkung. Oder nicht? Darum heißt es ja oft hier: Die Geschichte hat mich nicht reingezogen, konnte mich nicht erreichen. Irgendeine Kluft muss also aufgeben werden vom Text.

Ich weiß nicht, ob klar wird, worauf ich hinaus will. Im Grunde nur darauf, dass sich – ganz abstrakt ausgedrückt – das gezielte Arrangement von bestimmten Elementen in deinem Text in Relation zum "organischen" Ablauf der Ereignisse leicht übergewichtet angefühlt hat. Etwas Artifizielles empfand ich als etwas zu präsent. Besser kann ich es nicht beschreiben und natürlich ist das nur mein persönlicher Eindruck.

Keine Ahnung, ist vermutlich auch nicht wichtig ¯\_(ツ)_/¯

Freundliche Grüße

 

Ich weiß nicht, ob klar wird, worauf ich hinaus will. Im Grunde nur darauf, dass sich – ganz abstrakt ausgedrückt – das Arrangement von bestimmten Elementen in deinem Text in Relation zum "organischen" Ablauf der Ereignisse leicht übergewichtet angefühlt hat. Etwas Artifizielles empfand ich als etwas zu präsent. Besser kann ich es nicht beschreiben und natürlich ist das nur mein persönlicher Eindruck.
Verstehe ich und verstehe es wiederum doch nicht. Welche Elemente sind denn hier nun übergewichtet? Würde mich interessieren. Auch was genau artifiziell sein soll in dem Text, das ist ja so ein Oberbegriff, den ich kaum je fassen kann, weil das ja alles sein kann. Die Erzählstimme, der Sound, die Gegebenheiten, die Zeitsprünge? Etwas Künstliches, was zu präsent ist. Das würde im Grunde dem gesamten Text die Grundlage nehmen, ihn zerstören, und da wüsste ich schon gerne genau, was du damit meinst.

Ich denke und glaube, man kann nichts mehr wirklich neu erschaffen, und es gibt auch nur eine gewisse Anzahl an Erzählstrategien, die sich immer in Varationen wiederholen. Ich operiere natürlich auch damit, dass ich sage, ich erkenne, was der Autor will, mit welchem Wasser er kocht, welche Mittel er benutzt, wie und warum, das kann man an jeden Text anlegen und es gibt kaum Texte, die mich diesbezüglich beeindrucken, ich kann, wenn ich will, auch jede Konstruktion sehen und einen Text oder nahezu jedes Medium daraufhin analysieren. Ist immer ein Totschlagargument, oder?

Der hat automatisch den Bonus, dass keiner genau weiß, wie er das Bild gemalt hat, mit welchen selbst entwickelten Techniken. Dadurch stehen auch andere Profi-Künstler davor und sind auf eine gewisse Weise naiv fasziniert. Sie kommen nicht ganz hinter die Wirkung.
Bedeutet also, dadurch, dass du glaubst, zu wissen, wie der Text oder Texte aufgebaut sind, verliert er also an Wirkung für dich? Dann dürfte man ja eigentlich nichts mehr konsumieren, denn im Grunde weiß man ja immer, wie etwas konstruiert wird.

Ich denke, um die Diskussion mal auf Textebene zu lassen und nicht auf eine Meta-Ebene abgleiten zu lassen, fände ich es eher hilfreich, wenn du konkret am Text bleibst, welche Teile wie und warum künstliches Übergewicht bekommen durch ihr Arrangement? Ich glaube ja, man kann dem Text nichts wegnehmen und auch nichts mehr hinzufügen, ich habe schon sehr auf die Statik geachtet. Mir wird auch nicht klar, wie ein Text so anders aufgezogen werden könnte, das man keine Konstruktion sieht; jeder, der sich ein bißchen mit Literatur beschäftigt, wird doch mit der Zeit Muster und Pattern erkennen, wie die Erzählstimme angelegt ist, wann welche Ereignisse erzählt werden, was ausgelassen wird und warum, ich meine, das ist doch das Handwerk. Wir sehen das natürlich klarer und unbarmherziger, weil wir selber schreiben, ich muss auch immer meinen inneren Lektor ausschalten, wenn ich lese, weil ich oft denke: Ah, und jetzt kommt er wieder zurück zum eigentlicher Pfeiler der Geschichte, der Rest waren nur red herrings, aber das schmälert natürlich jeden Genuss, jede Freude am Text. Auf der anderen Seite ist für mich die rohe Analyse auch hilfreich, weil jeder Autor oder Künstler mit Wasser kocht und nie aus sich selbst heraus schafft, sondern immer im Bezug und in Relation zu anderen Autoren steht. Wenn ich also grundlegend so arbeiten würde, dass man gar keine Konstruktion erkennt, dann müsste ich wahrscheinlich Avantgarde schreibe und mir Neologismen ausdenken, das erkennt dann niemand mehr.

Gruss, Jimmy

 

Der hat automatisch den Bonus, dass keiner genau weiß, wie er das Bild gemalt hat, mit welchen selbst entwickelten Techniken. Dadurch stehen auch andere Profi-Künstler davor und sind auf eine gewisse Weise naiv fasziniert. Sie kommen nicht ganz hinter die Wirkung.
Ich glaube, das ist auch ein falscher Gedanke bzw ein falsches gedankliches Ergebnis. Man empfindet ja die Wirkung, nur weiß man vorgeblich nicht, wie diese, mit welchen Mitteln, erreicht wurde. Mit dem Wissen um das Handwerk würde das wegfallen, dieses erste Erstaunen. Wie bei einem Zauberer, wenn man den Trick einmal kennt ... In der Literatur fast unmöglich, nehme ich an; spätestens mit den ganzen Büchern über Schreibhandwerk etc, hat sich doch jedes Geheimnis erledigt. Ich will mich da nicht rausreden, wenn du glaubst, dass der Text zu offensichtlich konstruiert ist, dann muss ich damit leben. Ich sehe jedoch nicht, wie sich das ändern ließe. Das wäre auch die anschließende Frage: ist es überhaupt möglich, Texte zu schreiben, zu erzählen, ohne dass es offensichtliche Konstruktionen gibt? Sind diese Konstruktionen nicht eigentlich die Essens des Erzählens, also unabdingbare Muster, die sich durch die Jahrtausende, seit Aristoteles quasi, bereits bewiesen haben und deswegen in unserem narrativen Archiv so abgespeichert sind? Dies bitte nicht hier im Thread beantworten, weil ich keinen Bock auf ausufernde Meta-Diskussionen habe, die mit dem Text, der mir irgendwie viel bedeutet, nichts zu tun haben.

Gruss, Jimmy

 

Hallo @jimmysalaryman ,

nicht dass du mich falsch verstehst – ich hatte einfach diese Gedanken. Es war nicht mal eine Kritik. Manchmal weiß ich ehrlich gesagt auch nicht mehr, wie defensiv ich noch formulieren soll, damit klar wird, dass ich einfach nur meine Ideen zu Texten wiedergebe, wie ich sie nun mal habe.

Was du machen könntest, fragst du. Spontan fällt mir zum Beispiel ein, den letzten Absatz zu killen. Das ist nämlich schon exemplarisch genau so ein klares Konstruktionselement: Der Text wird, so dumm das ausgesprochen klingt, von der Sülze formal eingerahmt. Braucht er das? Und braucht er den doppeldeutigen Fingerzeig ganz am Ende, dass man sich nicht selbst was vormachen kann?

Solche Fragen richte ich zumindest als kritischer und methodischer Leser hier am Forum an so einen Text. Man kann durchaus die Essenz der Geschichte voll erhalten, aber den Text in Sachen Artistik herunterstufen und die Dinge etwas mehr kaschieren.

Aber am Ende ist es ja dein Text. Zum gefühlt zehnten Mal in den letzten Wochen: Wenn man nicht weiß, wo ein Text hinsoll, kann man nur subjektiv von sich ausgehen in Kommentaren. Was ich mir so gedacht hab, weißt du jetzt, und kannst das in deine eigenen Überlegungen und das übrige Feedback einreihen.

Freundliche Grüße

 

Das ist nämlich schon exemplarisch genau so ein klares Konstruktionselement: Der Text wird, so dumm das ausgesprochen klingt, von der Sülze formal eingerahmt. Braucht er das? Und braucht er den doppeldeutigen Fingerzeig ganz am Ende, dass man sich nicht selbst was vormachen kann?
Das ist konkret, damit kann ich mehr anfangen.

Der Text wird von der Sülze eingerahmt, aber natürlich aus Gründen: das ist ja ein Teil der familiären Dynamik, das Herstellen und Essen von Sülze ist ja ein weitergebendes Element, es überdauert die Generationen und Jahre, es wird in dem Sinne vererbt und steht somit ja aus Bestandssymbol im Text. Ich glaube, wenn man den letzten Absatz komplett streicht, dann fehlt etwas, nämlich die Verankerung in der Gegenwart, etwas, was aus dem Vergangenen im Präsens stehenbleibt, denn der Großvater und seine Taten sind nicht vergessen, sie leben in der Sülze weiter, wenn man das mal metaphorisch sehen will, und die Sülze steht auch für eine gewisse Zeit, für diese Zeit, in der die Vergangenheit des Großvaters beleuchtet wird, also eine düstere Zeit. Trotzdem bleibt dieses Gericht ja als Konsummittel bestehen, es verbindet den Erzähler ambivalent mit dem Geschehen, es wird auch nie ganz klar, ob er die Sülze überhaupt genießen kann, es ist beides, Archiv und Gegenwart, jedenfalls etwas, das Bestand hat. Der Rahmen ist mir wichtig, weil er einen echten Abschluss bietet, die Narration komplettiert. Über den letzten Satz denke ich nach. Ich habe ihn nachgeschoben, zuerst stand da nur, das, wenn man einmal etwas weiß, dass man es dann weiß, Vielleicht die bessere Wahl.

Manchmal weiß ich ehrlich gesagt auch nicht mehr, wie defensiv ich noch formulieren soll, damit klar wird, dass ich einfach nur meine Ideen zu Texten wiedergebe, wie ich sie nun mal habe.
Ich denke, das hat nichts mit defensiv formulieren zu tun, nur mit einer gewissen Ähnlichkeit deiner Gedanken, denn die Durchsichtigkeit der Konstruktion scheint es dir ja angetan zu haben. Ich finde, dass es sich lohnt, darüber nachzudenken, besser fände ich es, wenn du vom Abstrakten dich auf das Konkrete verlegst und anhand Beispiele aus dem Text belegst, was für dich ein Exempel wäre. Hier sagst du, letzter Absatz, letzter Satz, das ist konkret, darauf kann ich antworten. Für den Rest gibt es einen Extra-Thread, denke ich, weil man sich sonst im Kreis dreht. Nicht, dass ich sage, diese Überlegungen sind es nicht wert oder ich will die nicht diskutieren, aber vielleicht sind die unter einer Geschichte nicht unbedingt am besten aufgehoben. Sieh mal, andere Kommentatoren wühlen sich jetzt durch lange Kommentare von uns beiden und erfahren unsere Gedanken zu allgemeinem literarischen Handwerk, aber eher weniger über den Text bzw wie sich diese Gedanken im Text wiederfinden oder implementieren lassen. Das finde ich schade, weil in diesem Thread geht es doch um meine Geschichte, oder nicht?, und die sollten wir für sich sprechen lassen.

Ich hoffe, dass du damit einverstanden bist.

Gruss, Jimmy

 

Ich finde, dass es sich lohnt, darüber nachzudenken, besser fände ich es, wenn du vom Abstrakten dich auf das Konkrete verlegst und anhand Beispiele aus dem Text belegst, was für dich ein Exempel wäre.

Noch ein mal Hallo @jimmysalaryman,

ich kann das gerne machen, wenn das hilfreich ist. Ich hatte nur die Angst, dass es dann so aussieht, als würde ich den halben (oder ganzen?) Text "kritisieren", wenn ich da so durchkommentiere. Das wirkt dann vielleicht überkritisch, was es nicht soll: Der Text gefällt mir sehr, seine eventuelle Schwäche, ist die Folge seiner Stärke.

Darum dachte ich: Spreche ich die Dinge doch besser allgemein an, wird schon klar werden, was ich meine. Ist wohl nicht so. Tja, wie man's macht, ist es falsch :-)

Ich beziehe mich also noch einmal mit meinen Eindrücken konkret auf den Text. Vorweg aber noch einmal: Wenn die Dinge, die mir als anmerkungswürdig erscheinen, "so sein sollen", dann ist das für mich kein Problem! Es ist, was ich mir beim Lesen bzw. gedacht habe.

Mein Großvater steht vor dem Herd und rührt in einem großen Topf, feuchter Dunst zieht durch das angekippte Fenster. Er schöpft mit einer Kelle Schaum ab, und erst jetzt sehe ich den Kopf, der auf dem kochenden Wasser schwimmt. Hier, sagt er und schneidet mit einem seiner Ausbeinmesser ein Stück aus der Backe. Da ist der Rauch von Zigaretten und der Geruch des Fleisches in der kleinen Küche. Ich bin zehn oder elf Jahre alt.
Beste Stück vom Schwein, sagt mein Großvater, mein Opa, es liegt dampfend auf der Messerscheide. Ich entstamme einer Familie von Mehlbauern und Metzgern, der Geschmack von Fleisch ist etwas sehr vertrautes für mich. Meine Onkel spielen mit meinem Vater Skat im Wohnzimmer, ich kann hören, wie sie ihre Ansage brüllen, das Klirren von Bierflaschen.
Muss noch Schnauze und Schwarte würfeln, sagt mein Großvater. Kannst mir nachher helfen.
Ich nicke und beiße in das Stück Fleisch, es ist weich und voller Saft. Ich kaue langsam und gründlich, Backe ist das beste Stück vom Schwein.
Und so oft macht der Opa ja keine Sülze mehr, sagt mein Vater, aber das sagt er nur bei uns zuhause, nicht hier, nicht im Haus seiner Eltern.
Die Fliesen auf dem Balkon kühl unter meinen Füßen, ich bin barfuß, es sind die letzten Tage der großen Ferien. Danach geht es auf eine andere Schule unten in der Stadt, und ich weiß noch nicht, wie ich das finden soll. Doch jetzt bin ich hier, in diesem großen Haus, ich gehe die Treppe hinunter und stehe im Garten, ein schmales, langes Stück Land, die Beete akkurat voneinander getrennt, der Weg aus Kopfsteinpflastern gelegt. Ich erinnere mich an den strengen Geruch der Erde; mein Großvater bekam seinen Dünger von den umliegenden Höfen geliefert, die Bauern wollten ihm die Parzelle abkaufen, einen ganzen Hektar!, aber er hat immer abgelehnt. Da sind Pflaumenbäume zu meiner Rechten, die Äste dick und knorrig. Niemand weiß genau, wer sie gepflanzt hat oder wie lange sie schon dort stehen, doch sie tragen jeden Sommer Früchte, auch diesen. Aus einem Teil buk meine Großmutter Kuchen, den anderen Teil gaben sie an einen Nachbarn, der in seiner Laube im Westerwald daraus Schnaps brannte. Eine Sache faszinierte mich besonders: ganz am Ende des Gartens, im Schatten einer halbhohen Backsteinmauer, stand der Komposter. Ein aus Dachlatten zusammengenageltes Behältnis, verschlossen mit einer passenden Lage scharfkantigem Hühnerdraht, so dass die Katzen nicht reinscheißen konnten. Dieser Ort zog mich magisch an. In dem Komposter landeten alle Küchenabfälle, Eierschalen, faules Obst, Reste von geschnittenem Gemüse, aber auch Papier, Kaffeesatz und Sägespäne aus der Werkstatt; meine Familie stammt aus Galizien, sie waren vor Jahrhunderten als calvinistische Bauern aus der Pfalz in dieses ferne, fremde Land eingewandert mit der Hoffnung auf ein besseres Leben, doch fanden sie dort die gleichen kargen Böden vor wie in der Heimat. Wenn man die Hand ausstreckt und ganz nah über den Kompost hält, über diese werdende Erde, dann spürt man organische Hitze, so dicht und gleichmäßig wie die späte Glut eines Holzfeuers. Man nennt es Heißrotte, die hohe Temperatur entsteht durch zersetzende Organismen, die tief im Erdreich arbeiten. Es war ein eigenartiges Gefühl, diese Hitze zu spüren; meine Hand berührte die Erde nicht, doch schien es immer, als wäre sie lebendig, ein pulsierender Körper gleich unter der Oberfläche.

Bis hierhin liest es sich für mich "organisch". Der letzte Satz unterbicht das Gefühl für mich. Der ist wie ein aufleuchtendes Schild: Achtung, hier kommt Bedeutung und Schwere! Ab jetzt besser aufmerksamer sein.

Ich bin bei jedem Besuch zu diesem Komposter gegangen und habe meine Kinderhände durch das Holzgitter gesteckt, selbst im Winter, als die Erde schon hart gefroren war. Das sind Erinnerungen, die geblieben sind, die nicht mehr weggehen, die immer da sein werden. Als ich ins Haus zurückkehre, beginnt es bereits zu dämmern. Ich höre meinen Vater lachen, sie spielen immer noch Skat, es wird Schnaps getrunken. Mein Großvater sitzt in dem abgedunkelten Zimmer neben der Küche, in dem ansonsten Bügelbrett und Heißmangel stehen. Er hat Schuhe und Socken ausgezogen, die Beine von sich gestreckt, seine nackten Füße liegen auf einem Schemel. In der Hand hält er ein bauchiges Glas, Hennessy ist seine Marke. Ich bleibe vor der Tür stehen, das letzte Sonnenlicht fällt durch die halb geschlossenen Lamellen der Rollade und erhellt den vollgestellten Raum, und da, als ich vor ihm stehe, da fallen mir seine Füße auf, unförmig und wie verdreht, als fehle etwas; ich hatte sie noch nie zuvor gesehen und konnte nicht aufhören, sie anzustarren.
Krieg, sagt mein Großvater. Abgefroren.
Ich schäme mich, weil ich so ungeniert seine deformierten Füße angestarrt habe, doch ihm scheint das nichts auszumachen.
An der Ostfront, die Nächte, die waren ja so kalt … Wenn du das überlebt hast, habense dir gleich n Orden umgehangen, Gefrierfleischorden.

Hier etwa ist die Stelle, wo ich an die Textkonstruktion denke, nicht an die Szene selbst. Ich denke: Aha, der Einstieg mit der Sülze, das war mehr als Setting. I see what he is doing: Szenischer Einstieg, dann eine Runde durch Backstory und Sinnlichkeit, jetzt wird das brutale und rohe Fleisch-Motiv vom Anfang aufgegriffen und mit einer größeren Bedeutung versehen. Stimmt, auch der Titel zeigt das ja schon an ... nicht schlecht gemacht, alles stimmig, aber ach, jetzt denke ich ja über den Textaufbau nach, bin aus der Story geflogen!

Ich muss gestehen, dass ich die geschilderten Ereignisse nicht ganz mitschneiden kann (der Einstieg und der folgende Schwenk zu "jedem Besuch" verwirren mich etwas) – aber mir scheint, wir sind immer noch im Ablauf der Szene, die am Anfang in der Küche begonnen hab.

Infolgedessen denke ich mir hier auch: Was ein "Zufall", dass der Opa die Socken das erste Mal gerade dann auszieht, wenn er auch Sülze kocht – zumal das der Text selbst ja ein seltenes Ereignis nennt.

Ich konnte mich nicht daran erinnern, ihn schon einmal über den Krieg sprechen gehört zu haben. Der Krieg war etwas, das in der Vergangenheit lag, bestenfalls eine schwache Erinnerung. Außerdem schien es etwas gewesen zu sein, was nur den anderen passiert ist; aus unserer Familie war offensichtlich niemand beteiligt gewesen, denn keiner sprach darüber. Mein Vater hat mir nur einmal diese Geschichte erzählt: Wie sich mein Großvater, um Fronturlaub zu bekommen, mit seiner Pistole selbst in den Arm schoss. Er hielt sich ein Kanten Brot über die zu Wunde, um Schmauchspuren zu verhindern, die ihn hätten verraten können. Nach seiner Genesung im Lazarett durfte er tatsächlich für ein paar Wochen nach Hause zurückkehren, wo er dann meine Großmutter heiratete. Mein Vater erzählte es als kuriose Episode, entkoppelt vom restlichen Geschehen, kein Wort über das Grauen und den Wahnsinn des Krieges. Er war ein guter Geschichtenerzähler, mein Vater, aus seinem Mund klang es wie ein verwegenes Abenteuer, das ein glückliches Ende findet. Weißt du, was wir im Krieg gemacht haben?
Ich schweige, und mein Großvater nickt und sagt: Zuerst haben wir ihnen die Zöpfe abgeschnitten, und dann haben wir sie geschlachtet wie Schweine.

Es geht "organisch" weiter, dann kommt diese sehr eindeutige weitere Parallele zwischen aktueller Situation und der Vergangenheit: Im Topf schwimmt das geschlachtete Schwein, der Opa erzählt von "geschlachteten Schweinen".

Gedanke kurz: Aha, aha, hier wird also mit dem Fleisch-Schlacht-Motiv die Brücke gebaut, hatte sich ja schon abgezeichnet.

Er nimmt einen Schluck aus dem Glas, und ich glaube, dass er mich anstarrt, dass er mich so anstarrt, wie ich seine abgefrorenen, verstümmelten Zehen angestarrt habe, doch das Licht wird auf einmal so gleißend, so dass alles, was ich von ihm erkennen kann, sein schattenhafter Umriss ist.
Er stellt das Glas auf den Beistelltisch und erhebt sich aus dem Sessel, auf seiner weißen Haut dunkle Muttermale. Ich stehe immer noch schweigend vor der Tür. Mein Großvater bückt sich, sammelt seine Socken ein, lange, graue Wollsocken. Seine Bewegungen sind schwerfällig, er stöhnt, ächzt, und als er sich den ersten Socken überstreift, bemerke ich seine zitternden Finger.
Komm, sagt er, seine Stimme leise und brüchig, geh schon mal vor, geh schon mal in die Küche. Er reibt sich mit einer Hand über den Nacken, wischt sie dann am Unterhemd ab, er schwitzt, ist erschöpft, sein Atem geht ganz flach. Er will nicht, dass ich ihn so sehe, denke ich und gehe in die Küche. Vor dem Herd bleibe ich stehen, spüre die dichte Hitze, ein feuchtwarmer Schwall im Gesicht.

Das Manöver der Parallele wiederholt sich hier, so mein Gedanke, dann schon zum dritten Mal: Der Opa schwitzt wegen dem früher, der Erzähler fühlt die Hitze im Jetzt. So langsam bekommt der Brückenbau für meinen Geschmack etwas allzu Offensichtliches – à la: Hab's kapiert!

Da ist immer noch der Topf, ich höre es darin köcheln. Der Dunst riecht nach Fett, nach Knochenmark, nach gegartem Fleisch und Schweinestall.

Aber es geht weiter: Jetzt geht es ins Detail, die sinnlichen Empfindungen spiegeln das Schlachtfeld bzw. die Körperlichkeit des Krieges wieder. Gedanke: Folgerichtig, also nicht wirklich überraschend; diese Verbindung von Fleisch und Krieg usw. liegt ja auch nahe, hat man schon oft mitbekommen.

Da passt etwas nicht zusammen; die Schweine, das Schlachten, das begreife ich ja, das ergibt sich, eins aus dem anderen, nur das mit den Zöpfen … wir haben ihnen die Zöpfe abgeschnitten. Ich überlege, denke nach, versuche es, aber ich werde es noch ein paar Jahre lang nicht begreifen.

Hier kommt jetzt etwas Spannendes Neues hinzu: Das Geheimnis um die abgeschnittenen Zöpfe. Vorher hat das höchstens kurz für Irritation gesorgt bei mir, hier wird es relevant. Es wurden also Frauen gedemütigt, vergewaltigt und abgeschlachtet!? Zusätzlich zur "normalen" Schuld der deutschen Soldaten bzw. Nazis kommt hier noch mal eine Ebene dazu. Es wird klar, warum eine Aufarbeitung praktisch undenkbar ist und nur noch Wegdrücken möglich ist. Folglich logisch:

Auf einmal steht er neben mir, ich habe ihn nicht kommen gehört. Er hat sich im Badezimmer frisch gemacht, Wassertropfen fallen von seinem Kinn auf den Herd, es zischt, und er sieht mich an und lächelt.

Der Opa sammelt sich und geht wieder dazu über, seine bürgerliche und familiäre Maske aufzusetzen. Es geht zurück in die Gegenwart zur Sülze.

Dann holen wir’n mal raus, sagt er und greift nach der Kelle. Dampf setzt sich von der fest gespannten, braunen Kruste ab, er stellt den Kopf auf ein Schneidebrett neben der Spüle, das glatte Holz wird dunkel von der ablaufenden Brühe.
Wenn's gar ist, geht's ganz einfach, sagt er und macht mit der Klinge einen Schnitt an der Stirn. Die Maske löst sich von selbst, fällt geradezu vom Knochen, darunter schimmert gräuliches Fleisch und weiß glänzendes Fett.

Hier dann erneut die für mich zu große Deutlichkeit und darum aufscheinende Konstruktion: Der Text interpretiert das Verhalten des Großvaters selbst und schafft die nächste Parallele mit dem Motiv des Fleisches. Die Maske fällt auch noch einmal physisch in der Gegenwart und das Unschöne darunter erhält auch noch einmal konkrete Gestalt – wobei hier eine spannende Ambivalenz ins Spiel kommt, da gräuliches Fleisch und Fett vielleicht nicht gerade appetitlich klingen, aber ja durchaus schmecken und nicht zuletzt auch einfach ein Stück Natur sind. Sind also auch Krieg und Gräueltaten ein Stück Natur?

Als wir wieder zuhause sind, erzähle ich meinem Vater davon. Ich warte, bis meine Mutter unten in der Waschküche ist, bis er alleine vor dem Fernseher sitzt und die Sportschau guckt. Zuerst frage ich ihn, ob er weiß, was der Opa im Krieg gemacht hat? Mein Vater antwortet nicht sofort, er hebt kurz das Kinn und schaut auf den Bildschirm, bis die laufende Spielszene unterbricht; es gibt Eckball.
Ich mein, der war an der Flak, sagt er, deswegen hört der doch so schwer.
Dann erzähle ich es ihm, ich erzähle es Wort für Wort.
Ach was, dein Opa, sagt mein Vater. Also nein, das nennt man Demenz, ja? Das ist dann so, das ist gar nicht richtig wahr. Der weiß manchmal nicht mehr, was er da eigentlich von sich gibt. Bei der Trauerrede ein paar Monate danach hieß es: Liebevoller Vater von sechs Kindern. Treuer Ehemann. Gläubiger Christ. Dreißig Jahre lang bei Mannstedt in der Fertigung. Immer verlässlich und verantwortungsbewusst. Grüner Daumen. Die besten Erdbeeren der Siedlung. Ein Mann, der seinen Humor nie verloren hat. Ich erinnere mich, dass meine Großmutter bei der Beerdigung keine einzige Träne vergossen hat. Es war ein seltsamer Anblick, über den ich heute noch nachdenke, wie sie da ganz steif neben meinem Vater saß, am Ende der ersten Reihe zum Gang hin, und immer wieder auf die Hände in ihrem Schoß blickte, als ginge ihr das alles nicht schnell genug, als wäre sie eigentlich lieber woanders. Jahre später, als ich es dann begriffen hatte, habe ich es noch einmal versucht. Wir saßen im Wohnzimmer, meine Mutter bereitete in der Küche das Abendessen vor, aber mein Vater schüttelte nur den Kopf und tippte sich mit dem Finger gegen die Stirn: Ach was! Dann nahm er einen Schluck Bier aus seiner Flasche und fragte mich, was ich eigentlich vom neuen FC-Trainer halte. War er dir ein guter Vater? Was hat das mit ihm gemacht? Was hat das mit dir gemacht? Es gab so viele Fragen. Doch ich blickte auf den Grund meines leeren Glases und sagte nur: Der FC steigt schon nicht ab. Mein Vater starb kurz darauf, ganz plötzlich und unerwartet. Er starb weg, wie man hier sagt. Er ging an einem heißen Sommernachmittag aus dem Garten zurück ins Haus, legte sich zum Ausruhen auf die Couch und wachte einfach nicht mehr auf. Die Ärzte sagten, es war ein Herzinfarkt.

Bis hierhin geht es dann wieder "organisch" weiter, ich komme wieder ins Geschehen, bis an der folgenden Stelle wieder das "Achtung, wichtig!"-Schild aufleuchtet. Der Text spricht aus, was er laut Eigenaussage nicht kann oder will, nämlich die fett markierten Dinge:

Manche glauben, dass die Wahrheit im Blick liegt. Andere, dass man sie an der Stimme erkennt, an der Art, wie Menschen sprechen. Klangfarbe und Geschwindigkeit, die Auswahl der Wörter. Ich empfinde keinen Hass und keine Scham. Ich kann die Dinge weder ändern noch ungeschehen machen. Ich würde gerne behaupten, dass wenn ich an diese Zeit denke, dass ich dann vor allem an die Erde denke, so still und warm. Es würde nach Bedeutung klingen, gravitätisch, tiefgründig und so, als gäbe es da ein Geheimnis. Am Ende werden wir selbst wieder zu Erde, das ist alles. Aber vielleicht behält die Erde ja auch jede unserer Erinnerungen, lagert sie zwischen den Krumen, begraben im Sediment, Schicht über Schicht in Dunkelheit. Ich kann es mir nicht vorstellen. Nein, das stimmt nicht: Ich will es mir nicht vorstellen. Das ist etwas anderes.

Die Schilderungen des Settings am Anfang habe ich bereits als sehr gravitätisch empfunden – was hat mehr Gravitas als Familienstrukturen und die Natur? Ich sprach ja im ersten Kommentar schon von "archaisch". Das ist in meinen Augen nah an Gravitas.

Die ist laut Lexikon: "die Eigenschaft einer Entscheidung, einer dramatischen Wendung oder Entwicklung von sehr großer Wichtigkeit zu sein."

Archaisch heißt: der Vor-, Frühzeit angehörend oder aus ihr überkommen; vor-, frühzeitlich ("eine archaische Pflanzenwelt, Fauna"), entwicklungsgeschichtlich älteren Schichten der Persönlichkeit angehörend

Was ist im existenziellsten Sinne wichtiger als Familie und Natur und die tiefen Schichten der Persönlichkeit?

In der aktuellen Passage kommt aber jetzt geballte Gravitas, es fallen die größten und existenziellsten Begriffe wie ein Sturmgewehrfeuer: Wahrheit, Art, Mensch, Stimme, Wort, Klang, Farbe, Hass, Scham, Zeit, Erde, Erinnerung, Krumen, Sediment, Schicht, Dunkelheit.

Mit dem Vokabular könntest du ja quasi das halbe Alte Testament schreiben. Das ist schon die sehr große Wortkanone und dieses Vokabular mischt sich dann eben in das schon angebahnte Gefühl, dass dieser Text wirklich etwas Bedeutsames über das eigene Erleben und die Vergangenheit aussagen will. Das nimmt ihm an Überraschungseffekt und Subtilität und eben auch an Verführung, wenn du verstehst, was ich meine. Er beginnt sich vielleicht ein Stück weit selbst im Weg zu stehen durch seinen Anspruch und die bedeutungsschwere Umsetzung.

Man kann das anders sehen und sagen: Das alles ist in dem Fall dieses Themenkomplexes ja völlig angemessen – wo ist es legitimer, als bei diesem Themenkomplex, in die ganz große Begriff- und Allegoriekiste zu greifen? Will ich nicht bewerten.

Ich weiß nur für mich mischt sich der Eindruck der letzten und auch der folgenden Passage in die schon thematisierten sehr offensichtlichen Parallelen, sodass sich das Gesamtbild einer Story ergibt, die sehr klar kalkuliert, was sie wie sagt, und die ganz deutlich vieles zusammenführen will. Das gelingt ihr auch sehr gut – keine Frage! – er ist nur eben auch ersichtlich für den geschulten Leser.

Nur der Geschmack von Fleisch ist mir vertraut geblieben. Ich mache die Sülze nicht selbst, ich kaufe sie bei einem Metzger in der Stadt. Sie schmeckt nicht so wie die von meinem Großvater, aber das muss sie auch nicht. Ich schneide sie in dünne Scheiben, beträufele sie mit ein wenig Essig und fein gehackten Zwiebeln. Ich esse sie nicht mehr oft, und wenn, dann lasse ich mir Zeit, kaue langsam und gründlich, trinke dazu ein kühles Bier. Manchmal schließe ich dabei die Augen und versuche so zu tun, als hätte ich noch nie Sülze gegessen, als sei jeder Bissen mein erster. Doch ich kenne den Geschmack, den Geruch, ich kenne ihn sehr gut, und ich weiß auch, wie sich die Textur im Mund anfühlt, die Säure an der Zungenspitze. Man kann sich nicht selbst betrügen. Wenn man einmal etwas weiß, weiß man es.

Hierzu hatte ich ja schon was gesagt. Der letzte Absatz ist klar ein formaler Rahmen, der dem Leser auffallen muss. Und er geizt ganz wie der übrige Text nicht mit Bedeutung und Schwere.

Schau mal, ob du mit diesem Kommentar mehr anfangen kannst. Es wird dann auch mein vorerst letzter sein, die nächsten Tage werde ich keine Zeit für die schöngeistigen Dinge dieser Welt haben.

Schönes Wochenende noch!

 

ich kann das gerne machen, wenn das hilfreich ist.
Das finde ich sehr gut. Konkret am Text, immer am besten.

er ist wie ein aufleuchtendes Schild: Achtung, hier kommt Bedeutung und Schwere! Ab jetzt besser aufmerksamer sein.
Das stimmt. Ich sehe das. Ich glaube, was hier erreicht werden soll, ist der Kurzschluss mit der emotionalen Ebene des Erzählers. Ist immer schwierig, abzuschätzen, ob das eventuell zu viel ist, ob das erwähnt oder lieber im Text "verschwinden" sollte, also diese Ebene der Bedeutung, die ja hier stellvertretend erklärt wird. Streichkandidat.

I see what he is doing: Szenischer Einstieg, dann eine Runde durch Backstory und Sinnlichkeit, jetzt wird das brutale und rohe Fleisch-Motiv vom Anfang aufgegriffen und mit einer größeren Bedeutung versehen. Stimmt, auch der Titel zeigt das ja schon an ... nicht schlecht gemacht, alles stimmig, aber ach, jetzt denke ich ja über den Textaufbau nach, bin aus der Story geflogen!
Ist ja eher eine Analyse. Finde ich gar nicht verkehrt, das in alle Einzelteile zu zerlegen. Man fragt sich eben, ob das ein normaler Leser auch so liest. Wahrscheinlich nicht. Was du hier machst, mache ich ja bei anderen Texten auch, so funktionieren Texte oder Textarbeit im Grunde, man sucht nach Mustern, nach Prämissen, nach dem Handwerk. Das wäre für mich jetzt noch nicht offensichtlich, den jeder Text funktioniert ja irgendwie.
Infolgedessen denke ich mir hier auch: Was ein "Zufall", dass der Opa die Socken das erste Mal gerade dann auszieht, wenn er auch Sülze kocht – zumal das der Text selbst ja ein seltenes Ereignis nennt.
Nein, nicht die Sülze machen ist ein seltenes Ereignis, sondern dass der Opa die nicht mehr so oft machen wird, das steht im Text. Zum Zufall des Socken ausziehens - ja, das stimmt, ich hatte da auch noch einen anderen Satz in einer früheren Version drin, die das näher erläutert, diesen aber rausgenommen, weil ich den zu erklärend finde. Man kann natürlich fragen, warum gerade jetzt der Zufall, ich lasse mir da noch was einfallen, aber im Grunde könnte man diesen Zufall auch als solches kaufen: manchmal ist das eben so, und aus diesen Zufällen entstehen solche Geschichten. Das mit dem Socken bräuchte es auch gar nicht, der Opa könnte einfach so anfangen, davon zu erzählen, es ist aber eben das, was tatsächlich passiert ist, deswegen habe ich darüber gar nicht in diesem Sinne nachgedacht.
Das Manöver der Parallele wiederholt sich hier, so mein Gedanke, dann schon zum dritten Mal: Der Opa schwitzt wegen dem früher, der Erzähler fühlt die Hitze im Jetzt. So langsam bekommt der Brückenbau für meinen Geschmack etwas allzu Offensichtliches – à la: Hab's kapiert!
Das sehe ich, ich habe das allerdings, wie mir jetzt auffällt, gar nicht beabsichtigt. Es stimmt, in der Dichte muss das nicht sein, ich habe da aber auch keinen Motivkurzschluss gesehen.
Hier kommt jetzt etwas Spannendes Neues hinzu: Das Geheimnis um die abgeschnittenen Zöpfe. Vorher hat das höchstens kurz für Irritation gesorgt bei mir, hier wird es relevant. Es wurden also Frauen gedemütigt, vergewaltigt und abgeschlachtet!? Zusätzlich zur "normalen" Schuld der deutschen Soldaten bzw. Nazis kommt hier noch mal eine Ebene dazu. Es wird klar, warum eine Aufarbeitung praktisch undenkbar ist und nur noch Wegdrücken möglich ist. Folglich logisch:
Nein, nicht Frauen, sondern die Zöpfe von Juden wurden abgeschnitten. Ich dachte, das wäre offensichtlich und bedarf keiner zusätzlichen Erklärung, siehste mal!

Hier dann erneut die für mich zu große Deutlichkeit und darum aufscheinende Konstruktion: Der Text interpretiert das Verhalten des Großvaters selbst und schafft die nächste Parallele mit dem Motiv des Fleisches. Die Maske fällt auch noch einmal physisch in der Gegenwart und das Unschöne darunter erhält auch noch einmal konkrete Gestalt – wobei hier eine spannende Ambivalenz ins Spiel kommt, da gräuliches Fleisch und Fett vielleicht nicht gerade appetitlich klingen, aber ja durchaus schmecken und nicht zuletzt auch einfach ein Stück Natur sind. Sind also auch Krieg und Gräueltaten ein Stück Natur?
Habe ich ehrlich gesagt, auch nicht beabsichtigt, spannend, wie man das lesen kann. Ist natürlich auch eher eine Interpretation von dir, jeder liest das ja auf seine Weise. Würde ich so stehen lassen, denn für mich liest sich das eher anders, betont eher das Handwerkliche des Schlachtens und somit des Tötens, aber man kann es sicherlich auch so lesen. Ob das offensichtlich ist, weiß ich nicht, ich empfinde es nicht so, ich empfinde es eher als eine weitere Ebene, die aufgemacht wird. Und ja, ich denke schon, dass Krieg, das Kriegerische und somit alles, was sich darunter summiert wird, auch zum Menschsein dazugehört, ob wir das wollen oder nicht. Die Gleichzeitigkeit, das Synchrone spielen ja in diesem Text nicht umsonst eine Rolle, also Schlachten, das Töten, wie sich das ähnelt, wie schnell man da die tatsächliche Menschlichkeit verlieren kann.
Bis hierhin geht es dann wieder "organisch" weiter, ich komme wieder ins Geschehen, bis an der folgenden Stelle wieder das "Achtung, wichtig!"-Schild aufleuchtet. Der Text spricht aus, was er laut Eigenaussage nicht kann oder will, nämlich die fett markierten Dinge:
Da gebe ich dir Recht. Ich arbeite ja gerade an wirklich kurzen Texten, und da benötigt man manchmal so einen erklärenden Einschub, der den Leser in eine Richtung schieben soll, oft erledigt sich der im weiteren Verlauf, weil der Text dann doch alles erklärt, nur weiß man das vorher ja nicht. Streichkandidat.
Mit dem Vokabular könntest du ja quasi das halbe Alte Testament schreiben.
Ist ein alttestamentarischer Text, in der Tat. Ich denke, es gibt viele Arten und Weisen, wie man darüber schreiben kann, Krieg, Familie etc, es sind wichtige, essentielle Themen, und ich wähle das nicht vorher aus, überlege nicht, wie ich etwas sage bzw schreibe, sondern schreibe einfach, so kommt es aus mir heraus. Ich könnte mir nicht vorstellen, über den Krieg locker flockig oder ironisch zu schreiben, ich sage nicht, man kann oder darf das nicht, ich mache das nun anders.
Hierzu hatte ich ja schon was gesagt. Der letzte Absatz ist klar ein formaler Rahmen, der dem Leser auffallen muss
Sehe ich. Ich werde diesen Abschnitt kürzen, streichen werde ich ihn nicht, weil er für mich eine Funktion erfüllt, die Gegenwart heranholt, die Unausweichlichkeit.
Ich weiß nur für mich mischt sich der Eindruck der letzten und auch der folgenden Passage in die schon thematisierten sehr offensichtlichen Parallelen, sodass sich das Gesamtbild einer Story ergibt, die sehr klar kalkuliert, was sie wie sagt, und die ganz deutlich vieles zusammenführen will. Das gelingt ihr auch sehr gut – keine Frage! – er ist nur eben auch ersichtlich für den geschulten Leser.
Um das Thema der Konstruktion mal auf das konkrete Beispiel zu beziehen: der geschulte Leser sieht immer alles, wenn er will. Ich glaube, die Frage kann nicht sein, ob man eine Konstruktion als solche erkennt, sondern wie gut das Handwerk dahinter ist. Meine These ist, dass sich bestimmte narrative Muster durchgesetzt haben, über Jahrtausende würde ich sagen, die man sozusagen bei jeder Erzählung findet: warum ist das so? Weil eben genau diese wiederkehrende Muster den gewünschten Effekt erzielen werden, das sind ja Erfahrungswerte. Ganz banal die 3 Akt Struktur, Spiegelung der Motivik, Synchronizität und so weiter. Man kann jeden Text demontieren und in seine Einzelteile zerlegen, aber was hat man damit erreicht? So funktioniert eben das Handwerk. Für mich wäre eher die Frage, ob der Text DURCH das Handwerk das erreicht, was er erreichen will: den Leser auf eine emotionale Art berühren zum Beispiel. Dieser technische Aspekt ist für Autoren natürlich interessant, weil man den mit dem eigenen Werkzeugkoffer vergleicht, aber grundsätzlich ist die Betrachtung des unvoreingenommenen Lesers naturgemäß eine andere. Man schreibt ja nicht für andere Autoren, oder? Ich kann verstehen, dass man sein lektorierendes Auge nie ganz schließen kann und man Texte selbstredend anders liest, als wäre man ein unbedarfter Leser, ich jedenfalls möchte mich nicht in dem Dilemma wiederfinden, innovativ sein zu müssen, nur um der Innovation willen.

Gruss, Jimmy

 

Hier dann erneut die für mich zu große Deutlichkeit und darum aufscheinende Konstruktion: Der Text interpretiert das Verhalten des Großvaters selbst und schafft die nächste Parallele mit dem Motiv des Fleisches. Die Maske fällt auch noch einmal physisch in der Gegenwart und das Unschöne darunter erhält auch noch einmal konkrete Gestalt – wobei hier eine spannende Ambivalenz ins Spiel kommt, da gräuliches Fleisch und Fett vielleicht nicht gerade appetitlich klingen, aber ja durchaus schmecken und nicht zuletzt auch einfach ein Stück Natur sind. Sind also auch Krieg und Gräueltaten ein Stück Natur?
Nochmal ich, gestern gründlich darüber nachgedacht. Mir ist folgendes eingefallen: die "Maske", ich sage es deswegen, weil das vielleicht nicht jeder weiß, ist der Begriff für die krustige Haut des Schweinekopfes, also keine sprichwörtliche Maske. So wie es du es aber interpretiert hast, mit dem Fallen der Maske im übertragenen Sinn - ganz ehrlich, wenn ich das bei einem anderen Text lesen würde, würde ich vermutlich sagen: das ist gut gemacht. Ich sage das nicht, weil das mein Text ist oder so, ich habe dieses Bild auch wirklich nicht beabsichtigt, deswegen war ich so überrascht, aber wo ich darüber nachgedacht habe, war so die Erkenntnis: genauso etwas möchte ich gerne lesen. Ich würde das auch nicht offensichtlich nennen oder sonstwas, sondern, sollte es beabsichtigt und intendiert sein, eher passend, mehrschichtig, auf mehreren Ebenen gleichzeitig ansprechend. Das war eine interessante Erfahrung. Nur so als abschließender Gedanke.

 

Hi @jimmysalaryman,

ich habe Deine Geschichte bereits direkt am Samstagabend gelesen und mein erster Eindruck war, dass es ein sehr persönlicher Text ist. Deshalb hat es mich auch nicht sehr gewundert, als ich beim Überfliegen der Kommentare das hier gelesen habe:

die mit dem Text, der mir irgendwie viel bedeutet, nichts zu tun haben.

Ich finde das spürt man! Ich glaube das liegt für mich vor allem daran, dass Du hier so viele detaillierte Eindrücke schilderst, auf die man bei einer rein fiktiven Textkonstruktion vermutlich nicht kommen würde, weil sie gefühlt nicht direkt mit der Geschichte zusammenhängen (müssen). Genau so ist es ja in der Realität auch. Natürlich kann man sein eigenes Leben auf den ersten Blick als vermeintlich logische Geschichte schildern. Als Abfolge eines kausalen Mechanismus. Ein Stück weit brauchen wir dieses Verständnis wahrscheinlich auch um uns und unsere Umwelt begreifbar machen zu können. Aber wenn man genauer hinsieht, entdeckt man meiner Meinung nach sehr oft Ausfransungen, die das oberflächliche Bild verwischen. Da sieht man, welche Eindrücke und Momente man im eigenen Leben vielleicht ausgegraut hat.

Um zu Deiner Geschichte zurückzukehren: Hat mir sehr gut gefallen. Ja, der Gedanke an die bereits von @H. Kopper erwähnte Literatur zu dem Thema der deutschen Vergangenheitsaufarbeitung kam mir auch, allerdings nur kurz, weil den Szenen einfach eine beklemmende und aus klassischer Plot-Perspektive vielleicht "unnötige" Nähe und Authentizität anhaftet.

Hier noch ein paar konkrete Anmerkungen:

Mein Großvater steht vor dem Herd und rührt in einem großen Topf, feuchter Dunst zieht durch das angekippte Fenster.
Klingt zwar besser, aber trifft es ein einfaches "gekippt" nicht eher?

Und so oft macht der Opa ja keine Sülze mehr, sagt mein Vater, aber das sagt er nur bei uns zuhause, nicht hier, nicht im Haus seiner Eltern.
Ja, das klingt für mich einfach sehr authentisch.

Die Fliesen auf dem Balkon kühl unter meinen Füßen, ich bin barfuß, es sind die letzten Tage der großen Ferien.
Du wirst Dir bei der Konstruktion vermutlich etwas gedacht haben, aber ich hätte das vermutlich enger miteinander verknüpft. Beispielsweise "unter meinen nackten Füßen ..."

Doch jetzt bin ich hier, in diesem großen Haus, ich gehe die Treppe hinunter und stehe im Garten, ein schmales, langes Stück Land, die Beete akkurat voneinander getrennt, der Weg aus Kopfsteinpflastern gelegt.
Einerseits gefällt es mir sehr gut, dass Du mit Deinen Kommata ein Stück weit die Treppe sprachlich abbildest. Andererseits habe ich mir hier mit der Rhythmik etwas schwer getan. Nach "Haus" hätte ich einen Punkt gesetzt.

Ich erinnere mich an den strengen Geruch der Erde; mein Großvater bekam seinen Dünger von den umliegenden Höfen geliefert, die Bauern wollten ihm die Parzelle abkaufen, einen ganzen Hektar!, aber er hat immer abgelehnt.
Gefällt mir sehr gut, wie Du in diesem Text mit den Erzählperspektiven spielst. Mal bist du ganz nah am erlebten dran, an anderen Stellen lässt Du die durch die Zeit ermöglichte Reflexionsebene durchscheinen. Macht den Text einerseits dynamischer und auf der anderen Seite authentischer.

Ich bleibe vor der Tür stehen, das letzte Sonnenlicht fällt durch die halb geschlossenen Lamellen der Rollade und erhellt den vollgestellten Raum
Sehr schön aufeinander abgestimmter Klang in diesem Satz!

Ich schweige. Mein Großvater nickt und sagt: Zuerst haben wir ihnen die Zöpfe abgeschnitten, und dann haben wir sie geschlachtet wie Schweine.
Ich dachte bis zu der Auflösung in einem Deiner Kommentare ehrlich gesagt, dass damit die Entmannung der getöteten Feinde - wie in manchen früheren Konflikten - gemeint war.

Mein Vater antwortet nicht sofort, er hebt kurz das Kinn und schaut auf den Bildschirm, bis die laufende Spielszene unterbricht; es gibt Eckball.
Das klingt für mich etwas umständlich formuliert.

Ach was, dein Opa, sagt mein Vater. Also nein, das nennt man Demenz, ja? Das ist dann so, das ist gar nicht richtig wahr. Der weiß manchmal nicht mehr, was er da eigentlich von sich gibt.
Klingt für mich sehr real, vor allem durch das "nicht richtig".

Bei der Trauerrede ein paar Monate danach hieß es: Liebevoller Vater von sechs Kindern. Treuer Ehemann. Gläubiger Christ. Dreißig Jahre lang bei Mannstedt in der Fertigung. Immer verlässlich und verantwortungsbewusst. Grüner Daumen. Die besten Erdbeeren der Siedlung. Ein Mann, der seinen Humor nie verloren hat. Ich erinnere mich, dass meine Großmutter bei der Beerdigung keine einzige Träne vergossen hat. Es war ein seltsamer Anblick, über den ich heute noch nachdenke, wie sie da ganz steif neben meinem Vater saß, am Ende der ersten Reihe zum Gang hin, und immer wieder auf die Hände in ihrem Schoß blickte, als ginge ihr das alles nicht schnell genug, als wäre sie eigentlich lieber woanders.
Das zum Beispiel ist für mich so ein Detail, das dem Text richtig Tiefe verleiht. Weil es für mich aus dem bisher etablierten Plot ausbricht, die Beziehungen zwischen den Großeltern war bisher ja kein Thema. Natürlich kann man es bei der Interpretation in den klassischen Plot integrieren, in dem man denkt, dass die Großmutter eventuell Probleme mit den Kriegserfahrungen ihres Mannes hatte. Gleichzeitig bleibt auch jeder andere, über den Plot hinausgehende Denkansatz möglich. Ich als Leser weiß es nicht, vermutlich genau wie Dein Prota.

Mein Vater starb kurz darauf, ganz plötzlich und unerwartet. Er starb weg, wie man hier sagt. Er ging an einem heißen Sommernachmittag aus dem Garten zurück ins Haus, legte sich zum Ausruhen auf die Couch und wachte einfach nicht mehr auf. Die Ärzte sagten, es war ein Herzinfarkt.
Das trifft durch den lakonischen Tonfall sehr. Besonders da die Beziehung zum Vater innerhalb des Textes primär als Filter zur Vergangenheit des Großvaters gelesen werden kann und einem durch seinen Tod die Möglichkeit mehr erfahren zu können, genommen wird.

Sie schmeckt nicht so wie die von meinem Großvater, aber das muss sie auch nicht.
Finde ich sehr schön, dass Du hier die anfangs geöffnete Klammer durch die erneute Verwendung von "Großvater" anstatt des vorherigen "Opa" schließt.
Ich verstehe schon, weshalb du danach noch weiterschreibst, aber dieser Satz würde für mich schon auch als Ende funktionieren. Da steckt für mich eine gewisse Emanzipation von der eigenen Familie und eventuell ein gefundener Frieden mit der Vergangenheit drinnen.

Danke für's Einstellen der Geschichte!

Liebe Grüße
Takinios

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @jimmysalaryman,

ich habe den Text noch einmal gelesen, um für mich etwas nachzuvollziehen, dabei ist mir aufgefallen, dass du ihn mittlerweile gekürzt hast. Finde ich besser so!

In diesem Zuge sind mir noch ein paar sprachliche Dinge und Unklarheiten aufgefallen:

Und so oft macht der Opa ja keine Sülze mehr, sagt mein Vater, aber das sagt er nur bei uns zuhause, nicht hier, nicht im Haus seiner Eltern.

Hier hattest du mir geantwortet, ich hätte die Stelle falsch verstanden, es stünde anders im Text als von mir zitiert. Aber das ist nicht klar formuliert:

Es kann heißen, dass der Opa mittlerweile nicht mehr so oft Sülze macht – so von mir anfänglich verstanden oder, dass er in Zukunft nicht mehr so oft Sülze macht.

Wahrscheinlich wirst du mir antworten, dass der Anhang an den Satz diese Unklarheit durch Kontext aufgebt, aber bei mir ist das nicht passiert, denn es kann ja durchaus sein, dass der Vater es nur zu Hause anspricht, um dem Opa irgendetwas wie seine Schwäche oder Inaktivität nicht vor Augen zu führen.

Anyway, wenn du es klarer machen willst, kannst du einfach schreiben:

Und so oft wird der Opa ja keine Sülze mehr machen ...

Die Fliesen auf dem Balkon kühl unter meinen Füßen, ich bin barfuß, es sind die letzten Tage der großen Ferien. Danach geht es auf eine andere Schule unten in der Stadt, und ich weiß noch nicht, wie ich das finden soll.

Oben schreibst du so was wie "ich bin zehn oder elf", der anstehende Schulwechsel sollte das aber eigentlich für den Erzähler geklärt haben. Oder nicht?

meine Familie stammt aus Galizien, sie waren vor Jahrhunderten als calvinistische Bauern aus der Pfalz in dieses ferne, fremde Land eingewandert mit der Hoffnung auf ein besseres Leben, doch fanden sie dort die gleichen kargen Böden vor wie in der Heimat.

Hier noch mal zu der Stelle, die ich nicht ganz verständlich fand beim ersten Lesen und die mir immer noch so vorkommt, als könnte man das etwas klarer erzählen.

Denn die Familie stammt doch aus Pfalz, nicht aus Galizien. Dort war sie zwischenzeitlich. Oder sehe ich das falsch?

Und sie ist in meinen Augen auch "in dieses ferne, fremde Land ausgewandert", denn der Bezugspunkt vorher und nachher ist doch Deutschland.

Also meiner Meinung nach würde so etwas in der Art die Verhältnisse klarer fassen:

Meine Familie stammt aus der Pfalz. Vor Jahrhunderten sind sie als calvinistische Bauern mit der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Galizien ausgewandert, in dieses ferne, fremde Land. Aber dort fanden sie die gleichen kargen Böden vor wie in Deutschland und sie sind zurückgekehrt.

Vielleicht war es ja auch anders – aktuell erschließt sich mir die Abfolge der Ereignisse und der Blick auf die Vergangenheit jedenfalls nicht ganz.

(Habe mich dann noch kurz gefragt, ob die Pfalz für karge Böden bekannt ist? Gibt es in Deutschland überhaupt "karge Böden"? – Bin da kein Experte, aber ich würde Mitteleuropa jetzt mal naiv generell als fruchtbar klassifizieren.)

Mein Großvater sitzt in dem abgedunkelten Zimmer neben der Küche, in dem ansonsten Bügelbrett und Heißmangel stehen.

Wo stehen denn Bügelbrett und Heißmangel jetzt? Wohl ja immer noch im Raum, oder? Zumindest das zur Seite geräumte Bügelbrett dürfte auch zusammengeklappt stehen.

Oder sind diese Dinge nicht mehr im Raum. Denn ist das ein komischer Hinweis, finde ich. Man fragt sich, wieso sind sie nicht mehr im Raum? Und warum wird das überhaupt erwähnt?

Meinst du vielleicht eher so was in diese Richtung: Wo diese beide Teile sonst (nutzungsbereit) aufgestellt sind? Wenn Gäste da sind, werden sie verräumt.

Er hat Schuhe und Socken ausgezogen, warum hat er nur die Socken ausgezogen?, ich weiß es nicht.

Hier ist mir die an die Aussage angefügte Frage nicht klar. Wo liegt da die Betonung, was bedeutet sie? Fragt er: Warum hat er nur die Socken ausgezogen? – Im Sinne vor: Warum nur hat er die Socken ausgezogen? Oder: Warum hat er nur die Socken ausgezogen?

Im Übrigen hat er ja nicht nur die Socken, sondern auch die Schuhe ausgezogen. Was soll er denn noch ausziehen? Die Hose? Zu welchem Zweck?

Ich konnte mich nicht daran erinnern, ihn schon einmal über den Krieg sprechen gehört zu haben. Der Krieg war etwas, das in der Vergangenheit lag. Eine schwache Erinnerung. Es schien etwas gewesen zu sein, was ausschließlich den anderen passiert ist; aus unserer Familie war offensichtlich niemand beteiligt gewesen, denn keiner sprach je darüber. Mein Vater hat mir nur einmal diese Geschichte erzählt: Wie sich mein Großvater, um Fronturlaub zu bekommen, mit seiner Pistole selbst in den Arm schoss. Er hielt ein Kanten Brot vor die Mündung, um Schmauchspuren zu verhindern, die ihn hätten verraten können. Nach seiner Genesung im Lazarett durfte er tatsächlich für ein paar Wochen nach Hause zurückkehren, wo er dann meine Großmutter heiratete. Mein Vater erzählte es als kuriose Episode. Aus seinem Mund klang es wie ein verwegenes Abenteuer, das zudem noch ein glückliches Ende findet.

Den fetten Satz verstehe ich nicht: Warum ist es ausschließlich den anderen passiert, aber dann folgt, dass es eine Art Anekdote vom Opa im Krieg gibt, die dem Erzähler schon vor der Fuß-Episode bekannt war? Dann kann er doch nicht glauben, dass aus seiner Familie "offensichtlich niemand beteiligt war", er weiß doch dann, dass sein Opa im Krieg war. Und es wurde darüber gesprochen.

Ich schweige. Mein Großvater nickt und sagt: Zuerst haben wir ihnen die Zöpfe abgeschnitten, und dann haben wir sie geschlachtet wie Schweine. Er nimmt einen Schluck, dann wird das Licht auf einmal so gleißend, dass ich von ihm nur noch einen schattenhaften Umriss erkennen kann.

Welches Licht? Und wieso wird es gleißend? Ist das metaphorisch? Verstehe ich nicht an dieser Stelle, kommt für mich völlig unvermittelt aus dem Nichts dieses gleißende Licht.

Freundliche Grüße

HK

 

Takinios und Kopper, nur kurz: ich überarbeite gerade, da wird sich einiges überschneiden, weil ich den Text nochmal entschlackt habe, ich antworte nachher ausführlich.

Gruss, Jimmy

 

Hallo @jimmysalaryman

Beste Stück vom Schwein, sagt mein Großvater, mein Opa, es liegt dampfend auf der Messerscheide. Ich entstamme einer Familie von Mehlbauern und Metzgern, der Geschmack von Fleisch ist etwas sehr vertrautes für mich.
Ich mag, wie du hier den Hintergrund deiner Figur einordnest. So ähnlich habe ich das auch schon in anderen Texten von dir gelesen. Gefällt mir von der Art und Weise. Ich finde allerdings, dass es sich hier an dieser Stelle fast ein wenig verschwendet liest. So ein klein wenig hingeworfen, wenn du verstehst, was ich meine. Ich denke, dass das an anderer Stelle besser passen könnte. Hier bin ich jedenfalls ein wenig gestolpert. Auch wenn der Bezug zum vorherigen Satz natürlich da ist, wirkt es so für mich noch nicht so ganz organisch. Davon abgesehen müsste Vertrautes groß oder?

Und so oft macht wird der Opa ja keine Sülze mehr machen, sagt mein Vater, aber das sagt er nur bei uns zuhause, nicht hier, nicht im Haus seiner Eltern.
Da stimmt etwas nicht.

Ich erinnere mich an den strengen Geruch der Erde; mein Großvater bekam seinen Dünger von den umliegenden Höfen geliefert, die Bauern wollten ihm die Parzelle abkaufen, einen ganzen Hektar!, aber er hat immer abgelehnt.
Hier habe ich überlegt, ob die Erinnerung so passt. Er erinnert sich an den Geruch. Nachvollziehbar. Aber erinnert er sich auch daran, dass die Bauern die Parzelle abkaufen wollten und dass es um genau einen Hektar ging? Ist ja ziemlich spezifisch und in dem Alter wusste ich wahrscheinlich nicht mal, was genau ein Hektar ist. Oder ist das rückblickend gemeint? Dass er in der Rückschau darüber nachdenkt, dass es hier um einen Hektar geht? Dann bräuchte es für mich hier noch einen subtilen Hinweis, wer da wie gerade denkt. Später, wo er die Fuktion des Komposters beschreibt, ist es ähnlich, aber da funktioniert es für mich wesentlich besser, weil klar ist, dass da das erwachsene Ich des Protagonisten spricht.
Vielleicht bin ich hier aber auch zu picky, mag sein.

Er will nicht, dass ich ihn so sehe, denke ich und gehe in die Küche.
Auch hier bin ich wieder am Nachdenken. Kommt diese Einschätzung in der Rückschau? Denn dafür wirkt es für mich sehr detailliert. Oder ist das eine Einschätzung, die er schon damals, als elf oder zwölfjähriger hatte?

Ich überlege, denke nach, versuche es, aber ich werde es noch ein paar Jahre lang nicht begreifen.
Hier zum Beispiel zeigst du diese Differenz des Verstehens dann direkt auf. Hier funktioniert es für mich. Davor bin ich mir nicht sicher, ob es da nicht noch etwas bräuchte.

Ich mein, der war an der Flak, sagt er, deswegen hört der doch so schwer.
Dann erzähle ich es ihm, ich erzähle es Wort für Wort.
Ach was, dein Opa, sagt mein Vater. Also nein, das nennt man Demenz, ja? Das ist dann so, das ist gar nicht richtig wahr. Der weiß manchmal nicht mehr, was er da eigentlich von sich gibt.
Mir fehlen hier die Gedanken des Jungen. Vor allem nachdem er es dem Vater erzählt und diese ausweichende und unbefriedigende Antwort bekommt. Damit ist das Thema für ihn ja noch nicht erledigt. Er wird weiter darüber nachdenken. Du blendest dann aber weg und leitest direkt zu der Beerdigung über. Das geht mir an dieser Stelle zu schnell. Die Verunsicherung, die ausgelöst wurde, die würde ich gerne noch erleben. Das ist ja eine echte Erschütterung für den Jungen, sonst würde er es später ja auch nicht mehr so zum Thema machen. Ich fände es spannend, das in dem Text wiederzufinden. Nicht komplett ausgewalzt und erklärend, aber zumindest angedeutet. Andererseits wirst du dir schon konkrete Gedanken gemacht haben und einen Grund haben, warum du es hier so nicht mehr stattfinden lässt.
Generell muss ich sagen, dass ich dann nicht ganz nachempfinden kann, warum du den Text dann gegen Ende so ein wenig ins Leere laufen lässt. Du überlässt es dem Leser, wie die Schlüsse, die der Junge sowie der erwachsene Protagonist aus dieser ganzen Geschichte zieht, aussehen. Das kann man so machen. Mir persönlich fehlt am Ende aber dann doch etwas. Ich bekomme die letzten Sätze, die die Fleischthematik aufgreifen, nicht so ganz mit allem zusammen. Die starke Erschütterung, die ich an der Stelle mit den Zöpfen empfunden habe, scheint gegen Ende quasi keine Rolle mehr zu spielen. Das finde ich schade, denn ich denke, dieser Part hätte irgendwie noch mehr Anteil verdient. Ich muss den Text aber auch noch mal lesen. Es kann sein, dass es dann für mich anders wirkt.

Insgesamt hat mir dein Text wirklich gut gefallen! Das Atmosphärische hast du sowieso drauf, da erzähle ich dir nichts Neues. Was mir aber auch aufgefallen ist, wie gut es funktioniert, dass dein Protagonist den Leser (gerade zu Beginn) durch die Szene zieht. Die Kühle der Fliesen, der Geruch, die Wärme des Komposters usw. Ich habe das Gefühl, diese Empfindungen wirklich nahe an mir zu haben als Leser. Finde ich stark gemacht!
Genauso stark fand ich, dass der Text ruhig und atmosphärisch dahinplätschert (überhaupt nicht negativ gemeint) und dann die Stelle mit den Zöpfen kommt. Ähnlich wie dein Protagonist bin ich hier erst mal ins Stocken gekommen. Habe ich mich verlesen? Nein, das steht da tatsächlich. Dann die Erkenntnis, was vermutlich gemeint ist. Der Effekt, der auf deine Figur wirkt, überträgt sich auf mich – finde ich wirklich gut gemacht.

Noch eine kleine Nachfrage zum Titel: Warum Gefrierfleischorden? Klar, kommt im Text vor, greift aber für mich nicht den Kern auf. Darüber hinaus finde ich, dass der Titel weder so recht zur Atmosphäre des gesamten Textes noch zur Kernthematik passen mag (mal abgesehen von diesem Fleischbezug). Aber ist dann vielleicht auch wieder nur Geschmackssache.

Jedenfalls sehr gerne gelesen!
Viele Grüße
Habentus

 

Ich glaube das liegt für mich vor allem daran, dass Du hier so viele detaillierte Eindrücke schilderst, auf die man bei einer rein fiktiven Textkonstruktion vermutlich nicht kommen würde, weil sie gefühlt nicht direkt mit der Geschichte zusammenhängen (müssen). Genau so ist es ja in der Realität auch.
So, erstmal danke dir fürs Lesen und Kommentieren, ich habe deinen Challengetext auch schon gelesen und kommentiere alsbald.

Ich habe den Text noch einmal zusammengekürzt, weil da ein paar Sachen drin waren, die plötzlich irgendwie nicht mehr gepasst haben, oder die den Fokus verlagert haben. Das finde ich immer spannend zu sehen, wie das bei jedem Text anders läuft, wie der sich immer mehr schält und den Kern preisgibt. Das ist Ballast, den man erst bemerkt, wenn man ein paar Runden Feedback hatte und sich das daraus entwickeln kann, das sind ja Fragestellungen im und am Text.

Um zu Deiner Geschichte zurückzukehren: Hat mir sehr gut gefallen. Ja, der Gedanke an die bereits von @H. Kopper erwähnte Literatur zu dem Thema der deutschen Vergangenheitsaufarbeitung kam mir auch, allerdings nur kurz, weil den Szenen einfach eine beklemmende und aus klassischer Plot-Perspektive vielleicht "unnötige" Nähe und Authentizität anhaftet.
Es ist das erste Mal (und auch das einzige Mal, denke ich) dass ich über diese Zeit geschrieben habe. Ich habe selbst meine Schwierigkeiten mit diesem Thema bzw wie das verhandelt wird, vieles ist schon gemacht worden, aber mir erscheinen viele Versuche in dieser Richtung einfach zu anbiedernd, weil das natürlich bedeutungsschwer ist und man damit Preise gewinnt; das ist gefühlt so, also ich habe dieses Gefühl, es sei so, wenn es um die großen, vermeintlich wichtigen Themen geht, ist was mit Nazis immer gut. Das nimmt dem Ganzen halt auch die Schärfe und die immense Wichtigkeit, wenn es nur noch solche Texte oder Filme gibt, das wirkt dann sehr kalkuliert. Hier wollte ich ja dieses große Thema auf einen Mikrokosmos runterbrechen, das ist immer die Frage, ob das gelingen kann.

Das trifft durch den lakonischen Tonfall sehr. Besonders da die Beziehung zum Vater innerhalb des Textes primär als Filter zur Vergangenheit des Großvaters gelesen werden kann und einem durch seinen Tod die Möglichkeit mehr erfahren zu können, genommen wird.
Ich sage zu diesem spezifischen Satzkommentar mal exemplarisch etwas, da sich der Text mittlerweile etwas verändert hat und ich die meisten deiner Vorschläge einpflege bzw das noch tun werde. Ja, hier ist die Linie unterbrochen, selbst Geheimnisse würden jetzt Geheimnisse bleiben, es gibt keine Basis für einen Austausch, diese "Wahrheit" ist jetzt im wahrsten Sinne des Wortes abgestorben, begraben, unerreichbar. Was bleibt sind die Fragen, das hat ja nun eine Endgültigkeit bekommen.
Finde ich sehr schön, dass Du hier die anfangs geöffnete Klammer durch die erneute Verwendung von "Großvater" anstatt des vorherigen "Opa" schließt.
Ich verstehe schon, weshalb du danach noch weiterschreibst, aber dieser Satz würde für mich schon auch als Ende funktionieren. Da steckt für mich eine gewisse Emanzipation von der eigenen Familie und eventuell ein gefundener Frieden mit der Vergangenheit drinnen.
Ich überlege auch noch. Ich habe den allerletzten Satz noch rausgenommen, mir ist wichtig, dass die Figur mit dem Essen der Sülze nicht nur immer wieder diese Erinnerung herausbeschwört, sondern sich auch die Frage stellt, ob man diese nicht ausradieren könne? Das Vertraute, somit die Wahrheiten, das Gewissen, das Wissen einfach einnullen könnte? Was wäre, wenn er das nie erfahren hätte? Ich bin mir aber nicht sicher. Vielleicht ist das zuviel offenes Ende, keine Ahnung. Ich überlege.
Natürlich kann man es bei der Interpretation in den klassischen Plot integrieren, in dem man denkt, dass die Großmutter eventuell Probleme mit den Kriegserfahrungen ihres Mannes hatte.
Ich hatte das in einer ersten, früheren Version drin, auch den Querverweis auf den eigenen Vater, wie das Verhältnis dort war, aber ich habe mich dann gefragt, um was es hier eigentlich genau gehen soll? Was ist wirklich wichtig? Was ist durch eine vage Andeutung erdenkbar, was ist mitnehmbar, was liegt zwischen den Zeilen? Das sind ja Entscheidungen, die man machen muss: ich wollte den Text auch 500 Wörter beschränken, ging nicht. Jetzt war die Frage, weiter ausbauen, wenn ja, wohin? Oder komprimieren, aber dadurch eventuell auf einige Anschlüsse wenn nicht verzichten, die aber dann bis aufs Nötigste verknappen. Was ist dann das Nötigste? Finden wir gerade heraus, würde ich sagen, haha.
Danke für's Einstellen der Geschichte!
Danke dir nochmal fürs Lesen und Kommentieren, sehr guter Kommentar, wie immer.

Gruss, Jimmy

 

Hallo @jimmysalaryman , ich glaube, Du hast nochmal nachgeschraubt, die Zeitformen haben sich denke ich geändert. Ich "mochte" die Geschichte bereits nach dem ersten Lesen. Nein, sie ist nicht schön vom Inhalt her und der Hintergrund, das Demontieren des Großvaters ist es auch nicht. Aber sie ist so wahr, so dicht dran, eben weil es auf einer so kleinen Ebene spielt. und ja, auch ich gehöre der Generation Kriegsgroßväter an und habe vieles sehr spät verstanden (und drücke mich vor einigem Wissen noch heute)

Gefrierfleischorden
Toller Titel, auffällig, bedeutungsgeladen. Ich kannte ihn als Eisbeinorden, hatte es aber völlig vergessen.

Er schöpft mit einer Kelle Schaum ab, und erst jetzt sehe ich den Kopf, der auf dem kochenden Wasser schwimmt.
ich plädiere für ein "im", so sehe ich die ganze Zeit den Kopf auf dem Wasser hin- und herschaukeln - gruselig.

Da ist der Rauch von Zigaretten und der Geruch des Fleisches in der kleinen Küche. Ich bin zehn oder elf Jahre alt.
Schön! Das hast Du immer gut im Griff, alle Sinne einbeziehen.

Meine Onkel spielen mit meinem Vater Skat im Wohnzimmer, ich kann hören, wie sie ihre Ansage brüllen, das Klirren von Bierflaschen.
Muss noch Schnauze und Schwarte würfeln,
Für mein Sprachempfinden sind die meine hier wirklich sehr dominant. Aber am Ende wieder Geschmackssachen. Lächeln musste ich über die das Würfeln. Ich bin wohl etwas im "Spielfieber" durch meine Geschichte, Du lässt sie vorher Kartenspielen - ich war sofort beim Würfelspiel. Passt aber natürlich so.

Und so oft wird der Opa ja keine Sülze mehr machen, sagt mein Vater, aber das sagt er nur bei uns zuhause, nicht hier, nicht im Haus seiner Eltern.
Ja, über sowas spricht man nicht. Der Tod wird verdrängt. Gut beobachtet und gezeigt.

Ich erinnere mich an den strengen Geruch der Erde; mein Großvater bekam seinen Dünger von den umliegenden Höfen geliefert, die Bauern wollten ihm die Parzelle abkaufen, einen ganzen Hektar!, aber er hat immer abgelehnt.
Falls Du noch Eindampfpotential suchst, dieses wäre meiner Meinung nach verzichtbar.

Da sind Pflaumenbäume zu meiner Rechten, die Äste dick und knorrig.
Du darfst es gerne ignorieren, aber dick und knorrig sind Apfelbäume. Pflaumen wachsen eher spillerig und mit dünnen Ästen.
(Aber ich verrate dich nicht :D)

Da sind Pflaumenbäume zu meiner Rechten, die Äste dick und knorrig. Niemand weiß genau, wer sie gepflanzt hat oder wie lange sie schon dort stehen, doch sie tragen jeden Sommer Früchte, auch diesen. Aus einem Teil buk meine Großmutter Kuchen, den anderen Teil gaben sie an einen Nachbarn, der in seiner Laube im Westerwald daraus Schnaps brannte.
Das wiederum würde ich erhalten, für mich ist es eine Darstellung der Verbindung zur Scholle, der Familienbesitz und die bodenständige Verbindung zur Natur,

stand der Komposter.
Wieder was dazugelernt. Hier heißt es einfach der Kompost, oder Komposthaufen.

selbst im Winter, als die Erde schon hart gefroren war.
Könnte man eventuell konkretisieren, die Eiskruste außen, dicht darunter die warme, weiche Erde, der Frost geht ja nicht tief rein.

Mein Großvater sitzt in dem abgedunkelten Zimmer neben der Küche, in dem auch das Bügelbrett und die Heißmangel stehen.
Ich frage mich die ganze Zeit, was er in dieser Abstellkammer macht, warum ist er ausgerechnet dorthin für seine kurze Pause gegangen. Mir würde ein ganz kurzer Hinweis gefallen.

Ich bleibe vor der Tür stehen, das letzte Sonnenlicht fällt durch die halb geschlossenen Lamellen der Rollade und erhellt den vollgestellten Raum. Und da, als ich vor ihm stehe, fällt mir etwas an seinen Füße auf, sie sind ganz unförmig, wie verdreht; ich hatte sie noch nie zuvor gesehen und konnte nicht aufhören, sie anzustarren.
Das kaufe ich, warum sollte er sie schon einmal bewusst gesehen haben? Die beiden fetten Wörter würde ich mal auf Entbehrlichkeit prüfen.

Zuerst haben wir ihnen die Zöpfe abgeschnitten, dann haben wir sie geschlachtet wie Schweine.
In einem Deiner Antworten habe ich gelesen, das Du hier von jiddischen Zöpfen sprichst. Wenn das wichtig ist, würde ich es irgendwie verdeutlichen, so ohne Hinweis sind es auch für mich Frauenzöpfe. Generell ändert es nichts an dem Satz, die Gänsehaut und auch das allmähliche Begreifen ist das selbe.

Da passt etwas nicht zusammen; die Schweine, das Schlachten, das begreife ich, das ergibt sich, eins aus dem anderen, nur das mit den Zöpfen … wir haben ihnen die Zöpfe abgeschnitten.
Ja, da hat man als Kind keine Chance! Ich konnte meinen liebevollen, geigespielenden Opa, der mit mir so geduldig zeichnete, auch nicht mit dem geflüsterten Nazi meiner Eltern unter einen Hut bringen.

Ich überlege, denke nach, versuche es, aber ich werde es noch ein paar Jahre lang nicht begreifen.
jetzt, hier so rauszitiert, brauche ich den Satz nicht. Aber der Eindringlichkeit wegen, würde ich ihn behalten wollen.

Klinge einen Schnitt an der Stirn. Die Maske löst sich von selbst, fällt geradezu vom Knochen, darunter schimmert gräuliches Fleisch und weiß glänzendes Fett.
Mit den wenigen Sätzen im Vorkapitel, hast Du jetzt das schneiden, die Klinge und das Fleisch mit völlig anderer Bedeutung aufgeladen, beladen, belastet. Finde ich aus Autorensicht sehr gut gemacht.

Ach was, dein Opa, sagt mein Vater. Also nein, das nennt man Demenz, ja? Das ist dann so, das ist gar nicht richtig wahr. Der weiß manchmal nicht mehr, was er da eigentlich von sich gibt.
Verdrängung 2.0

Es war ein seltsamer Anblick, über den ich heute noch nachdenke, wie sie da ganz steif neben meinem Vater saß, am Ende der ersten Reihe zum Gang hin, und immer wieder auf die Hände in ihrem Schoß blickte, als ginge ihr das alles nicht schnell genug, als wäre sie eigentlich lieber woanders.
Soll hier Vergangenheit als Zeitform? Warum?

Jahre später, als ich es dann begriffen hatte, habe ich es noch einmal versucht. Wir saßen im Wohnzimmer, meine Mutter bereitete in der Küche das Abendessen vor, aber mein Vater schüttelte nur den Kopf und tippte sich mit dem Finger gegen die Stirn: Ach was!
Auch hier - warum Präteritum?

Ich esse sie nicht mehr oft, und wenn, dann lasse ich mir Zeit, kaue langsam und gründlich, trinke dazu ein kühles Bier. Manchmal schließe ich dabei die Augen und versuche so zu tun, als hätte ich noch nie Sülze gegessen, als sei jeder Bissen mein erster.
Ich finde den Schluss gut, er geht mir nach. Ich sehe ihn jedes mal die Erinnerung auspacken, jedes mal irgendwo wünschen, die Erinnerung nicht zu haben. Wir hängen ja an unseren heilen Bildern, für ein Heilen dieser Risse gab und gib es keine Zeit mehr.
Alles habe ich vielleicht noch nicht verstanden, aber ich finde es gut, das Du dich an diesen sehr persönlichen Text gewagt hast.
Viele Grüße
witch

 

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