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Freundschaftsspiel
Ich gab meinem Vater einen Kuss auf die Wange und stieg aus dem Wagen. Am Eingang zur Umkleide sah ich Max stehen; ich grüßte ihn und er nickte mir zu, wartete aber nicht auf mich. Peter saß mit einem Karton Trikots in der Umkleide, gab jedem High five und teilte kleine Snickers aus. Während wir uns umzogen, erklärte er, dass die Füchse ein paar Spieler aus der C-Jugend im Team hätten, es also diesmal kein Zuckerschlecken werde.
Ich hörte ihm zu, pellte mir das T-Shirt unauffällig und mit krempelnder Bewegung über den Kopf, hielt es vor Bauch und Brustwarzen und versuchte mir das Trikot überzustreifen. In der Zeit atmete ich nur durch die Brust, zog den Bauch ein und bemühte mich, nicht verkrampft zu wirken. Ich wusste, dass Jonathan mich beobachtete, dass er wieder nur auf einen Anlass wartete, auf ein hervorblitzendes Röllchen, eine Fettfalte, die er vor den anderen kommentieren konnte.
»Theo, Sturm«, sagte Peter und schaute mich an.
Ich nickte.
»Der verkackt es eh wieder«, sagte Jonathan.
Hünkar zog seine Schnürsenkel fest und klappte die Lederlasche mit dem Nike-Zeichen darüber.
Alle warteten darauf, dass es los ging.
»Max, Verteidigung … Jonathan, Mittelfeld … Oskar, Libero … Hünkar, Sturm …«
Ich zog die Stulpen über die bräunlich angelaufenen Schienbeinschoner und trat ein paar Mal fest auf den Kunstrasen, um ein Jucken zwischen den Zehen loszuwerden. Jonathan rempelte mich im Vorbeigehen an. »Arschloch«, sagte ich leise, also quasi nicht hörbar.
Leon und ich stellten Hütchen auf, dann machten wir Slalom. Wir schossen Flanken. Irgendwann bemerkten wir, dass die Füchse den Platz betreten hatten, und kurz trafen weniger Elfer das Netz. Ihre rot-weißen Trikots hatten sie bereits an. Peter blies in die Trillerpfeife und Oskar versemmelte den Ball einige Meter vom Tor entfernt.
Während die Füchse zum Aufwärmen zwei große Runden um den Platz liefen, übten wir Spielsituationen. Die Hälfte von uns bekam Leibchen, die waren gelb, rochen säuerlich und verhakten sich immer in der Haut. Wenn man sie übergezogen hatte, störten sie einen kaum noch. Außer, dass sie immer zu eng waren. Vor allem mir.
»Druck jetzt!«, rief Peter. Oder: „Hopp, hopp, hopp.« Ich fühlte die Hitze in meine Wangen steigen. Die Bälle waren zu hart aufgepumpt worden, was sich beim Köpfen rächte. Jonathan warf den Ball so fest, dass ich ihn kaum annehmen wollte. Einmal landete er etwas unterhalb meiner Stirn und zog die Haut mit sich. Es brannte, aber ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen.
Als wir wechselten, warf ich den Ball ganz sachte und korrekt. Ich hoffte, Jonathan würde endlich bemerken, dass ich gar kein schlechter Kerl war. Er gab mir paradehafte Kopfbälle zurück, streckte jedes Mal das Hinterteil raus und traf den Ball mit der Präzision eines Profis. Für einen Moment musste er vergessen haben, wem er gerade den Ball zuköpfte.
Im Hackenlauf trabten die Füchse an uns vorbei. Ein paar grinsten, andere schauten grimmig, aber das sah gespielt aus. Die Trainer begrüßten sich. Peter spreizte seine zehn Finger und der Füchse-Trainer nickte.
»Wenn du’s heute wieder verkackst, schlag’ ich dir eine rein«, flüsterte Jonathan.
»Es ist doch nur ein Freundschaftsspiel«, sagte ich.
Zusammen mit Hünkar preschte ich zum Tor. Vier Pässe Minimum. Hünkar war immer fair zu mir, auch wenn wir nie viel miteinander sprachen. Er gab mir gute Bälle und vor allem murrte er nie, wenn ich einen verschoss. Außerdem war Hünkar mindestens der zweitbeste in der Mannschaft und im Gegensatz zu uns allen trug er bereits einen Oberlippenflaum. Ich mochte ihn.
»Ran da!«, rief Peter. Kiri, der Torwart, baute sich vor mir auf, fuchtelte mit den Handschuhen in der Luft herum. Plötzlich waren alle Wege abgeschnitten. Ich schlug eine Finte, aber Kiri warf sich auf den Ball und sicherte ihn. »Nächster! Hopp, hopp …«
Ein paar Runden ging das so. Zwischendurch warf ich einen Blick zu den Füchsen, die Hampelmänner machten und kurze Sprints um orangene Hütchen. Wäre ich doch einfach ein Verteidiger wie Max oder so gut wie Hünkar oder Jonathan. Besser noch: Wäre ich doch einfach Jonathan.
Peter pfiff zwei Mal lang und zeigte auf den Boden. »Alle herkommen!«
Ich kratzte mich im Schritt. Irgendwie rutschte mir das Ding immer ins Zwischennetz.
»Max, du kümmerst dich um den Zehner.«
»Ja«, sagte Max.
»Florian und Oskar ihr nehmt den Neuner und Elfer. Jonathan, du spielst auch mal ab. Hünkar?«
Hünkar nickte.
»Die anderen: ihr wisst ja, was ihr zu tun habt. Hünkar sammelt die Leibchen ein.«
Ich spürte die Aufgeregtheit zuerst im Magen. Als hätte ich etwas Falsches gegessen. Die Füchse hatten sich in Reihe aufgestellt. Wir taten es ihnen gleich. So standen wir uns gegenüber, schauten auf die Stulpen der anderen und einen Moment lang passierte fast nichts. Im Hintergrund rauschte die Autobahn und von irgendwoher roch es nach frischem Toast.
Ich sah zu Jonathan, der unsere Gegner musterte, als würde er sich jeden einzeln einprägen. Bei allem Hass, Jonathan war der beste Spieler in meinem Alter, den ich kannte. Es gab einen Grund, warum alle ihn liebten, und das war nicht, dass er der Sohn des Trainers war.
Peter kam zu mir. Ohne mich anzusehen, hielt er mir die weiße Kapitänsbinde hin.
Ich wollte etwas sagen, aber es fiel mir nichts ein.
»Dann spiel’ ich nicht mit«, hörte ich Jonathan maulen. Peter ging nicht darauf ein. Ob er ihn auch ignorierte, wenn sie bei sich zu Hause waren?
Ich nahm die Binde entgegen, quetschte sie mir über den Arm und spürte, wie sie mir das Blut abschnitt.
»Die Kapitäne zu mir«, sagte der Füchse-Trainer. Ein knorriger, blonder Junge streckte mir seine Hand entgegen. Ich schlug ein und für einen Augenblick hatte ich nicht mehr das Gefühl, ich zu sein. Der Trainer hielt mir seine Fäuste hin. Ich tippte auf die Linke. Münze! Mit einem Grinsen drehte ich mich zur Mannschaft, aber alle schauten gleich.
»Ich will ein faires Spiel«, sagte der Trainer und der Knorrige und ich nickten wie automatisch.
Alle, sogar Jonathan, kamen zu mir und bildeten einen Menschenkranz um mich. Ich hoffte, dass meine Stimme ausreichen würde.
»Warum spielen wir?!«, brüllte ich.
»Weil wir siegen wollen!«, echoten zehn Stimmen.
»Warum laufen wir?!«
»Weil wir siegen wollen!«
»Warum kämpfen wir?!«
»Weil wir siegen wollen!«
»Sieg!«, schrien wir alle zusammen.
Als der Kranz sich löste, traf mich Jonathans Blick; für eine Sekunde glaubte ich zu wissen, was er dachte. Dass Peter mich ihm vorgezogen hatte und dass er es nur getan hatte, um ihn zu kränken. Es war ein bitterer Triumph, aber den kostete ich gerne aus.
Ich fühlte mich bereit, hatte keine Angst mehr. Außerdem musste ich Jonathan ja nicht ansehen. Er jedoch würde die ganze Zeit auf mein Hinterteil starren müssen.
»Konzentration«, murmelte Hünkar.
Peter pfiff und Hünkar kickte mir den Ball zu. Schnell spielte ich Hünkar zurück. Der fiel umständlich nach hinten, zog den Ball mit sich und spielte so den ersten Fuchs aus.
Ein Pass ging zu Jonathan. Der rannte los mit seinen dünnen, aber flinken Beinen, dribbelte zwei Spieler aus, bevor er in der Verteidigung versackte und laut fluchte.
Der Abstoß ging weit ins Feld raus und der Torwart der Füchse schaute zufrieden. Doch der Ball landete bei Max, der ihn an Leon spielte, der ihn an Jonathan gab. Ich stand da und beobachtete alles. Wenn ich jetzt zu viel lief, hätte ich schon vor der Halbzeit keine Puste mehr. Jonathan spielte sich frei und rannte aufs gegnerische Tor zu. Ich stand ungedeckt, aber er gab den Ball an Hünkar, der ihn wieder verlor. Ich schaffte es nicht zu ihm. Sofort konterten die Füchse. Kiri kam ihnen aus dem Tor entgegen, streckte die Arme aus. »Decken!«, brüllte Peter. Doch da war der Ball schon im Netz.
Hünkar sah mich prüfend an, dann spielte er mir den Ball zu. Diesmal ließ ich einen der Füchse kommen. Ich hielt den Fuß fest auf dem Ball und hatte trotzdem nicht das Gefühl, ihn unter Kontrolle zu haben. Jonathan rannte und ich spielte ihm unsauber in den Lauf. Der Ball ging an Hünkar, der eine Flanke schlug. Jetzt rannte ich vor, ging in die Luft, köpfte und traf. Der Ball schlingerte, der Torwart sprang, doch der Ball berührte nur noch die Spitzen seiner Handschuhe und traf ins Eck. Die Mannschaft grölte. »Super!«, rief Peter. Mein ganzer Körper zitterte. Auf einmal fühlte sich alles richtig an. Jonathan drehte mir den Rücken zu, aber Hünkar und Oskar kamen und ließen mich einschlagen. Ich merkte, dass ich pinkeln musste.
Als nächstes schoss Jonathan ein Tor. Auf beiden Knien schlitterte er über den Kunstrasen, zog die Ellbogen an. Sofort fielen wir auf ihn, berührten oder tätschelten ihn, klopften ihm auf die Brust oder wuschelten ihm durchs Haar. In solchen Momenten war es egal, dass auch ich ihn bejubelte. Das war etwas Natürliches, ich war dann einer von allen.
Die Füchse machten zwei Tore in Folge und ich verpasste zwei sichere Chancen, was mir hasserfüllte Blicke von Jonathan und Oskar einbrachte. Kurz vor der Halbzeit schaffte Jonathan den Anschluss und noch einmal bejubelten wir ihn. Peter pfiff einmal lang und einmal kurz und ich sprintete zur Toilette.
Der Strahl war fest und mit geschlossenen Augen vergaß ich, dass ich soeben zwei Hundertprozentige verschossen hatte. Ich presste die Backen auf die Klobrille und zählte bis zwanzig und wieder zurück, um meine Gedanken loszuwerden. Über mir hörte ich jemanden lachen.
»Pinkelst wie ein Mädchen«, sagte Jonathan. »Ich hab’ gesagt, dass ich dir eine reinhaue. Wenn du noch einen Ball verschießt, tret’ ich dir in die Eier, verstanden?«
Ich nickte.
»Gib’ mir die Binde.«
»Peter hat gesagt, dass ich sie habe.«
»Ist mir egal. Gib’ sie oder ich erzähl’ allen, dass du wie ein Mädchen pisst.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Gut, wie du willst«, sagte Jonathan, zog hoch und rotzte mich an. Dann verschwand sein Kopf hinter der Kabine.
Ich biss die Zähne aufeinander, schloss die Augen, atmete durch die Nase. Als die Tür zufiel, nahm ich etwas Klopapier und wischte mir Jonathans Schleim von der Stirn. Ich schlug noch ein paar Tropfen ab und zog die Hose hoch. Vor dem Spiegel wusch ich mir das Gesicht mit Seife. Als Hünkar reinkam, tat ich, als würde ich mir Wasser durch die Haare streichen. Hünkar stellte sich vors Pissoir und sofort begann es zu plätschern.
»Du musst ihm zeigen, dass er nich’ dein Boss ist. Aber ich weiß nicht, ob du das kannst«, sagte er.
Ich schälte das Snickers aus der Verpackung und aß, aber es schmeckte nach nichts. Jonathan tuschelte mit Leon und Oskar, er zeigte auf mich und sie lachten. Die Trainer unterhielten sich und die Füchse saßen da, aßen oder nuckelten an ihren Trinkflaschen.
»Gutes Tor«, sagte Max. »Aber der Rest … naja.«
Peter kam auf uns zu.
»In der zweiten Halbzeit läufst du mal ’n bisschen mehr. Und wenn Hünkar dir so einen Ball gibt«, er formte einen Spalt mit seinen Händen, »dann musst du den einfach haben.“
Ohne dass ich jemanden etwas sagen gehört hatte, erhoben sich alle, packten ihre Flaschen und Brotdosen weg und liefen oder trabten aufs Feld. Diesmal hatten die Füchse Anstoß. Der Ball wurde freigegeben und in die rot-weiße Verteidigung gekickt. Es war immer komisch, das Spielfeld von der anderen Seite zu betrachten. Mittlerweile war es auf dem Platz kühler geworden, nur der warme Toastbrotgeruch hing immer noch in der Luft.
Das Spiel war jetzt langsamer. Hin und wieder rannte Jonathan vor und fluchte, wenn die Verteidigung ihm den Ball abnahm. Ich schoss ein paar Mal direkt. Zwar traf ich nicht, doch zumindest waren die Schüsse gut genug, um bei Peter als ‚schöne Versuche‘ durchzugehen. Unsere Verteidigung arbeitete schwer und sogar Hünkars beste Flanken scheiterten am eingewechselten Keeper.
Als sich das Spiel dem Ende neigte, wurde Jonathan immer unruhiger. Er schrie herum, brachte Grätschen, die einer Gelben würdig waren, aber nicht gepfiffen wurden. Hünkar spielte jetzt hauptsächlich mit mir. Wir gaben uns Zeichen, warfen uns fiebernde Blicke zu, doch nie kamen wir durch die Verteidigung. »Mehr auf den Zehner!«, hörte ich den Füchse-Trainer rufen und fühlte mich geschmeichelt, bei meiner Zahl genannt worden zu sein.
Oskar spielte einen langen Pass an Hünkar, der leitete ihn an mich weiter. Jonathan war etwas abgefallen. Vor mir baute sich die Verteidigung auf. »Letzte Aktion«, rief Peter. Ich wollte Hünkar den Ball zuspielen, aber der war von Füchsen umzingelt. Also lief ich direkt in den Sechzehner. »Rausnehmen!«, brüllte der Trainer. Doch ich ließ mich nicht aufhalten und spielte einen Verteidiger nach dem anderen aus. Der Torwart kam mir entgegen, aber ich rannte einfach an ihm vorbei. Der Ball kullerte nur so vor mir her und mit mir ins Aus.
Drei lange Pfiffe. Ich hielt die Augen verschlossen, spürte einen tauben Schmerz an der Hüfte. Ich wollte die Augen nicht mehr öffnen. Jemand kam über mich und schlug mir unvermittelt seine Faust ins Gesicht. Immer wieder schlug er auf mich ein. Ich boxte zurück, sah Peter, der in die Trillerpfeife blies, bevor er Jonathan von mir wegzerrte. Peter hörte gar nicht mehr auf zu pfeifen. Mit der einen Hand hielt er Jonathans Nacken fest und pfiff ihm mit der anderen ins Ohr. Ich fasste mir an die Nase, besah mir das Blut.
»Ich habe ihm eine gelbe gegeben«, sagte Peter und reichte mir ein Kühlakku.
»Eine gelbe?«, fragte ich.
»Ja«, antwortete Peter. »Wieso fragst du?«
»Nur so«, sagte ich und schälte mein zweites Snickers aus der Verpackung. Diesmal schmeckte es. Ich denke, vieles hätte mir in diesem Augenblick geschmeckt.
»Geh dann bitte duschen«, sagte Peter.
Ich nickte, obwohl wir beide wussten, dass ich niemals mit den anderen duschte.
Als ich in die Umkleide kam, lief Max mir entgegen und klopfte mir auf die Schulter. Von Jonathan war nichts zu sehen. Niemand war böse, nicht was ich erwartet hatte. Vielleicht hatte ich meinen Anteil für heute erbracht. Der Hosenbund hinterließ einen violetten Abdruck auf meiner Taille. Ich befühlte die Rillen, die der Stoff auf die Haut gezeichnet hatte. Badeschlappen hatte ich keine dabei, auch kein Handtuch. Nackt und ohne die Arme vor dem Körper zu verschränken stellte ich mich zu den anderen und drehte das Wasser auf.
Das Rauschen von zehn Duschköpfen, das Murmeln gegenseitiger Verbrüderungen erfüllte meine Ohren. Ich ließ die Augen geschlossen, zählte bis zwanzig und wieder zurück. Unter meinen Fußsohlen fühlte ich die glatten Fliesen, spürte meinen Bauch leicht über den violetten Abdruck ragen und dass sich meine breiten Oberschenkel unterhalb der Poritze berührten.
Auf dem Heimweg schaltete mein Vater das Radio ein. Ich sah aus dem Fenster und folgte dem Auf und Ab der Leitplanken.
»Ich hab’ ein Tor geschossen«, sagte ich.
»Gut«, sagte mein Vater und schaute weiter auf die Fahrbahn.