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- 08.07.2012
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Frost
Die Taiga erbebte unter dem Donnern tausender Hufe. Arve Norstrøm fuhr herum, ließ das Gewehr fallen und rannte los. Der Mantel behinderte ihn, und die Stiefel versanken tief im Schnee. Den Fluss erreichen ... Die Ohrenklappen der Trappermütze schlugen gegen seine Wangen, eiskalte Luft schnitt ihm in die Kehle.
Hoch oben im eisengrauen Himmel krächzten Aaskrähen. Ein Rauschen und Flügelschlagen, und der Schwarm jagte über ihn hinweg.
Schon konnte Norstrøm das schwarze Wasser des Torne sehen, doch schwerer und schwerer wurde jeder Schritt. Er kämpfte, wie er so viele Male gekämpft hatte. Er biss die Zähne aufeinander, fühlte den Feueratem in seiner Brust.
Das Brüllen und Stampfen der heranstürmenden Herde näherte sich wie ein Orkan. Norstrøm hörte das Krachen von splitterndem Holz und er sah, wie die Leiber der tonnenschweren Waldbüffel Birken und Fichten niederwalzten. Er sah, wie unter ihren Hufen Schnee emporwirbelte, wie Erde und Morast in den Himmel spritzten.
Als er den sengenden Atem der Tiere im Rücken spürte, stieß Norstrøm einen Seufzer aus und ließ sich fallen. Hunderte Tritte zermalmten seinen Körper, aus den zerplatzenden Organen schoss das Blut dick, schwarz und dampfend. Norstrøm stöhnte. Mit dem Knacken berstender Knochen in den Ohren umfing ihn Finsternis und das Gefühl, lebendig begraben zu sein.
Sveija beugte sich zu Norstrøm hinab und küsste seinen Hals. Sie fuhr mit der Hand in seine Hose und rieb in langsamen kreisenden Bewegungen, doch Norstrøm saß nur da, starrte auf den leeren Teller, der vor ihm auf dem Tisch stand, und sagte nichts.
»Wieder dieser Traum?«
Draußen kreischte die Sirene - das Signal für das Training des Patrouillenkommandos.
Sveija zog ihre Hand zurück und richtete sich auf. Ihr Blick ruhte einige Augenblicke lang auf Norstrøm, dann schnalzte sie mit der Zunge und begann, den Tisch abzuräumen.
Die Männer zitterten vor Kälte, doch Bussarth scherte sich nicht darum. »Es ist mir scheißegal, wie lange wir hier draußen stehen«, brüllte er. »Auch wenn es den ganzen Tag dauert. Jeder von euch wird mir vier Treffer auf fünf Schuss zeigen. Also noch einmal. Bereitmachen!«
Norstrøm zog das Gewehr von der Schulter, hockte sich in den Schnee und schlug an. Aus den Augenwinkeln sah er, dass auch die anderen Männer des Kommandos ihre Feuerpositionen einnahmen. Matt Larkim zu seiner Rechten hatte Schwierigkeiten, wie immer. Sein lahmes Bein machte ihm zu schaffen. Norstrøm beobachtete, wie er sich umständlich niederkniete und vergeblich versuchte, das Gewehr in Anschlag zu bringen.
»Larkim!« Bussarths Stimme gellte über den Hof und wurde von den Wänden der umstehenden Baracken zurückgeworfen. »Benutze gefälligst den Riemen.«
Larkim hantierte eine Weile mit dem Gewehrriemen und fand schließlich eine Schussposition.
»Ich hoffe nur, dass du ein paar Kugeln abfängst, bevor du krepierst«, sagte Bussarth. »Dann wärst du wenigstens für den Mann hinter dir zu etwas nutze.«
Norstrøm entsicherte sein Gewehr, zielte auf die Latte mit den Fallscheiben und wartete auf das Feuerkommando.
Sveija ließ die Hände über Norstrøms Schultern gleiten, abwärts, die Brust hinab, über Rippen, Bauch und Hüfte. Dann umfasste sie seinen Hintern und zog ihn dicht an sich heran.
»Fick mich, Krieger!«, flüsterte sie in sein Ohr.
Norstrøm drückte sie in die Kissen und betrachtete das unter ihm im unruhigen Licht der Öllampe schwimmende Gesicht. Er sah in Sveijas grünlich leuchtende Augen, spürte die Hitze ihres Körpers.
»Ich bring dich ein bisschen in Fahrt«, sagte Sveija und griff zwischen seine Beine.
Ein wenig später lagen sie auf dem Bett und starrten auf die Schatten, die im Flackerschein über die kahlen Wände krochen.
»Morgen geht es dir bestimmt besser«, sagte Sveija.
»Mit mir ist alles in Ordnung«, sagte Norstrøm.
»Wirklich?« Sveija drehte sich zu ihm herum. »Okay, und was hat dein Schwanz für ein Problem?«
Norstrøm steckte sich eine Zigarette an. Er blies den Rauch unter die niedrige Decke der Baracke und schwieg.
Norstrøm schloss die Tür hinter sich, schulterte sein Gewehr und machte sich auf den Weg zum Tor der Basis. Unterwegs traf er auf Larkim und zwei Männer der Wachschicht. Larkim lag im schmutzigen Schnee und hielt die Hände schützend über sich. Aus einem Mundwinkel tropfte Blut.
»Verdammter Krüppel«, sagte einer der Männer. »Wenn wegen dir jemand da draußen draufgeht, komm nicht wieder zurück.« Er rieb sich die Knöchel der Faust und versetze Larkim einen Stiefeltritt in die Seite.
Norstrøm verfolgte, wie die beiden Männer auf den am Boden Liegenden spuckten, sich umwandten und davongingen. Larkim rollte sich hustend zur Seite. Er brauchte einen Moment, um zu Atem zu kommen. Dann packte er das im Schmutz liegende Gewehr, stützte den Kolben auf und stemmte sich hoch.
Norstrøm trat an Larkim heran. »Du hast da draußen nichts zu suchen«, sagte er.
Larkim wischte sich mit dem Ärmel seines Mantels das Blut aus dem Gesicht. »Der Kommandant hat es entschieden. Alle Freiwilligen können mit auf Patrouille gehen.«
»Weil die Männer da draußen sterben wie die Fliegen«, erwiderte Norstrøm. »Aber der Kommandant hat keine Krüppel gemeint.«
Larkim zuckte die Schultern. »Mir egal, was du denkst.«
Norstrøm stieß ihn hart vor die Brust. Larkim schwankte zurück.
»Halt dich fern von mir, du Freak«, sagte Norstrøm.
Es begann mit einem Zischen. Etwas schoss durch die klare Luft, dann explodierte der erste Geländewagen.
»Raus! Raus!«, brüllte Bussarth. »Raus aus den Jeeps!«
Norstrøm stieß die Beifahrertür auf und machte einen Satz ins Freie. Gewehre krachten und das Prasseln einschlagender Geschosse raste wie ein Schauer über die Patrouille hinweg. Norstrøm warf sich in den Morast, kroch ein paar Meter über den aufgeweichten Waldboden und brachte sich im Unterholz in Sicherheit.
»Neugruppieren! Neugruppieren!« Bussarths Stimme klang schrill und brüchig. Sie wurde vom Donnern zweier Detonationen verschluckt, dann folgte das böse Zwitschern umherfliegender Wrackteile, und Rauch zog über die chaotische Szene. Schmerzensschreie waren zu hören. Es roch nach Diesel, Feuer und Blut.
Norstrøm arbeitete sich durch das Dickicht und erreichte den Rand einer Lichtung. Ein paar Männer hatten hier hinter Buchen und Fichten Stellung bezogen und schossen liegend auf einen unsichtbaren Feind. Seitlich seiner Position entdeckte Norstrøm Matt Larkim. Er stützte sich auf sein Gewehr und humpelte zwischen verkrüppelten Birken auf den Rest der Truppe zu.
»Idiot«, fluchte Norstrøm. Er löste eine Nebelgranate von seinem Gürtel, zog den Sicherheitsstift und schleuderte die Granate Larkim entgegen. Weißer Rauch wallte auf.
Unterdessen waren einige andere Männer bei der Lichtung angelangt, schwer atmend, wild mit den Augen rollend, die Gesichter geschwärzt vom Ruß der Flammen.
»Bajonette aufpflanzen«, brüllte Bussarth und Norstrøm sah, wie sich unter den Bäumen am gegenüberliegenden Rand der Lichtung der Schatten des Feindes zusammenballte. Der eiskalte Stahl des Bajonetts biss durch den Handschuh, doch Norstrøm spürte es kaum.
»Angriff!«
Norstrøm stemmte sich hoch, seine Stiefel versanken tief im matschigen Schnee. Er stürzte vorwärts, inmitten explodierender Rauchgranaten, gemeinsam mit den anderen Männern, vielleicht waren es zwei Dutzend, vielleicht waren es ein paar verlorene Seelen mehr. Irgendwo links neben ihm schleppte sich Larkim über die Lichtung. Mit seiner Fünfundvierziger in der Hand feuerte er ins Ungewisse und wankte, das schwache Bein nachziehend, dem Kampf auf Leben und Tod entgegen.
Norstrøm holte tief Luft und hob seine Waffe. Aus dem Dickicht vor ihm starrten ihn die Augen der Feinde an, und dann versank alles im Knattern der Sturmgewehre, im schmatzenden Stoßen der Bajonette und im Schreien der tödlich Verwundeten. Unter dem Anprall des Schreckens duckte sich Norstrøms Seele, krümmte sich zusammen, zog sich in einen unzugänglichen Winkel des Seins zurück, und nicht mehr als eine kalte, ganz und gar empfindungslose Aufmerksamkeit verfolgte aus seinem Innern heraus das Stechen, Würgen und Trampeln, das Schießen, Schneiden und Reißen.
Bis zu dem Augenblick, als Norstrøm begriff, dass er am Boden lag und eine schwarze Gestalt über ihm mit der Waffe zum Schlag ausholte. Norstrøm betrachtete die unter der vernarbten Haut zuckenden Muskeln, die zum Zerreißen fest gespannten Sehnen und schließlich den auf ihn gerichteten Blick des Feindes, ein Blick, in dem es kein Verzeihen gab, kein Verständnis, kein menschliches Fühlen oder Wollen. Unsere Zeit ist vorbei, dachte Norstrøm. Es war nicht mehr, als ein kurz aufzuckender Gedanke. Aber er fasste all die Jahre des Kampfes zusammen, die Jahre des Krieges gegen diesen unbekannten und unerkennbaren Feind: Die Zeit der Menschen war vorüber.
Mit einem Knall zerplatzte der Schädel über ihm und hinter der zusammensinkenden schwarzen Gestalt erschien Larkim. Aus dem Lauf seines Gewehrs quoll Rauch.
Sveija strich zärtlich über Norstrøms Haar. »Gut, dass du wieder da bist«, sagte sie und hob das Glas. »Ich wusste, dass du es schaffen würdest.« Sie tranken. Der Wodka, der ölig in ihren Gläsern funkelte, brannte Norstrøm in der Kehle.
»Ist nicht mein Verdienst«, sagte er. »Wäre Matt nicht gewesen …«
»Wer?«
»Matt Larkim«, sagte Norstrøm. »Der Krüppel. Er hat mir das Leben gerettet.«
Sveija erhob sich, trat an den Tisch und ergriff die halbgeleerte Flasche. Sie setzte sich wieder zu Norstrøm aufs Bett und schenkte nach.
»Und wie viele Männer hast du gerettet?«
Norstrøm schwieg. Im Feuerloch des eisernen Ofens loderten die Flammen. Das Knistern und Knacken brennender Buchenscheite erfüllte den Raum.
Sveija stellte Glas und Flasche auf den Boden, dann streifte sie ihr Leinenkleid herunter und wandte sich Norstrøm zu. Im Halbdunkel der Baracke lag ein olivfarbener Schimmer auf ihrer Haut. Sie strich über die Innenseiten ihrer Schenkel und sagte: »Lass uns das alles vergessen, Arve.«
Norstrøm betrachtete sie eine Weile.
Dann sagte er: »Glaubst du, dass du das tun musst, damit ich dich liebe?«
»Was? Ich …«
»Oder willst du mich nur bei Laune halten?«
Sveija presste die Lippen zusammen. Ihre Brüste hoben und senkten sich schnell und eine Ader an ihrem Hals pochte wild. Sie starrte Norstrøm einen Moment lang an.
»Du verdammtes Arschloch«, sagte sie schließlich und sprang auf.
Norstrøm verfolgte, wie sie zum Ofen ging, die Klappe öffnete und Feuerholz nachlegte. Sie starrte in die Flammen und lange Zeit sagte niemand ein Wort.
Irgendwann fuhr sich Norstrøm mit den Händen über das Gesicht.
»Würdest du mit mir weggehen von hier?« Seine Stimme klang kraftlos.
Sveija sah Norstrøm an. »Was ist nur los mit dir?«, fragte sie traurig. »Wohin sollen wir denn gehen? Da draußen gibt es nur den Tod. Niemand weiß das besser als du.«
Er war hochgewachsen, groß. Sicher größer als irgendein Mann in der Basis. Und er trug das Fell eines weißen Wisents über seinem Armeemantel. Doch obwohl sich diese Dinge seltsam genug ausnahmen, starrten ihn die Wachen und die Frauen im Hof aus einem anderen Grund mit Blicken an, in denen sich Furcht und Faszination mischten. Als die Sirene losgegangen war, um das Zeichen zum Öffnen des Tors zu geben, konnte es kaum jemand glauben, denn seit Monaten hatte kein Fremder die Basis betreten. Der nächste Posten befand sich vierhundert Kilometer südwestlich, und jenseits der Grenze zu Finnland lebten ohnehin keine Menschen mehr.
Sveija, die mit ihrer Freundin Freyr ganz in der Nähe stand, als das Tor geöffnet wurde, strich sich eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn und presste den Griff ihres Weidenkorbes.
»Oh, der ist aber groß«, sagte Freyr.
»Wie ist der hierhergekommen?«, sagte Sveija.
»Er sieht stark aus«, erwiderte Freyr.
Sveija schüttelte den Kopf. »Niemand ist stärker als der Tod.«
Norstrøm setzte das Glas an die Lippen und trank.
»Den hättest du sehen sollen, Arve!«, sagte Freyr. »Der Typ ist so riesig wie ein Büffel.«
»Hm«, brummte Norstrøm.
Sveija räumte den Tisch ab. Sie hantierte eine Weile am Spülbecken, dann sagte sie über die Schulter: »Sogar Bussarth war schwer beeindruckt.«
Freyr nickte. »Ja. Kein gewöhnlicher Mann wandert hier einfach durch die Wildnis. Ich meine, er war zu Fuß unterwegs. Kann man das glauben?«
»Kaum«, sagte Norstrøm. »Von wo ist er denn gekommen?«
»Es heißt, er kam aus dem Osten«, sagte Sveija. Sie trocknete ihre Hände, trat wieder an den Tisch und setzte sich.
Norstrøm schüttelte den Kopf. »Aus Finnland? Unmöglich.«
Die beiden Frauen nickten.
»Ich glaube, das ist ein gutes Zeichen«, sagte Freyr. Sie stieß Sveija an. »Hast du gesehen, sein Haar ist beinahe weiß.«
»Wie seine Haut«, erwiderte Sveija.
»Seit wann ist ein verdammter Albino ein gutes Zeichen?«, sagte Norstrøm. Er nahm einen Schluck und ließ den Blick von Sveija zu Freyr wandern. »Was ist los mit euch?«
»Es hat etwas auf sich mit diesem Mann«, sagte Sveija.
Freyr nagte an ihrer Unterlippe und nickte geistesabwesend.
Norstrøm rieb sich die Stirn. »Wie ist sein Name?«, fragte er schließlich. »Ihr habt doch sicher gehört, wie er heißt.«
Sveija senkte den Blick und starrte auf ihr halbgeleertes Glas, doch Norstrøm bemerkte das Flackern in ihren Augen.
»Frost«, sagte sie leise. »Ich hörte, sein Name sei Frost.«
Wollte man nicht in der eigenen Hütte trinken, ging man ins Gunnarson, wo neben Sima und Met auch Brännvin und Wodka ausgeschenkt wurde. Der Kommandant des Camps hatte dem Metzger Till Gunnarson zwei Jahre zuvor gestattet, im Nordwestviertel der Basis eine Baracke anzumieten, um dort eine Schenke einzurichten. Bald sorgten monatliche Lieferungen aus Sundsvall für Nachschub, und seit dieser Zeit verbrachten nicht nur die Männer der Wache ihre freien Abende hier.
Auf dem Weg zum Gunnarson dachte Norstrøm daran, wie fremd ihm dieses Leben noch immer war. Ein Leben, das sich zwischen Patrouillen, Schießplatz und Baracke abspielte. Ein Leben, das außer Tabak, Wodka und Sveijas Brüsten keine Freuden mehr bot.
In der Schenke herrschte noch wenig Betrieb, doch es roch bereits streng nach Met, Schweiß und Zigarettenqualm. Larkim saß weit hinten an einem Tisch, vor sich zwei leere Gläser und eine Flasche Schwarzer Tod.
»Ich bleibe nicht lange«, sagte Norstrøm und setzte sich. Larkim nickte, füllte die Gläser, und sie tranken.
Norstrøm sah sich um.
»Er ist nicht hier«, sagte Larkim.
»Hm?«
»Es heißt, er trinkt mit dem Kommandanten.«
Norstrøm zuckte die Schultern. »Und wenn schon.«
Larkim räusperte sich. »Also eine Patrouille pro Woche«, sagte er. »Das ist nicht viel.« Einen Moment lang schien es, als wollte er dem etwas hinzufügen, doch dann schwieg er.
Norstrøm griff in seine Jacke und holte ein Päckchen Tabak hervor. Er begann, eine Zigarette zu rollen. Ein eisiger Luftzug fuhr durch die Schenke, als sich die Tür öffnete und ein paar Männer der Wachmannschaft eintraten. Sie setzten sich an einen Tisch in der Nähe des Kamins.
»Das da draußen«, sagte Norstrøm, »ist nicht die Wildnis, in der ich aufgewachsen bin.« Er entzündete seine Zigarette und rauchte.
»Was meinst du damit?«, fragte Larkim.
»Ich bin früher in diesen Wäldern gewandert, bin in diesen Flüssen geschwommen. Ich war jagen, fischen, wie die meisten hier. Und ich sage dir, es ist jetzt alles anders.«
»Natürlich«, sagte Larkim. »Es ist jetzt das Gebiet des Feindes.«
»Nein, nein.« Norstrøm schüttelte den Kopf.
»Es ist die Wildnis selbst, die …« Er verstummte, zog an seiner Zigarette, und dann sagte er: »Was wissen wir eigentlich über den Feind?«
Larkim hob die Schultern. »Nicht viel. Aber ich verstehe nicht …«
»Er kopiert uns«, sagte Norstrøm.
»Er kopiert uns?«
Norstrøm ergriff die Flasche und während er ihre Gläser nachfüllte, sagte er: »Ich glaube jedenfalls nicht an Wiedergänger, Geister und Dämonen.«
»Naja«, sagte Larkim und trank. »Wer oder was auch immer sie sind. Sie wollen unseren Tod.«
Norstrøm hatte Bussarth niemals zuvor lächeln gesehen. An das Kommandieren und Herumschreien konnte man sich gewöhnen, doch dieses Lächeln machte Norstrøm fertig.
»Nehmt euch ein Beispiel an dem Mann«, sagte Bussarth. »Er ist wochenlang durch die Wälder marschiert. Allein. Nur auf sich gestellt.«
Frost blickte in die Runde. Sein glattes Gesicht zeigte kaum eine Regung. In seinen Augen lag ein kaltes, blaues Strahlen.
»Wie ihr wisst, gibt es wieder einmal Versorgungsschwierigkeiten«, fuhr Bussarth fort. »Die Rentierjäger sind heute Nacht zurückgekommen. Sie sind total erledigt und haben nur wenig Beute gemacht.«
»Und ratet mal, wer das meiste Fleisch bekommen wird«, sagte einer der Männer.
»Maul halten!« Bussarth sah wieder grimmig drein. So kannte man ihn. Er wandte sich an Frost.
»Der Kommandant hat entschieden, deine außergewöhnlichen Fähigkeiten zu nutzen. Du wirst eine Jagd leiten. Nimm dir so viele Leute, wie du brauchst.«
Matt Larkim, der neben Norstrøm in der Reihe stand, stieß einen leisen Pfiff aus.
»Moment mal«, sagte Norstrøm. »Wir kennen diesen Mann nicht. Wir wissen nicht, ob er uns die Wahrheit sagt.«
Bussarth drehte sich zu ihm herum. »Und wie hätte er sonst hierherkommen sollen? Du weißt, dass es hier weit und breit keine Siedlungen mehr gibt.«
»Keine menschlichen Siedlungen«, entgegnete Norstrøm.
Bussarth lachte auf. »Sicher. Und glaubst du nicht, wir würden den Feind erkennen, wenn er jetzt hier vor uns stünde?«
Norstrøm betrachtete das Gesicht des Fremden. Frost erwiderte seinen Blick gleichmütig.
»Also, wie viele Männer brauchst du für die Jagd?«, sagte Bussarth an Frost gewandt.
»Ich brauche nur einen«, sagte Frost, und noch immer ruhte sein Blick auf Norstrøm.
Freyr ging in der Baracke auf und ab. »Überall sprechen sie von ihm«, sagte sie.
Norstrøm verdrehte die Augen und kaute auf einem zähen Stück Robbenfleisch.
»Und nicht nur die Frauen«, sagte Sveija. »Auch viele Männer glauben, dass sich jetzt etwas ändern wird.«
»Jemand, der es so lange allein in der Wildnis geschafft hat, weiß Dinge«, fuhr Freyr fort.
Norstrøm wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Dinge?«
Freyr setzte sich an den Tisch. In ihren Augen lag ein seliges Leuchten. »Wir könnten einen neuen Anführer brauchen«, sagte sie. »Jemanden, der sich da draußen wirklich auskennt. Jemanden wie Frost.«
»Hat der Mann, seit er hier aufgetaucht ist, überhaupt mehr als zehn Worte gesprochen?«, erwiderte Norstrøm.
»Aber das muss er ja gar nicht«, sagte Freyr und blickte zwischen Sveija und Norstrøm hin und her. »Frost weiß Dinge«, wiederholte sie.
»Gefällt mir trotzdem nicht, dass du allein mit ihm auf die Jagd gehen sollst«, sagte Sveija an Norstrøm gewandt.
»Bussarth hat entschieden, dass uns Larkim begleiten wird.«
»Der Krüppel?«
»Bussarth will mich demütigen. Seit der letzten Patrouille wären wir wohl beste Freunde, hat er gesagt.«
Sveija schüttelte den Kopf. »Und wie soll das helfen? Überhaupt. Wie wollt ihr zu dritt genügend Fleisch für uns alle beschaffen?«
»Der Kommandant will nur, dass uns Frost seine Jagdmethode zeigt.«
»Es heißt, er hätte den weißen Wisent mit bloßen Händen erlegt«, sagte Freyr und fuhr sich durch das blonde Haar.
Frost streckte sich und warf die Beifahrertür zu. »Von hier ist es nicht mehr weit«, sagte er. »Wir gehen zu Fuß.«
Norstrøm und Larkim holten ihre Ausrüstung aus dem Jeep und schulterten die Gewehre.
»Du gehst voran«, sagte Norstrøm.
Sie folgten Frost einen felsigen Hang hinab, der an beiden Seiten dicht mit Lärchen und Kiefern bewachsen war. Vor ihnen öffnete sich eine weite Ebene. Im Osten dunkelten die Uferböschungen des Torneflusses, weiter im Norden erstreckten sich Wälder bis zum Horizont.
Frost hob einen Arm und deutete auf einen weit entfernten Punkt der Ebene. Norstrøm hob sein Fernglas und suchte die Gegend ab, bis er eine Gruppe von zwanzig oder dreißig Rentieren entdeckte.
»Die sind mehr als einen Klick entfernt«, sagte er und ließ das Glas sinken. »Wie geht es jetzt weiter?«
Frost zog das Büffelfell von seinen Schultern und warf es in den Schnee. Er löste das Schloss seines Koppels und knöpfte den dicken Armeemantel auf.
Norstrøm trat einen Schritt zurück. »Was zur Hölle ...«
»Rentiere sind neugierig«, sagte Frost. »Man kann sie mit ungewöhnlichem Verhalten anlocken.« Er hatte Koppel und Mantel zu Boden geworfen und legte jetzt auch den Rest seiner Kleider ab.
»Nicht dein Ernst«, sagte Larkim. »Du willst doch nicht …« Er verstummte, als Frost nackt vor ihnen stand.
Norstrøm schnalzte mit der Zunge. Er wollte etwas sagen, doch dann schwieg er.
Frost sah ihn einen Augenblick an. Dann sagte er: »Wartet hier auf mich.« Mit diesen Worten drehte er sich um und schritt auf die Ebene zu. Sein haarloser, weißer Leib setzte sich scharf vor dem Hintergrund ab.
Larkim stand mit offenem Mund da. Norstrøm stieß ihn an.
»Thor hat jedenfalls seinen Hammer dabei«, sagte Larkim.
Norstrøm packte ihn am Kragen. »Hältst du das hier für einen Witz?«
Larkim zuckte zusammen und hob die Hände. »Ich …«
»Kapierst du das nicht?«, fuhr ihn Norstrøm an. »Bin ich der Einzige in diesem verdammten Camp, der sieht, dass da was faul ist?«
»Okay«, erwiderte Larkim. »Was sollen wir jetzt tun?«
Norstrøm ließ ihn los. Er hob erneut das Glas und beobachtete Frost, der die Ebene erreicht hatte und sich nun seinen Weg durch Schnee, Eis und Morast bahnte.
»Wir folgen ihm«, entschied er.
Sie waren keine hundert Meter weit gekommen, als fauchend ein Wind einsetzte und ihnen so eisig entgegenwehte, dass sie stehenblieben und die Gesichter abwandten.
»Das wird ein verfluchter Schneesturm«, sagte Larkim.
»Wir müssen an ihm dranbleiben«, rief Norstrøm gegen den Wind. Er wickelte sich ein wenig fester in seinen Schal und setzte sich wieder in Bewegung. Larkim humpelte neben ihm her. Der Wind heulte stärker und stärker.
Norstrøm suchte die Ebene nach Frost ab, doch der Sturm wirbelte lockeren Schnee vom Boden empor und jagte ihn in weißen Schleiern vor sich her.
»Siehst du ihn?«, rief Larkim. Er keuchte.
»Nein, keine Chance.«
»Dann lass uns umkehren.«
Norstrøm biss die Zähne aufeinander. »Okay«, sagte er schließlich. »Folgen wir unseren Spuren zurück, solange wir noch können.«
Als sie eine Stunde später erschöpft und durchgefroren wieder bei ihrem Jeep ankamen, wurde ihnen bewusst, dass es keine andere Möglichkeit gab, als den Sturm im Wagen auszusitzen. An eine Heimfahrt war nicht zu denken, denn mittlerweile konnte man kaum mehr zehn Schritte weit sehen.
Sie packten Schlafsäcke und Decken aus und richteten sich so gut ein, wie es ging.
»Wollen wir den Motor starten?«, sagte Larkim.
»Nein«, erwiderte Norstrøm. »Ich will nicht, dass die Batterie schlappmacht.«
Der Sturm tobte beinahe bis Mitternacht. Als das Heulen endlich nachließ, stieß Norstrøm Larkim an.
»Los, raus aus dem Schlafsack.«
»Willst du jetzt nach Frost suchen?«, fragte Larkim.
»Nein«, sagte Norstrøm. »Ich weiß, wo er ist.«
Riesig und bleich stand der Mond über der Basis und warf ein gelbes Licht über die Palisaden und das Tor.
»Weshalb warten wir hier?«, fragte Larkim. »Willst du nicht reinfahren?«
Norstrøm hatte den Motor abgestellt und spähte mit dem Glas über das Steuer hinweg hinüber zum Camp.
»Schau dir das an«, sagte Norstrøm. Er reichte Larkim den Feldstecher.
Larkim sah durch das Glas. »Was zur Hölle! Da steht ein Wolf vor dem Tor.«
»Ja«, sagte Norstrøm. »Im Unterholz sind noch mehr von denen. Und das Tor steht offen.«
»Verdammt, du hast recht.« Larkim setzte das Glas ab. »Was bedeutet das?«
Norstrøm stieß die Fahrertür auf. »Nimm dein Gewehr. Wir lassen den Wagen hier.«
Tiefe Stille lag über dem Wald und dem Lager. Im Dickicht links und rechts vor dem Tor bewegten sich Wölfe wie Schatten durch das Unterholz.
»Werden die uns angreifen?«, flüsterte Larkim.
»Nein«, erwiderte Norstrøm. »Die tun uns nichts. Sie warten nur.«
»Warten? Worauf?«
Norstrøm antwortete nicht.
»Was ist mit dem da vorn?«, sagte Larkim und entsicherte seine Waffe.
»Werden wir sehen.«
Als sie das Tor erreichten, wandte sich der Wolf ihnen zu. Er hielt einen Moment lang inne, dann trottete er über den Zufahrtsweg und verschwand in der Schwärze des Waldes.
Norstrøm spähte durch das offene Tor in das Camp und warf einen Blick hinauf zum Wachturm.
»Niemand hier«, sagte er. »Gehen wir rein.«
Auf dem Hof wankte ihnen ein Mann des Patrouillenkommandos entgegen. Er war betrunken und konnte sich kaum auf den Beinen halten.
Norstrøm sprach ihn an. »Was ist hier los? Warum sind die Wachen nicht auf ihren Posten?«
Der Mann sah ihn an, doch er schien ihn nicht zu erkennen.
Norstrøm packte ihn an den Schultern. »Was geht hier vor? Wieso wird das Lager nicht geschützt?«
»Weil … «, der Mann suchte nach Worten. »Weil wir nur unsere Angst zu fürchten haben«, brachte er schließlich lallend hervor. Seine Augen waren trübe, das Gesicht gerötet.
»Wo sind die anderen?«, fragte Norstrøm.
»Sind alle … die meisten … im Gunnarson …« Der Mann wand sich los. Schwankend ging er davon.
»Schauen wir nach«, schlug Larkim vor.
Norstrøm schüttelte den Kopf. »Dafür bleibt keine Zeit. Lauf zur Garage. Wir brauchen einen Kanister Diesel. Ich hole Sveija, und dann verschwinden wir von hier.«
»Aber …«
Norstrøm warf Larkim einen glühenden Blick zu. »In weniger als einer Stunde sind hier alle tot. Wir verschwinden, solange es noch geht.«
»Und wohin?«
»Die Küste entlang nach Sundsvall. Jetzt los!«
Norstrøm eilte durch die schlammverkrusteten Gassen des Camps. Hier und dort waren Stimmen zu hören: hysterisches Gelächter, dann ein Wehklagen, irgendwo sang eine Frau ein altes Lied der Samen.
Mit der Mündung des Gewehrlaufs drückte Norstrøm gegen die Tür der Baracke. Im Innern flackerte das rötliche Licht von Öllampen, Gurgeln und Keuchen war zu hören, und ein seltsamer, beißender Geruch lag in der Luft. Es roch nach Tier. Norstrøm spürte, wie ihn der Dunst betäubte. Die Konturen des Raumes verschwammen, ein dumpfes Pulsieren waberte durch die Baracke und zerrte Norstrøm in den Eingeweiden.
Als er durch die Diele trat, erstarrte er. Sveija lag auf dem Bett, ihre Schenkel umklammerten den weißen Leib von Frost. Freyr wand sich wie eine Schlange zwischen ihnen. Die Körper der Frauen wirkten winzig, sie waren nicht mehr als Puppen in den Händen des weißen Riesen.
Norstrøm hob das Gewehr. »Geh runter von ihr«, wollte er sagen, doch es war nur ein kehliges Krächzen, das aus seinem Mund kam.
Er machte einen Schritt in den Raum, er wollte schreien. Doch Körper und Stimme gehorchten ihm nicht länger. Versteinert stand er da und sah, wie sich Sveija unter Frosts Stößen bog. Sah das pupillenlose Weiß in Freyrs Augen, sah den Schaum, der von Frosts Lippen herablief und auf Sveijas Brüste tropfte. Einen Moment lang schien Sveija Norstrøm zu bemerken. Sie drehte den Kopf und blickte ihn an. Sie öffnete die Lippen und streckte eine Hand nach ihm aus. Dann zuckte sie zusammen, ein Schauer jagte über ihre bleiche Haut und ihre Augen rollten zurück, in einem Zustand, der Qual oder Lust war oder beides in einem.
»Weg hier!«, brüllte Larkim ihm ins Ohr. Er packte Norstrøm und zerrte ihn aus der Baracke. Während sie im Mondschein über den Hof taumelten, kehrten Norstrøms Sinne zurück.
»Ich muss sie retten«, stammelte er. »Sveija, ich muss sie da raus holen.«
»Komm zu dir«, rief Larkim. »Sie ist tot, Arve. Sie ist tot.«
Die Ruinen von Umeå lagen hinter ihnen, als im Osten über der Bottensee eine kalte Sonne aufging.
»Halt an«, sagte Norstrøm.
Er stieß die Tür auf und lehnte sich aus dem Wagen.
Larkim steckte sich eine Zigarette an und klopfte Norstrøm sachte auf den Rücken.
»Lass es raus«, sagte er, und Norstrøm erbrach sich hustend. Als es vorüber war, reichte ihm Larkim eine Wasserflasche. Norstrøm trank, spuckte und stieg aus dem Wagen. Er machte ein paar Schritte und starrte über die Wipfel des Waldes hinweg in den Himmel. Das raue Krächzen von Aaskrähen war zu hören. Und dann schien es, als erbebte die Taiga unter dem Donnern tausender Hufe.