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Freunde
„Wenn ein Freund weggeht, muss man die Türe schließen, sonst wird es kalt.“ B. Brecht
„Mensch, Old Sailor, bist du grau geworden!“, entfährt es Erik.
Der Mann vor uns zuckt zusammen, lässt die Koffer sinken und dreht sich langsam um. Es ist Gregor. Irritiert betrachtet er meinen Mann. Dann hellt sich seine Miene auf: „Rick, altes Haus, komm her, lass dich begrüßen.“ Ein paar Sekunden lang schauen die beiden sich in die Augen, bevor sie sich in die Arme schließen. Eine echte Männerfreundschaft, denke ich und kämpfe mit dem Kloß in meinem Hals. Doch schon wendet sich Gregor auch mir zu. Wie immer verwechsle ich die Reihenfolge der Wangenküsse und es gibt ein kurzes Hin und Her, über das wir beide lachen müssen.
Mich umschauend frage ich: „Wo ist Antje?“
„Sie kommt gleich, holt nur was zu trinken.“
Und wie auf ein Zeichen öffnet sich die automatische Tür der kleinen Flughafenhalle und Antje kommt heraus.
Gregor und Erik, unsere Männer, sind Freunde, seit sie in jungen Jahren bei einer Reederei gearbeitet haben. Obwohl wir immer weit voneinander entfernt wohnten, hat diese Freundschaft die Zeit überdauert. Hin und wieder besuchen wir einander und einmal im Jahr verbringen wir eine gemeinsame Woche irgendwo an einem schönen Ort. Wir sind mit dem Auto angereist, Antje und Gregor sind geflogen.
Gleich am ersten Abend gehen wir hinunter zum kleinen, von bunten Häusern umstandenen Hafen. Auf den Jachten, die ihren Platz für die Nacht gefunden haben, schaukeln Lichterketten. Ein paar Fischlokale locken mit ihren bunten Lampen und rotkarierten Tischdecken.
Nur langsam schwindet die Wärme des Tages. Sie hüllt uns auch jetzt noch weich und seidig ein. Entspannt lehnen wir uns zurück und genießen den südlichen Abend. Neben uns klatscht das schwarze Wasser des Hafenbeckens fett und träge gegen die Kaimauer.
Antje erzählt uns von dem kleinen Bungalow, den die beiden auf ihrem Grundstück bauen lassen. Meli, ihre Tochter, wird mit ihrem Freund im Altbau bleiben. Gregor lässt seine Frau erzählen und schaut versonnen den Möwen zu, die kreischend und nach Fressen äugend über der kleinen Bucht kreisen. Plötzlich scheint ihm etwas einzufallen und er stößt Erik an.
„He, Rick, ich hab einen neuen Witz für dich.“
Erik legt seine Serviette zusammen und wendet sich ihm aufmunternd lächelnd zu. Ich spüre, dass er froh ist, dass Antjes Redefluss unterbrochen wird.
„Na, dann lass hören.“ Erik mag Gregors schlichte Witze.
„Warum stürzt eine Wand ein, wenn ein Pfälzer sich dagegen lehnt?“
Klar, das musste ja kommen, denke ich. Gregor und Antje sind Saarländer. Sie spotten gerne über ihre Nachbarn, die Pfälzer.
Spitzbübisch schaut Gregor in die Runde.
„Ja, und? … Warum?“, tut Erik ihm den Gefallen.
„Ganz einfach: …“ Gregor zögert, überlegt. Gespannt schauen wir ihn an. Sekunden vergehen.
Gregors Blick geht nach innen, so als suche er nach den richtige Worten. Auf seiner Stirn bilden sich kleine Tröpfchen. Er nimmt seine Serviette und tupft sie weg. Wir warten. Das heisere Geschrei der Möwen füllt die Stille.
Unsere gelöste und heitere Stimmung verwandelt sich, bekommt etwas Angespanntes.
Auch Erik versteht das Zögern seines Freundes nicht. „Na, und … weiter? Spann uns nicht so auf die Folter, Old Sailor.“
Gregor schaut Antje an, legt seine Hand auf ihren Arm, reibt ihn ein wenig.
„Hilf mir doch mal. Wie war das noch?“
Antje schüttelt den Kopf.
„Also wirklich! Was ist los mit dir? Du hast den Witz doch nun schon hundertmal erzählt: Der Klügere gibt nach.“
Während Antje uns weiter mit ihren Handwerkerproblemen langweilt, betrachte ich Gregor. Er nimmt nicht mehr teil an unserem Gespräch, sitzt neben uns wie ein Fremder. Die vertraute Verschmitztheit, die beim Erzählen des Witzes plötzlich wieder in seinem Gesicht war, ist verschwunden. Sein Blick ruht müde auf den Resten des Desserts. Ich sehe, wie Erik seinen Freund nachdenklich aus den Augenwinkeln betrachtet.
Mein Sechzigster vor fünf Jahren schiebt sich in meine Gedanken. Wie einen Ausriss aus einem Film habe ich die Szene gespeichert. Erik und Gregor gratulieren mir im Hof unter den alten Walnussbäumen. Gregor intoniert mit seiner Mundharmonika ein Lied. Dann beugt sich der größere Erik zu ihm und einander theatralisch tief in die Augen schauend, singen sie das Lied mit dem ewigen Refrain
“… as time goes by”
So einig, so schmalzig, so berührend.
Wir machen uns auf den Heimweg.
Antje und Erik gehen voraus.
Ich habe Mühe, mich Gregors schlurfendem Gang anzupassen. Er ist alt geworden, denke ich.
Die Straße führt bergan, vorbei an aufgegebenen Kapitänsvillen, deren schwarze Fensterhöhlen und verwilderte Gärten im schwachen Licht der Laternen wie Sinnbilder der Vergänglichkeit wirken.
An einem riesigen rostigen Tor bleibt Gregor stehen, holt Luft und schaut mich an. Ich habe das Gefühl, dass er mir etwas Wichtiges sagen möchte und warte darauf, dass er beginnt.
„Sag mal, … Marianna? …“
„Ja?“
„Ihr wohnt doch in Österreich.”
„Ja? Wieso?“
„Wo noch mal genau?“
„In der Nähe von Klagenfurt.“
„Ach ja Klagenfurt. Jetzt erinnere ich mich wieder. Wir haben euch dort schon besucht, nicht wahr?“
Entgeistert schaue ich ihn an. Kann es am Wein liegen?
Ich fasse ihn unter. „Gregor, mach keine Witze. Lass uns weitergehen, die beiden warten schon.“
Antje ist bereits schlafen gegangen. Auf dem Terrassentisch stehen Kerzen und Weingläser, Erik öffnet eine Flasche Wein.
„Old Sailor, wie wär’s mit einem letzten Glas?“
Ich weiß, dass mein Mann sich auf diesen Moment gefreut hat. Jetzt wird’s philosophisch, denke ich und verabschiede mich.
Erik scheppert mit dem Frühstücksgeschirr.
„Geht’s auch ein bisschen leiser?“, frage ich, als ich in die Küche komme.
„Grüß dich.“ Er schaut mich nicht an, stellt die Milch aufs Tablett.
„Was ist los mir dir?“ Ich halte ihm meinen Mund hin. Zerstreut berührt er meine Lippen.
„Was ist?“
Er nimmt das Tablett. „Lass uns erst mal auf die Terrasse gehen.“
Erik schlürft seinen Kaffee und verliert seinen Blick im gelben Oleander, dessen Zweige sich über die weiße Wand biegen.
„Was ist los? War’s zu viel gestern Abend?“, unterbreche ich seine Gedanken.
„Eigentlich nicht.“
„Was also?“
„Keine Ahnung. Wir haben über alles Mögliche gesprochen.“ Erik nimmt sich Zeit und trinkt noch einen Schluck Kaffee. Er betrachtet das blaue Blumenmuster der Tasse. „Irgendwie war das kein richtiges Gespräch“, sagt er nachdenklich. „Plötzlich driftet er ab, erzählt was aus seiner Jugend. Zum Schluss sprach er dann von seiner Mutter.“ Erik scheint das Gespräch noch einmal durchzugehen. „Keine Ahnung, wie er da gelandet ist. Ich glaube, nicht nur mir fehlte der Zusammenhang. … Wir sind dann bald ins Bett. … Schade. War leider nichts.“ Ein wenig zu hart setzt er seine Tasse ab. Ich spüre seine Enttäuschung. Gregor war immer sein wichtigster Gesprächspartner. Lange Zeit war der Donnerstagabend der Abend, an dem sie miteinander telefonierten. Das „Hey, Old Sailor“, dem das „Hey, Smutje“ folgte, war der Auftakt zu langen Gesprächen über alles, was sie bewegte. Ich überlege, wann es aufgehört hat. Irgendwann im letzten Jahr?
Erik greift nach der Kaffeekanne. „Wahrscheinlich bilde ich mir alles nur ein“, beendet er seine Gedanken. „Schon möglich, dass ihm der Wein nicht bekommen ist.“
Mir fällt die Szene auf dem Heimweg ein. „Ja, das Gefühl hatte ich auch.“
Heute ist Eriks Geburtstag. In der kleinen Fischhalle am Hafen haben wir frische Doraden gekauft.
Während Antje und Erik das Abendessen zubereiten, decken Gregor und ich den Tisch und gönnen uns auf der Terrasse ein erstes Glas Wein.
Aus der kleinen Kirche nebenan weht ein Ave Maria herüber. Ich creme meine Beine ein. Mit der Dunkelheit kommen die Mücken.
Gregor verscheucht ein kleine Fliege, die sich auf den Rand seines Glases gesetzt hat. Ihn beschäftigt etwas.
„Sag mal, hat der Rick dir schon von Japan erzählt?“
„Ja, hat er. Eure erste Fahrt hat ihn sehr beeindruckt. Ich erinnere mich, dass er mit dem Motorrad über die Dörfer gefahren ist.“
„Ja, genau. Wir waren noch nicht ganz von Bord, da hat er sich schon ein Motorrad geliehen. Ich schaue Gregor an und warte.
„Wir sind zu den Mädchen gegangen. Rick nicht.“
„Erik nicht? … Wirklich? … Nie?“
„Ja, der musste immer alles sehen. Auch später in Peru. Die Ruinen.“ Er macht eine Pause. „Wenn wir bei den Mädchen waren, war Rick auf Achse.“
„Du willst mir doch nicht erzählen, dass mein Mann ein Heiliger war.“
„Der war immer unterwegs … immer mit dem Motorrad.“
„Und der ist wirklich nie zu den Mädchen gegangen?“
„Ich glaube nicht.“
Die Gerüche und Geräusche aus der Küche deuten an, dass es bald los gehen wird. Ich stehe auf, will mich nützlich machen, drehe mich noch einmal um.
„Wie lange ist das jetzt her mit euren Reisen?“
„Lass mich überlegen.“ Gregor fischt die kleine ertrunkene Fliege aus seinem Wein und betrachtet sie so, als studiere er sie.
Ich stehe und warte.
„Sehr lange“, antwortet er endlich und schnippst die Fliege von seinem Finger.
Erik kommt ins Zimmer, er hat noch ein bisschen auf der Terrasse gesessen und den klaren Sternenhimmel betrachtet. Ich lege mein Buch zur Seite und schaue zu ihm hoch.
„Ist das wahr, dass du an Land nie zu den Mädchen gegangen bist?“
„Ach, der Shipper. War er schon wieder bei den alten Zeiten?“
„Wie war das nun mit den Mädchen?“
„Was denkst du?“
„Ich denke, dass es stimmt, was Gregor sagt.“
„Ja?“
„Ja, zuerst bist du mit dem Motorrad über Land gefahren. … Zuerst.“
Ich ziehe ihn zu mir aufs Bett und kuschle mich an ihn.
Wir sind auf der kleinen Nachbarinsel. Ein schmaler Weg führt am Ufer entlang. Zur Landseite stehen an ihm kleine bunte Fischerhäuser mit blühenden Vorgärten.
Gregor trottet hinter uns her. Er atmet schwer, Schweiß perlt auf seiner Stirn. Seine Strickjacke scheint mir für diesen warmen Sommertag zu dick zu sein. Nach ein paar Schritten setzt er sich auf eine Bank in der Nähe des Weges. Er nimmt sein Taschentuch und wischt über sein Gesicht.
Antje geht hinüber, setzt sich zu ihm und versucht, seine Jacke aufzuknöpfen, Gregor wehrt sich mit einer heftigen Bewegung. Er bleibt sitzen und Antje kommt alleine zu uns.
„Was ist mit ihm?“, fragt Erik.
„Ja, das ist wohl wieder einer von seinen komischen Tagen. Beachtet ihn besser gar nicht, der wird schon kommen.“ Mit einem deutlichen Ruck hängt sich Antje ihre Tasche über die Schulter. Alles an ihr ist Frust und Zorn. „Kommt, lasst uns weitergehen. Hier können wir ihn ja nicht verlieren.“ Entschlossen geht sie voraus.
Erik zögert, ihm gefällt die Situation nicht. Uns immer wieder umschauend, folgen wir Antje. Irgendwann macht der Weg eine Biegung und wir können Gregor nicht mehr sehen. Meinem Mann reicht es. Er geht etwas schneller.
„Antje, bitte warte mal. Das geht so nicht. Wir müssen uns um ihn kümmern. Irgendwie ist das so nichts. Soll ich mal zurückgehen und nachschauen?“
„Nein, lass nur. Bitte, wartet hier im Café. Ich seh mal nach.“ Im Weggehen höre ich sie murmeln: „Was ist denn jetzt schon wieder.“
Sie kommen. Ich sehe die verwischten schwarzen Spuren unter Antjes Augen. Gregor trägt immer noch seine warme Jacke. Er hat sie wohl aus- und wieder angezogen und dabei ein Knopfloch übersehen. In dieser schief sitzenden Jacke wirkt er so jämmerlich, dass ich ihn am liebsten in die Arme nehmen möchte.
Matt und unbeholfen setzt er sich zu uns an den Tisch.
„He, Old Sailor, was ist los mit dir?”
„Ach, lass mich. War nicht nett von euch, mich einfach sitzen zu lassen.“
„Das tut mir leid“, versuche ich zu beschwichtigen. „Wir haben gedacht, du ruhst dich nur ein wenig aus. Es gibt ja nur diesen einen Weg. … Aber schön, dass wir wieder zusammen sind. Möchtest du auch ein Bier?“
„Meinetwegen.“
Erik winkt dem Kellner und Gregor bekommt sein Bier.
„Komm, Alter, stoß an. Lass uns die schönen Tage genießen.“
Gregor hebt sein Glas, Antjes Kopf bleibt gesenkt.
„Sollten wir noch mal zum Skulpturenpark?“, frage ich in die Runde und hoffe, dass sich nur Erik angesprochen fühlt.
Antje schaut auf. „Geht nur, wir bleiben noch ein bisschen. Wir sehen euch ja.“
Als wir zurückkommen, sprechen die beiden ruhig und freundlich miteinander. Meli hat angerufen. Zu Hause sei alles in Ordnung.
Gregor und Antje lächeln sich an, haben ihre Hände ineinander gelegt.
Auf dem Weg zurück zum Bootssteg bewundern wir die ausladenden Hibiskusbüsche, die den Weg säumen. So üppig blühen sie nur auf dieser Insel, habe ich im Reiseführer gelesen.
Die beiden gehen vor uns. Immer noch halten sie sich an den Händen.
„Antje, wann fliegen wir zurück?“, höre ich Gregor fragen.
„Am Montag, mein Schatz.“
„Ach ja.“
Eriks Hand auf meiner Schulter zuckt.
Wir sind allein runter zum Hafen gegangen, wollen noch ein bisschen die abendliche Atmosphäre genießen und setzen uns auf eine Steinbank. Am Kai legt eine Jacht an und wir sehen der Mannschaft zu, wie sie das Schiff vertäut.
Erik betrachtet die Männer, schaut durch sie hindurch.
„Ich frage mich, was mit ihm los ist? Jetzt hat er Antje schon zum zweiten Mal gefragt, an welchem Tag ihr Flieger geht.“
„Es kommt mir so vor, als wäre er vergesslicher geworden. Vielleicht ist ihm hier auch alles zuviel und er möchte nach Hause.“
Nacheinander verlassen die Männer ihr Schiff.
Mir kommt ein Gedanke: „Sag mal Erik, kann es sein, dass sein Gehirn nicht immer gut durchblutet ist? Hin und wieder ist er ganz der Alte, im nächsten Moment kommt dann wieder irgendein Klops.“
„Durchblutungsstörungen? Ich weiß nicht?“ Er überlegt. „Schon möglich. Hoffentlich nur das. Was sagt Antje?“
„Das weißt du ja. Sie ist manchmal richtig wütend auf ihn.“
Mein Mann sieht den Männern nach, die jetzt in das Fischlokal am Ende des Piers gehen. Am Horizont verschwindet die Sonne eilig im Meer.
„War Gregor schon mal beim Arzt?“
„Ich glaube nicht. Er ist ja auch nicht krank. Antje meint, dass er einfach nur denkfaul und bequem geworden ist.“
„Denkfaul und bequem?“ Erik wiederholt meine Worte so, als würde er sie in seinem Kopf hin und her wenden.
„Ich wünschte, es wäre so.“
„Was können wir tun? … Können wir überhaupt etwas tun?“
Mein Mann lässt sich Zeit. Sein Mund bewegt sich, als kaue er an der Antwort.
„Ich glaube, ich spreche mal mit Antje. Irgendetwas stimmt ganz gewaltig nicht mit ihm.“
„Ich glaube nicht, dass Antje das auch so sieht. Sie ist voll mit dem neuen Haus beschäftigt. Gregors Verhalten hält sie für Altersstarrsinn und Vergesslichkeit.“
Im Lokal neben uns zündet ein Kellner die Kerzen auf den Tischen an. Mit einer einladenden Geste zeigt er auf die noch leeren Tische. Erik hängt seinen Gedanken nach und nimmt die freundliche Aufforderung nicht wahr.
„Wegschauen hilft nichts. Das muss sie begreifen. Ich fürchte, Gregor ist auf einem traurigen Weg. Antje muss etwas unternehmen. Ich kann ihm nur helfen, indem ich sie dazu bringe, sich der Realität zu stellen. Er muss sich untersuchen lassen.“ Eriks Stimme wird leiser, spröder: „Mir schnürt es die Kehle zu, wenn ich sehe, wie er sich verändert hat. Wo ist der Mensch, mit dem ich rumgeblödelt habe, mit dem ich über alles reden konnte? Nichts, nichts mehr.“
Hinter dem Horizont sind nur noch die orangeroten Bänder der Dämmerung zu sehen und eine ungewohnt frische Brise weht vom Meer in die kleine Bucht. Mich fröstelt und ich ziehe meine Jacke fester um mich.
Erik steht auf. „Komm, lass uns zurückgehen.“
Es gibt keine guten Einstiege ins Wasser – nur Eisenleitern. Antje fehlt der Boden unter den Füßen und sie bleibt nicht lange. Gregor ist in seinem Element. Er schwimmt zu den Bojen am Ausgang der Bucht.
Ich bemerke, dass Erik, die alte Wasserratte, nach kurzer Zeit zurück ans Ufer schwimmt und sich zu Antje unter den Sonnenschirm setzt.
Zum Ufer hin bilden die Felsen kleine Naturbecken. Das Wasser in ihnen ist warm, fast ein wenig klebrig. Ich setze mich und strecke meine Beine aus. Leichte Wellen schwappen über den Rand. Ich lausche ihrem Klatschen und suche mit den Augen Gregor, dessen Kopf auf dem glitzernden Grau der Wellen wie ein auf- und abtauchender schwarzer Ball aussieht.
Mein Blick wandert zu den beiden unterm Sonnenschirm.
Sie schauen aufs Meer und unterhalten sich. Plötzlich sieht Antje Erik an. Ihre Miene wird ernster, ihr Oberkörper strafft sich. Mit gespreizten Fingern streckt sie ihre Hände nach vorne, so als müsse sie eine Gefahr abwehren. Sie schüttelt den Kopf, greift nach hinten, findet ihre Badekappe, möchte aufstehen. Erik zieht sie behutsam zurück, legt seine Hände auf ihre Schultern, wartet einen Moment und spricht dann weiter. Ihre Schultern erschlaffen und sie hört ihm mit gesenktem Kopf zu. Ich kenne Eriks Gestik, wenn er sich bemüht, etwas zu erklären. Sein Gesicht ist ernst. Er zwingt sich, ruhig und konzentriert das zu sagen, was er sich vorgenommen hat.
Langsam drehe ich meinen Kopf und schaue über die Bucht zu den Bojen. Die Wasseroberfläche ist grau – und leer. Kein schwarzer Ball, kein Kopf. Panik ergreift mich. Ich stehe auf und rutsche auf dem glitschigen Felsen aus. Erik schaut zu mir.
„Was ist los?“, ruft er.
Mich vorsichtig abstützend, stehe ich auf. Ich zeige auf den Ausgang der Bucht.
„Ich kann Gregor nicht mehr sehen. Vorhin habe ich ihn noch gesehen. Jetzt ist er nicht mehr da. Er ist weg. Einfach weg.“
Antje schnellt von ihrem Platz unter dem Sonnenschirm hoch und auch Erik erhebt sich. Wir blicken suchend aufs Meer. Nichts.
Mein Mann steigt auf einen kleinen Felsvorsprung, von dem aus er die Bucht besser überblicken kann. Sein Gesicht ist verschlossen.
„Mein Gott, wir hätten ihn nicht allein hinausschwimmen lassen dürfen.“ Antje ist völlig aufgelöst. Sie läuft zu Erik. „Kannst du ihn sehen?“ Er antwortet nicht, sucht mit seinen Augen angespannt das Wasser und die Felsen ab.
„Sorry“, höre ich eine Stimme hinter uns. Auf dem Uferweg steht ein Mann. Er hat seine Hand auf Gregors Schulter gelegt: „Do you know this man? I suppose he is looking for you.“
Antje ist schon bei ihnen und schließt ihren Mann in die Arme. Gregor schaut verwirrt über ihre Schulter, so als suche er nach einer Erklärung für das, was ihm gerade passiert ist.
„Er muss die Eisenleitern verwechselt haben und an einer anderen Stelle aus dem Meer geklettert sein“, flüstere ich meinem Mann zu.
Unsere Tage vergehen schnell.
Wieder sind wir vor der Halle des kleinen Flugplatzes.
Erik steht vor Gregor, sieht ihn an, schluckt. Antje und ich stehen neben ihnen. Die Zeit dehnt sich.
„Machs gut, Old Sailor. Pass schön auf dich auf.“
„Mach ich.“
Erik nimmt seinen alten Freund in die Arme und drückt ihn lange.
„Wir sehen uns im nächsten Jahr.“
„Ja, im nächsten Jahr“, wiederholt Gregor und wendet sich den Koffern zu.
Ich umarme Antje. „Seid so nett, und meldet euch, wenn ihr gelandet seid.“
Auch sie drückt mich fest.
„Habt eine gute Heimfahrt. Es war wieder schön.“ Ihr versagt die Stimme.
Sie schaut mich an, als wolle sie noch etwas sagen, lässt es, nimmt ihren Koffer und geht zur Tür. Ein letztes Mal dreht sie sich um und winkt. Gregor, der auf sie gewartet hat, nimmt seinen Koffer und folgt ihr. Die automatische Tür schließt sich hinter ihnen.
Wir steigen ein und fahren auf die kleine, von Steinmauern gesäumte Straße, die uns zur Hauptstraße bringt. Erik fährt langsam und öffnet die Fenster. Mit einer Melange aus Rosmarin, Lavendel und wildem Salbei verabschiedet sich die Insel von uns.
Es gibt eine kleine Ausbuchtung.
Erik bremst, lässt den Motor laufen. Überrascht sehe ich ihn an. Er legt seine Arme aufs Steuer und blickt nach vorn. Seine Mundwinkel und sein Kinn beginnen zu zucken.
Zum ersten Mal in all den langen Jahren sehe ich meinen Mann weinen.