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Frisbee
„Einmal Heilwasser, der Herr“, sagt Vera, gießt mir ein und fügt scheinbar emotionslos hinzu: „Börners Haus steht zum Verkauf. Sie packen schon ...“ Ihr Blick durchdringt mich, das spüre ich.
Ich nehme einen Schluck, schüttle mich und sage: „Halt’ ich für zu früh. Man kann nicht einfach alles stehen und liegen lassen. Außerdem ist auf unserer Seite noch Ruhe.“
Vera schiebt den Teller von sich. „Fragt sich, wie lange.“
„Keine gute Frage. Aber bring noch ’n paar Fressalien mit, irgendwas Haltbares. Für alle Fälle.“
Dass Vera jetzt aufbraust, hätte ich nicht gedacht. „Du willst dich doch nicht etwa hier verschanzen? Also das sag ich dir: Ohne mich! Hab keine Lust auf Heldentum.“
„Na, na“, versuche ich sie zu besänftigen, „so schnell passiert schon nix.“ Ich trage die Teller in die Küche, sie kommt mit dem Rest.
„Vielleicht sehen wir alle zu schwarz“, sage ich, „aber pass gut auf dich auf.“
„Ja, mach ich.“ Plötzlich drückt sie sich an mich, fährt mir durchs Haar. Sie ist nervös. „Ich beeil’ mich. Fahr sowieso nicht gern im Dunkeln.“
Ich lege beide Arme um sie und sage: „Wenn heut’ Nachmittag nicht diese Heinis vom Zoll kämen, würde ich mitfahren – aber vielleicht ist es auch besser, wenn sich einer ums Haus kümmert.“
„Schon in Ordnung, hast ja genug zu tun. Also, bis dann, Schatz.“
Der Orkan letzte Woche verschafft mir reichlich Arbeit, das Gelände sieht schlimm aus – doch eine halbe Stunde gehört jetzt dem Hund.
Den ersten Wurf setze ich zu hoch an, das Frisbee bleibt im Geäst hängen. Oscar jault und dreht sich im Kreis. Ich hole eine Mistgabel, stelle mich auf die Zehenspitzen und das Problem ist gelöst. Auf ein Neues.
Jemand ruft – es klingt wie Friisbii; sehr hoch, fast gellend. Im Wurf halte ich inne, aber nein, da ist niemand. Doch ich höre das Bullern schwerer Motoren, nun auch erbärmliche Schreie, oben an der Hauptstraße, ganz furchtbar. Frauenstimmen, Kinderstimmen, immer lauter, wie in Todesangst.
Das Frisbee fällt mir aus der Hand. Ich setze mich, schließe die Augen, will mich dieser Realität verschließen. Ich verliere. Der Sturm von der anderen Seite hat uns erreicht.
Bald gehen die Schreie in Wimmern über, ich verfluche dieses Jahr, die Jahre zuvor. Und die Leute.
Wie Pest und Cholera kommt dieser Wahnsinn übers Land, mit hinterfotzigen Sprüchen schleimt er sich ein. Sie hören nicht nur zu, sie applaudieren. Sie werden mehr, wie Metastasen, werden zur Lawine. Reißen alles nieder – jede Vernunft, jeden Vernünftigen.
Sie kapieren nichts, wollen oder können es nicht – ich muss Schnaps haben, um nicht verrückt zu werden. Schnaps gegen Wut, gegen Ohnmacht.
Stopp! Nicht saufen. Aber schleunigst zurück zum Haus. Wie Hohn fällt mir der Spruch vom falschen Film ein, ich weiß, dass ich plötzlich mittendrin bin.
Ich will Vera Bescheid sagen, damit sie sich dort ein Hotel nimmt. Doch sie hat das Handy während der Untersuchung abgeschaltet.
Schnell erreichen wir das Haus, unser großes stolzes Haus. Ich nehme die Seitentür, gehe in die erste Etage. Von hier kann ich die Lage besser überblicken. Mir fliegen die Hände, im heftigen Luftzug verfangen sich die Stores in den Fensterflügeln, ich zerre, der teure Stoff reißt, ich hasse Panik. Mein Herz poltert gegen die Rippen. Ruhig Blut, sage ich, doch es randaliert weiter. Ich lehne mich über die Brüstung. Das Tor steht weit offen, obwohl ich es nach Veras Abfahrt zugesperrt habe. Neben dem Brunnenhäuschen steht ein Junge, hat irgendein Werkzeug in der Hand, geht dann weiter.
Sie kommen die Straße runter, vielleicht fünfzig Leute, schweigend, aber entschlossen. Einige tragen Armbinden. Am Tor bleiben sie stehen, obwohl es offen ist.
Sie schauen zu mir hoch. Gesichter, in denen ich nichts lesen kann, immer noch stumm – Hass und Schreierei hätte ich eher erwartet. Ich starre sie an, will sie hypnotisieren, damit sie nicht auf den Hof kommen, doch es wirkt nicht.
Die ersten überschreiten die magische Linie, der Kies knirscht. Dann kommt Bewegung in die Menge. Die Hinteren drängen, als ob sie etwas versäumen würden; schließlich sind alle auf dem Hof. Ein Breitschultriger rüttelt an der Klinke, das ist jedoch unnötig, die Tür ist nicht abgeschlossen. Die Haupttür! Vera ist losgefahren und hat’s vergessen. Ich werde wahnsinnig. Aber scheißegal, dann hätten sie eben die Tür aufgebrochen.
Sie drängen ins Haus, die ersten sind schon auf der Treppe. Wie Hochwasser schwappen sie herein. Ihre Stimmen hallen im Treppenhaus, glucksen und gurgeln. Gleich haben sie mich.
Ich schwinge mich aufs Fensterbrett, fertig zum Sprung. Doch in letzter Sekunde reiße ich mich zurück – auf dem Hof ist niemand mehr. Meine Gedanken überschlagen sich. Ich rase zur hinteren Stiege nach unten und husche durch den Seitenausgang ins Freie. Mit bebenden Fingern drehe ich den Schlüssel, das Schloss klickt zweimal.
Ich schleiche am Haus entlang und schlüpfe durch den Haupteingang in den Heizungskeller. Durch die Holzdielen über mir höre ich ihre Tritte und Stimmen. Etwas geht zu Bruch, einige lachen. Es scheppert gewaltig, ein mächtiger Gong hallt durchs Haus. Die Standuhr. Dann kracht und splittert es – das Lesezimmer! Sie grölen, lauter und lauter. Hastig schraube ich die Kanister auf und kippe sie um. Ein Streichholz genügt, zuerst fängt ein Berg Zeitungen Feuer, mein Riesenvorrat an Spaltholz wird brennen wie Zunder. Dann die Dielen und Balken, alle über hundert Jahre alt.
Ich flitze durch die Haupttür, sperre von außen zu und starte den Wagen. Klingelton, Vera. Sagt, sie führe jetzt los.
„Um Gottes Willen“, schreie ich, „bleib wo du bist, ich komm’ zu dir.“ Hinter mir schießen Flammen aus den Fenstern. Wieder dieses grässliche Geschrei in den höchsten Tönen.
Auf der magischen Grenze bleibt mein Auto stecken, macht bei Vollgas nur kleine Sprünge im Kies. Sie haben die Reifen zerstochen.