- Beitritt
- 03.04.2003
- Beiträge
- 1.343
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 18
Gasbrand
Sergej Karamasovs Magen rebellierte, doch er hatte nicht vor, sich davon in seinem Tun abhalten zu lassen. In einer Stunde ging die Sonne unter, bis dahin mußte er fertig sein, oder er würde seine Familie nie wiedersehen.
Der Arzt hatte ihm alles genau erklärt, bevor die Granate eingeschlagen war und alle getötet hatte. Ironie des Schicksals, daß ausgerechnet er, der Todgeweihte, als einziger die Explosion überlebt hatte. – Er hatte eigentlich alles überlebt, was man im Krieg überleben konnte. Als hätte das Schicksal seine schützende Hand über ihn gehalten, hatten ihn die Kugeln der feindlichen Maschinengewehre ebenso verfehlt wie die Raupenketten der deutschen Panzer. Er war der letzte seiner Einheit und hatte zuviel gesehen, um jemals wieder ruhig schlafen zu können. Aber er lebte.
Und nun sollte ein rostiges Stück Metall, das er sich in die Fußsohle getreten hatte, sein Ende sein? Offenbar war es so. Es hatte keine halbe Stunde gedauert, bis er vor Schmerzen nicht mehr hatte laufen können, und kurz darauf waren auch schon die ersten sichtbaren Veränderungen eingetreten.
Das war am frühen Morgen gewesen. Jetzt war es Abend, und der Unterschenkel hatte eine grünlich-graue Farbe angenommen. Zugleich wurde er immer dicker, und wenn Sergej mit dem Finger auf die Haut drückte, knisterte es wie ein Kaminfeuer. Weh tat es nicht mehr. Zumindest nicht, wenn er das Bein ruhig hielt. Dafür schlugen Hitzewellen durch den ganzen Körper, wechselten sich ab mit entsetzlicher Kälte. Das Fieber kannte nur eine Richtung: aufwärts.
Der Doktor hatte oberhalb des Knies amputieren wollen, obwohl das Knie noch völlig intakt war. Sergej fragte sich, ob das Schicksal wieder seine Hand im Spiel gehabt hatte, als es die Granate schickte. Er würde sein Knie behalten. Aber dafür würde es sehr schwer werden.
Es dauerte etwa so lange, wie auch Tageslicht durch das Loch in der Decke fiel. Es tat weh, aber seltsamerweise war es … erträglich. Er hatte ausreichend Morphium im Schrank gefunden. Sich das eigene Bein mit einem winzigen Skalpell abzutrennen und die Wundränder anschließend zu vernähen, war nichts, an das sich Sergej gerne erinnern würde. Doch dafür würde er Anuschka wiedersehen, und vielleicht auch noch ein Kind mit ihr haben.
Nachdem er den Verband befestigt hatte, lehnte er sich zurück und versuchte, sich in sein Heimatdorf zu träumen.
Zwei Stunden später schreckte er auf. Er hörte wieder Kanonenlärm, doch nur kurz. Er fragte sich, wer ihn zuerst finden würde, seine Genossen oder die Deutschen.
Und er fragte sich auch, was er tun würde, wenn ihn keiner fand.
Das Knie begann zu schmerzen, und als Sergej sich überwand, den Verband anzufassen, knisterte es.
Er vergrub sein Gesicht in den Händen und weinte salzige Tränen der Verzweiflung. Er flehte Gott an, ihm Kraft zu geben und fühlte zugleich ein schlechtes Gewissen. Als treuer Parteianhänger hatte er Gott über so viele Jahre hinweg verleugnet, wie konnte er von ihm jetzt Hilfe erwarten?
Doch er wollte leben, und so suchte er als erstes nach einem noch funktionierenden Licht; hüpfte dabei auf dem gesunden Bein durch das Trümmerfeld des Lazaretts und fand schließlich eine mit Öl betriebene Laterne.
Viel, viel Morphium. Dennoch wurde der zweite Versuch, sich von dem sich unaufhaltsam ausbreitenden Fluch zu trennen, zu einer unerträglichen Tortur. Diesmal setzte Sergej den Schnitt tief im Gesunden an, und er verlor das Bewußtsein, noch ehe er das Weiß des Oberschenkelknochens zu Gesicht bekam.
Als er wieder erwachte, war das Öl in der Laterne verbraucht. Der Mond schien Sergej ins Gesicht, und es war kalt.
Das Gesäß fühlte sich taub an und knisterte.
Sergej wurde mit einem Male ganz ruhig. Er fühlte sich, als sei er in einen Eisblock eingefroren worden, und er versuchte sich auszumalen, wie lange das Sterben wohl dauern würde.
Er nahm seine Pistole aus dem Halfter und starrte sie lange an.