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Geburtstag
„Müssen wir dahin?“, fragt Jonathan.
„Müssen wir“, sagt meine Frau zu unserem Sohn. „Oma Hilde wird 85.“
„Das ist aber ganz schön alt“, sagt die Tochter.
Sie hat einen Schuh verkehrt herum angezogen und streift ihn wieder ab. Ich schleppe die Koffer zum Auto und befestige den Kindersitz auf der Rückbank. Die Winterreifen! Ich habe den Werkstatttermin gestern verpasst. Zum Glück spielt das Wetter mit, achtzehn Grad Anfang November. Es dürfte keine Probleme geben. Emilia hat die Schuhe immer noch nicht an. Jonathan will den Fußball mitnehmen.
„Der bleibt hier“, sage ich.
„Nun lass ihn doch!“, sagt meine Frau. Ich nehme Proviantkorb, die Jacken der Kinder und den Ball. Die Präsente sind schon im Kofferraum.
„Haben wir alles?“
Die Frau nickt, es kann losgehen. Blauer Himmel, rote und gelbe Blätter liegen auf dem Boden. Die Gehwege und Straßen sind glatt.
"Es soll kalt werden morgen, zum Glück hast du die Winterreifen draufziehen lassen“, sagt meine Frau.
Ich starre auf die Ampel und warte auf Grün.
„Wie lange noch?“ fragt Emilia.
Vierhundert Kilometer mit Kindern im Auto, aber es gibt keine Staus, wir kommen gut durch. Ein Parkplatz direkt vor dem Haus der Oma ist frei.
„Was wollt Ihr hier?“, fragt Hilde und öffnet die Tür nur einen Spalt. Meine Frau drückt sie auf und nimmt ihre Mutter in den Arm.
„Du hast heute Geburtstag, herzlichen Glückwunsch!“
Ich stelle die Koffer im Flur ab und umarme sie ebenfalls.
„Alles Liebe auch von mir! Geht`s dir gut?“
„Gestern ging`s besser“, sagt sie und sieht auf die Gepäckstücke. „Ihr bleibt aber nicht über Nacht!“
Meine Frau schiebt ihre Mutter ins Wohnzimmer, die Kinder folgen zögernd.
„Wir haben Kuchen mitgebracht, jetzt machen wir es uns erst einmal gemütlich“, sagt sie.
Hilde sinkt in einen Sessel und zeigt auf die Kinder.
„Wer sind die da?“
„Ich heiße Emilia und kann schon bis hundert zählen“, sagt die Tochter. Jonathan verliert kein Wort und sieht sich im Zimmer um. Sein Blick bleibt bei dem kleinen Fernseher hängen. Ich sehe ihm an, dass er sich vorstellt, wie schlecht man auf diesem Bildschirm Fußball gucken kann. Er ist Werder-Fan, das Spiel geht in einer halben Stunde los. Ich habe ihm nicht verraten, dass wir es hier nicht sehen können, weil es nur auf Bezahlsendern gezeigt wird. Die hat die Oma ganz sicher nicht abonniert.
„Der da spricht nicht viel“, sagt Hilde und macht eine Kinnbewegung in Richtung meines Sohnes.
„Der da heißt Jonathan, den hast du schon zwanzig Mal gesehen und jetzt schlage gefälligst einen freundlicheren Ton an!“, sage ich.
„Bernhard, bitte!“, kommt es von meiner Frau, „sie ist krank!“. Normalerweise nennt sie mich Bernd.
„Wer ist krank?“, fragt Hilde.
„Was hat die Oma denn?“, fragt Emilia.
„Werder spielt gleich“, sagt Jonathan.
Ich gehe zum Kühlschrank, da ist kein Bier drin. Ich nehme den Wein, den wir mitgebracht haben und suche nach einem Glas. Der Wein ist warm.
„Der Heinrich hat auch immer gesoffen“, sagt Hilde.
Bei jedem Besuch meckert sie über ihren verstorbenen Mann. Danach hat sie mich im Visier. Ich proste ihr zu.
„Das hätte ich an seiner Stelle auch getan.“
Meine Frau sieht mich missbilligend an, steht auf, deckt den Tisch und bringt den Kuchen. Die Kaffeemaschine brodelt, für die Kinder haben wir Apfelschorle mitgenommen. Jonathan wird unruhig. Emilia möchte etwas spielen. Ich brauche einen Eiswürfel für den Wein. Kaffee ist fertig.
„Kommt die Haushaltshilfe noch regelmäßig?“, fragt meine Frau.
Hilde schüttelt den Kopf. „Die hat mich beklaut. Der ganze Schmuck ist weg!“
„Ich habe auch Schmuck“, erklärt die Tochter und zeigt ihr Armband. Die Oma ignoriert sie. Jonathan sucht Blickkontakt zu mir.
„Wir sehen gleich mal in den Schränken nach“, sagt meine Frau und schenkt Kaffee ein, „aber eine Hilfe brauchst du doch!“
„Ich hatte nie Hilfe“, kommt es von Hilde. „Heinrich hat jedenfalls keinen Finger krumm gemacht. Ich hoffe, dass es bei dem da besser ist!“ Diesmal macht sie ihre Kinnbewegung in meine Richtung.
„Papa!“, sagt Jonathan.
„Wir können hier keinen Fußball sehen.“ Irgendwann muss ich es ihm sagen. Er sackt in sich zusammen und verzieht das Gesicht.
„Wir verfolgen das über den Live-Ticker“, schiebe ich nach.
„Verkauft der noch seine Feuerlöscher?“, fragt Hilde und meint mich. Das hat sie sich merken können, ist allerdings kein gutes Thema.
„Im Moment nicht, die Firma hat Konkurs angemeldet“, antwortet meine Frau.
„Elisabeth!“, sage ich. „Nicht vor den Kindern!“ Normalerweise nenne ich sie Lisa.
„Du bist mit einem Arbeitslosen zusammen? Der Heinrich hat zwar gesoffen, aber arbeitslos war der nie!“, sagt Hilde. „Ich lasse nicht zu, dass ihr euch hier einnistet!“
Ich stehe auf und gehe mit meinem Wein zur Balkontür. Draußen ist es dunkel geworden, ich trete hinaus.
„Der würde mich vermutlich gern über den Balkon schubsen, damit er hier umsonst wohnen kann“, höre ich Hilde sagen.
„Das lohnt sich nicht vom Hochparterre aus, da müsste ich ein paar Blumenkübel hinterherwerfen. Ein Feuerlöscher ginge auch, wenn du einen hast“, rufe ich zurück.
Die Bäume auf der anderen Straßenseite scheinen etwas höher gewachsen zu sein als vor zwei Jahren, sie überragen die gegenüberliegenden Häuser. Aus einigen Fenstern schimmert gedämpftes Licht, eines ist mit roten Lichterketten und Sternen dekoriert. Dort kann man die Weihnachtszeit offenbar kaum erwarten. Ich frage mich, ob die alle mit Feuerlöschern und Rauchmeldern ausgestattet sind. In der Adventszeit passieren die meisten Brände. Mein Vorstellungsgespräch bei der neuen Firma D-Secour nächste Woche kommt zum richtigen Zeitpunkt und ich weiß, dass die Leute brauchen. Lisa werde ich erst davon berichten, wenn der Vertrag unterschrieben ist. Jonathan kommt zu mir auf den Balkon und umarmt mich, vermutlich will er mein Handy wegen des Fußballspiels.
„Läuft es nicht gut bei der Arbeit?“, fragt er.
„Der Betrieb hat zugemacht“, erkläre ich. „Aber nächste Woche habe ich eine neue Firma.“
Er nickt. Emilia kommt zu uns und will auf meinen Arm. Ich hebe die Tochter hoch. Sie sieht die Beleuchtung gegenüber.
„Ist bald Weihnachten?“, fragt sie.
„Ja“, sage ich. „Vorher stellen wir einen Tannenbaum auf und vielleicht kommt dann der Weihnachtsmann.“
Meine Frau gesellt sich zu uns.
„Bernd?“, fragt sie.
„Lisa?“, frage ich zurück.
„Hilde ist ganz allein Heiligabend.“
„Ich wusste, dass das kommt“, sage ich.