Gedanken über das Glück
Der Werther, geschundener Protagonist Goethes, dessen Herzensleiden ein trauriges Meer von Menschen seiner Zeit zum Freitod bewegte. Der Werther, dessen Schicksal jeden Weggefährten emotional in den Bann zu ziehen weiß. Der Werther, der arme Thor der Neuzeit. Doch ist er wirklich ein tragischer Held, der zuletzt so grenzenlos unglücklich dahinvegetierte, dass ihm nur die konsequenteste unter den Lösungen, nur die sicherste unter den Fluchten in den Sinn kam? Nein! Der Werther ist in Wirklichkeit der glücklichste Held der Weltliteratur. Denn das Glück ist nicht, geliebt zu werden; das ist mit Ekel gemischte Genugtuung für die Eitelkeit. Das Glück ist, zu lieben und vielleicht kleine, trügerische Annäherungen an den geliebten Gegenstand zu erhaschen. Und der Werther schrieb diesen wahren Gedanken des Glücks innerlich auf, dachte ihn völlig aus und empfand ihn bis auf den Grund. Er machte ihn zum einzigen Inhalt seines nun so reichen Lebens. Als sich dann dieser wertvolle Gedankenschwarm unerwartet im Netz der Zärtlichkeit verfing, als Lotte dem Schmachtenden die höchste aller Annäherungen gewährte, war sein Leben getan. Übrig blieb die Angst, an sich selbst zu ersticken. Und um das Glück zu konservieren, folgte der Tod - die Tat eines vollkommen glücklichen Helden. Der Werther. Das Vorbild unserer Zeit. Er hörte. Er handelte. Ich beneide ihn.